Gotelind Müller: China, Kropotkin und der Anarchismus China, Kropotkin und der Anarchismus

Sachliteratur
Beim Herumsuchen stiess ich überraschenderweise auf diese Studie von Gotelind Müller, die Professorin für Sineologie an der Uni in Heidelberg ist.


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Es handelt sich um eine beachtenswert detaillierte Betrachtung der Rezeptionsgeschichte von Kropotkins Werken in China. Dazu wird behandelt, was Anarchismus überhaupt ist, wie sich die historische anarchistische Bewegung in China entwickelt hat und welches Verhältnis diese zur KPCh hatte, bzw. ihr zugewiesen wurde.
Müller zeigt kenntnisreich auf, dass es Anfang bis Mitte des 20. Jh. eine real existierende anarchistische Bewegung in China gab. Diese Geschichte ist umso wichtiger, insofern der Anarchismus von staatskommunistischer Seite her, totgeschwiegen oder zur Abgrenzung als „kleinbürgerliches“ oder „ultra-linkes“ Zerrbild karikiert wurde. Anhand der Studie von Müller wird deutlich, wie wichtig eine umfangreiche Betrachtung des Anarchismus ist, um diesen zu legitimieren. Wer geschichtswissenschaftlich arbeitet, kann sich von der Machart des Werkes inspirieren lassen. Es folgen vier Textpassagen aus dem Vorwort, um einen Eindruck wieder zu geben:
„China und der Anarchismus“ mag für viele ein Themenbereich sein, mit dem es sich kaum zu beschäftigen lohnt. Weder ist China heute „anarchistisch“, noch zählt die chinesische zu den herausragendsten anarchistischen Bewegungen der Welt. Vielmehr erscheint der Anarchismus in China – wie anderswo – als historische Episode. Das Anliegen dieser Arbeit ist nicht, so sei gleich zu Anfang betont, die Rolle des Anarchismus in der chinesischen Geschichte künstlich aufzublähen oder gar eine völlige Revision bestehender Geschichtsbilder zu fordern, um irgendwelche neue „Anti-Helden“ zu inthronisieren. Vielmehr ist sie ein Versuch, in erster Linie historischen Realitäten gerecht zu werden, in zweiter Linie die chinesische Suche nach einer modernen Identität in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts aus einer anderen Perspektive als der üblichen zu verfolgen. Häufig richtet sich die Geschichtsschreibung, ob bewusst oder nicht, nach dem im Grunde alten Prinzip. dass nur „Erfolg“ Interesse verdient, und siebt entsprechend die Geschichte durch. Dies entspricht einem teleologischen Geschichtsbild, das die Pluralität der historischen Wirklichkeit auf einige vom Jetzt-Standpwlkt aus gesehen als „bedeutend'· definierte Faktoren verkürzt. […]
Allerdings ist zu beobachten, dass sich stets dann ein Interesse an historischen Alternativen bemerkbar macht, wenn das aktuelle System an Glaubwürdigkeitsverlust leidet. Während im Westen ein neues Interesse am Anarchismus, das sich u.a. in vermehrter Publikationstätigkeit manifestierte, im Zuge der 68er-Bewegung aufkeimte, wurde der chinesische Anarchismus nach der Kulturrevolution „wiederentdeckt“. Besonders die 1980er Jahre waren daher entscheidend in dem Bemühen, sich von der zuvor recht einseitigen Sicht auf Chinas neuere Geschichte zu lösen – in China wie ausserhalb – , wobei jedoch häufig politische Motivationen dahinterstanden. Aus historischen Alternativen sollte ein Korrektiv für die Zukunft abgeleitet werden, im Negativen wie im Positiven, also z.B. eine Wiederholung der in China gelegentlich als „anarchistisch“ bezeichneten Kulturrevolution verhindert werden, oder der Anarchismus sollte dazu verhelfen, im Marxismus seine „vergessenen libertären Elemente“ neuzubeleben.“ (S. 1)
„Mein Anliegen hier ist nüchterner und bescheidener. Es geht mir weder um Verdammung noch Rehabilitierung der Anarchisten und auch nicht um eine „Ehrenrettung·' des in seiner real existierenden Form diskreditierten Sozialismus durch einen ,,besseren“ Sozialismus für die Zukunft, sondern erst einmal um die sachliche Wahrnehmung des historischen Phänomens. Ausgangspunkt der Arbeit war die Beobachtung der zeitweise grossen Popularität, die Petr Alekseevic Kropotkin, ein bei uns heute kaum mehr bekannter und gelesener Autor, doch vor 100 Jahren auch im Westen der bedeutendste anarchistische Theoretiker. in China (und Japan) im frühen 20 . Jahrhundert hatte. Aus der Sicht der damaligen Zeit war dies somit kein „marginales“ Thema, wie ohnehin die Beurteilung von „Marginalität“ durchaus relativ ist. Die häufige Erwähnung Kropotkins in chinesischen und japanischen Texten dieser Ze it führte fo lglich zu der Frage. weshalb Kropotkin bzw. der westliche Anarchismus rezipiert wurde, von wem, wann und wie, und unter welchen Bedingungen dies geschah.“ (S. 2)
„Der Rolle des Anarchismus in China sind schon mehrere Studien gewidmet worden. Lange Zeit war es üblich, ihn nur als den Verlierer im Duell mit dem Marxismus abzutun. Insbesondere die heutige VR China bemüht sich weiterhin, in diesem Sinne die neuere Geschichte zu schreiben, wobei bewusst die Tatsachen verdreht werden, um die „von Anfang an siegreiche KP“ zu präsentieren. Dass dies aber Geschichtsfiktion ist, erweist sich rasch beim Studium der Quellen. Selbst Mao hatte eine – wenn auch kurze – „anarchistische Phase“ und es dauerte selbst in der Arbeiterbewegung. die von der KP natürlich als ureigenst vereinnahmt wird, bis der Konkurrent Anarchismus aus ihr vertrieben war.“ (S. 3)
Gotelind Müller: China, Kropotkin und der Anarchismus. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2023. 784 Seiten. ca. SFr. 12.00. ISBN: 978-3-948791-61-2.