Georges Riat: Katalog - Gustave Courbet Realismus - Ausweitung des Blickfelds

Sachliteratur

Das Reale, welches Gustave Courbet aus dem Dunkel der Nichtbeachtung hervorzieht, entzieht sich jeder vorwegnehmenden Beurteilung - und allen Herrschaftsrücksichten.

Die Steinklopfer.
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Die Steinklopfer. Foto: Gustave Courbet (PD)

30. Juli 2019
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Einen ungeheuren Vorteil bietet der Besuch der Ausstellung, dem der hier rezensierte Katalog dient. Man versteht gleich in der Eingangshalle einen Streitpunkt um den Realismus des Malers: den um die Grösse seiner Bilder in Proportion zum gewählten Gegenstand. Dass nämlich Courbet zwei armseligen Steinklopfern oder einer dörflichen Begräbnisgemeinde so viel Platz einräumte, wie er sonst nur etwa einem Feldherrn mit Gefolge zustand, das empörte ganze Kritikergarden zutiefst. Für uns, die wir Bildwerke im Normalfall nur über Abbildungen kennen lernen, ist diese Wut fast unverständlich. Damals beleidigte Courbet mit seinen Ausmassen nicht nur die nichtberücksichtigten Fürsten selbst, sondern vor allem die Klasse der auf Mass und Ordnung setzenden Bürger, die nebenbei als Kunstrichter auftraten.

Die Steinklopfer

Das Bild, welches beim ersten Auftauchen nicht einmal so viel Erregung erzeugte wie das Begräbnis in Ornans, wurde doch zeitlebens - im Guten wie im Bösen - als kennzeichnend für den Willen des Realisten angesehen. Wie Statuen hintereinander gereiht, ohne jeden Sprach- oder Blickkontakt, sind ein alter Steinklopfer, kniend, und ein jüngerer hintereinander aufgereiht. Der Junge versucht, auf dem hochgezogenen Oberschenkel, mit letzter Kraft seine Steine zusammenzuhalten. Die Gesichter beider sind unkenntlich, ganz im Gegensatz zur Karikatur, in welcher uns beide leere Kasperfressen entgegen drehen.

Zu Unrecht haben manche Verteidiger Courbets den Angreifern entgegengehalten, dass verschiedene Niederländer genau so grosse Formate verwendet hätten. Das mag schon sein. Nur ist gerade bei den Niederländern der Blick des Betrachters schon vorgelenkt: Er verfolgt beim eigenen frohen Mahl an der Wand das ungenierte Treiben der Unteren. Mit Schmunzelmund, vielleicht auch mit Neid. Einem solchen, der sich im nächsten Augenblick zur Ordnung reisst: Solche vergnügten Schweine Epikurs sind wir denn doch nicht. Sondern - „soignés" - gesetzt. Zu solcher Herablassung fordert Courbets Bild in nichts heraus. Gerade dass es kein Bettelbild um Erbarmen war, erregte viele Kritiker. Sie berührten damit eine wichtige Stelle. Umgekehrt enthielt das Bild auch nichts von Empörung. Wenn es Aussage - im Sinn der Anrede an die Betrachter - überhaupt enthielt, dann eine einer grausamen vorweggenommenen Ewigkeit. So ist unsere Arbeit - sie geht immer weiter. Nie hört sie auf.

Eine Anekdote aus Ornans, dem Heimatort des Malers behauptet, die kleinen Bauern, die die dargestellten Arbeiter kannten, hätten gewünscht, das Bild über dem Hochaltar in der Kirche anzubringen. Wie das? Beim Fehlen jeden Appells zum Handeln? Den verlangten die Bauern gar nicht. Worum es ihnen ging, was das Elementarste in allem Produzieren. Wie auch Courbet es verstand. Ganz einfach - nach seinen geringen Lateinkenntnissen: pro-ducere. Zu übersetzen als: hervor-schieben. Das, was alle kennen, wie aus einer dunklen Ecke des Kleiderschranks, hervorzerren, herausreissen, sichtbar machen vor aller Augen. Das Gezeigte fügt sich jetzt mit vollem Recht in den Raum des Wahrzunehmenden. Klagt ihn jetzt aber auch ein.

Courbet über sich selbst als Realist

Courbet war keiner, der mit geschliffenen Formulierungen brillierte. Er hing trotz allem vom Urteil der anderen ab. So ist seinen Aussagen über sich selbst nicht immer zu trauen. Immerhin, in einer seiner letzten Äusserungen aus dem Exil, nach den Verfolgungen wegen des Umsturzes der Vendômesäule schreibt er:

„Mein Grossvater war ein Sansculotte. 1848 zählte er dreiundachtzig Jahre. Da er ohne mich nicht essen konnte, sagte ich ihm eines Tages bei Tisch: ‚Grossvater, wir haben eine Republik.' ‚Eine Republik', antwortete er. ‚Ich wette, ihr werdet sie nicht lange behalten. Und im übrigen werdet ihr nie so viel schaffen wie wir.' Diese Worte verletzten mich sehr; denn welchen Sinn hat das Leben, wenn die Kinder nicht mehr schaffen als ihre Väter? (…) und so habe ich mich zwanzig Jahre mit der Frage gequält, wie ich es anstellen könnte, mehr zu schaffen als mein Grossvater." (Brief um 1872, Adressat unbekannt, zit. n. Herding 1978, S. 36)

Unerwartet fügt sich hier das Artistische zum Politischen. Als Maler bemühte sich Courbet Reales so darzustellen, dass alle vorgefassten Sichtweisen vom Gegenstand abgewischt wurden, heruntergekratzt, abgestossen. Es tritt - ob Mensch, ob Ding - herausfordernd als etwas ins Gesichtsfeld, das auf weitere Bearbeitung wartet. Eine die nicht mehr durch Reden bewerkstelligt werden kann, sondern durch eingreifendes Handeln in der jeweiligen materiellen Gegenwart. So hat Courbets Jugendfreund Max Buchon im Begräbnis in Ornans genau in dem aufrecht knieenden Totengräber, der als einziger die Betrachtet anblickt, den künftigen Rächer der niedergedrückten Steinklopfer erblickt. Nicht in der Kunst, ganz ohne Symbolik im wirklichen Leben der künftigen Revolution für die beide sich gerüstet sahen. Es sollen auch manche nach den Barrikadenkämpfen von 1830 und 1848 im sensibilisierten Paris in den Pflastersteinen etwas erblickt haben, das nicht nur gesetzt, sondern auch geworfen werden kann. Schliesslich noch einmal zum Schutzwall Aufständischer getürmt.

Courbet und Proudhon

Courbet hat lange mit dem revolutionär eingestellten Pierre Joseph Proudhon zusammengearbeitet, von ihm ein handfestes Grossbild im Kreis der Familie hergestellt. Proudhon umgekehrt hatte auf seine alten Tage den Sinn für die Malerei in sich vorgefunden - und vor allem Courbet als Beispiel für seine Interpretationen herangezogen. Nicht zum Glück beider! Denn Proudhon hatte sich recht bescheiden an die gute alte Maxime gehalten, dass alle Kunst „prodesse" (nützen) und „delectare" (erfreuen) müsse. Daraus allerdings sehr lehrerhaft seine Schlüsse gezogen. Es gibt etwa ein frühes Grossgemälde Courbets, die Badenden, in welchem eine Frau mit üppigem Gesäss zum Fluss unter Bäumen schreitet, immerhin ein Badehandtuch halb umgeschlungen. Ich und wahrscheinlich viele Zeitgenossen führten das einfach auf die betreffenden erotischen Phantasien des Künstlers zurück. Proudhon dagegen geisselt seiner Meinung nach mit dem Künstler in dieser Darstellung das faule und gefrässige Wohlleben müssiger Damen der Bourgeoisie, die eben sonst nichts zu tun haben.

Courbet hat die philosophische Betrachtung schweigend hingenommen, zumindest ihr nicht widersprochen. Auf diese Weise konnte die Bourgeoise seine Werke ohne weiteres wieder in ihr System von Sittlichkeit und Wohlgefallen eingruppieren - und unterliess in den Zeiten des Erfolges ihre Angriffe.

All die meist in Halbschlaf versunkenen liegenden Frauengestalten, nackt oder bekleidet, sind einfach bloss da. Sie liegen träumend im Selbstgenuss. Auch ihnen gesteht Courbet selbstgenügsames Dasein zu, zufrieden im Ausharren, ohne den Fanatismus der Arbeit, nach welchem Proudhon moralisierend unentwegt sucht. Courbets revolutionärer Sinn zielte nicht in erster Linie auf das Zerstören, sondern auf das Hinzufügen. Er verlangte nur wenig: Aufmerksamkeit. Nur dass eine solche Aufforderung in Zeiten heftigen Klassenkampfes sehr viel bedeutet: Verzicht aufs Wegschauen nämlich.

Und die Politik?

Ausdrücklich hat Courbet sich selten vor 1870 zu politischen Äusserungen verstanden. In der Krise des Frühjahrs 1870, kurz vor Kriegsausbruch, lehnte er die Verleihung der Ehrenlegion ab, angeblich, weil solche Ehrungen nur dem Soldaten im Felde zustehen, eigentlich - wie anzunehmen - weil er dem Staat schlichtweg das Recht absprach, über Ehrenpreis und Orden Noten zu erteilen. Der ewige Streit um die Teilnahme an den staatlich organisierten „Salons" ging natürlich auch um verletzte Eigenliebe. Mehr noch aber immer um das Gleiche: Wieso sollen gerade diese Werke zugelassen, jene ausgeschieden werden durch den Machtspruch von Leuten, die doch in der Regel keine Ahnung haben? Deshalb die Erfindung der Sonderausstellung der zurückgewiesenen Werke - den seinen und denen anderer. In der Zeit der Commune war dies einer seiner weitestgreifenden Gesetzesvorschläge: Verwerfung sämtlicher Preis-Komitees. Alle sollen mitmachen dürfen.

Trotzdem wurde dies Massvolle völlig vergessen nach der Zeit der Commune. Hatte doch Courbet dem Sturz des Denkmals für Napoleon I und III zugestimmt: der Vendôme-Säule.

Aus juristischen Gründen gab es nachher viele weithergeholte Rechtfertigungen, auch den Verweis auf die Mehrheit der Commune, die schliesslich zugestimmt hatte. Courbet hatte keine Lust, vor einem Militärgericht traurigster Voreingenommenheit ins Messer zu laufen. Mit vollem Recht! Dass er den Sturz aber gewollt hat, rühmt sein Andenken. Da ist nichts abzubitten. Noch in der Zeit der Commune äusserte er sich folgendermassen: „er wollte, dass man aus einer Strasse, genannt des Friedens, einen Block geschmolzener Kanonen entferne, welcher die Tradition der Eroberungen verewige" (S. 202). Der Katalogtext selbst redet gequält um den Tatbestand herum, schildert, wie oft die Säule seit dem Abgang Napoleons schon verändert worden war, als ginge es darum, Courbet noch heute in einem Disziplinarverfahren zu verteidigen.

Klar ist: Er wollte, wie viele andere Communarden auch, dass ein Zeichen gesetzt werde, indem eines weggehoben würde. Es sollte durchaus eine neue Zeit beginnen. Und in allen Revolutionen stand man vor der Beängstigung: Soll nun alles verschwinden, mit dem wir als Kinder aufwuchsen und das in all seiner Prunksucht und seinem gellenden Herrscherlob uns doch lieb und gewohnt war. Oder müssen wir es erhalten, und über den gewohnten Anblick die schmutzige Jauche der Jahrhunderte in uns tröpfeln lassen?

Die Antwort kann vielleicht in einem Bau der genau gleichen Zeit gefunden werden. Nach der Niederwerfung der „gottlosen“ Commune erbauten fromme Katholiken zum Zeichen der Einkehr und Busse oben auf dem Montmartre die Kirche Sacré-Coeur. Wie strahlt sie in die Gassen noch heute hinab, scheinbar unbesiegbare Geste des Triumphes an dem Ort, wo im Mai 1871 noch bis zuletzt gekämpft worden war. Treten wir aber in die Kirche ein, sehen wir, zu welchem Stil die angeblichen Sieger greifen mussten, um ihre Herrschaft noch zu halten. Dem Byzantinischen. Auf Französisch „bas empire" - niedergehende Kaiserzeit. Alles vergoldet, verkrustet, in Höhlen verzogen. Ein Zeichen des Sieges? Doch mehr eines der Verzagtheit, die am Niedergang früherer Herrschaft sich festhält. Als 1917 auch die letzten Veteranen des Kampfes der Commune in Leningrad und Moskau eintrafen, da enthüllte sich der Niedergang derjenigen, die sich vor Gott als Sieger ausstellen hatten wollen.

Im einzigen Grossbild aus der Zeit seiner Gefangenschaft tritt der Abgebildete ein in die Ruhe all der von ihm einst ins Licht gehobenen Gestalten. Er, der ewige Vorkämpfer, nun müde hingebogen, aber auch ruhig. Ruhig in Erwartung des Weitergangs der Geschichte. Und der Eröffnung des Gerichts, das sie halten wird. Im Hinblick auf die unbewussten Zeichen der späteren Niederlage der Sieger erübrigen sich nämlich dann, aber nur dann, die brutalen Signale der Absage an alles Vergangene. Dann wird der Blick eines Peter Weiss sich durchsetzen, der auch in Pyramiden und Triumphbögen den immerwährenden Kampf zu erblicken wusste zwischen denen, die als Architekten und Baumeister die Lüste der Herrscher sichtbar machten, andauernd aber trotz allem beeinflusst vom bitteren Widerwillen der bauenden Fronknechte, ihrem Widerstand, ihrem Hass. Ohne die es nur leider nichts zu bauen gab. Diesen sichtbar zu machen wird die künftige Aufgabe sein - wie es die der „Steinklopfer“ Courbets sein wird und war.

Fritz Güde
kritisch-lesen.de

Georges Riat: Katalog: Gustave Courbet. Übersetzt von Caroline Eydam. Parkstone International / Kroemer 2008. 255 Seiten, ca. 27.00 SFr. ISBN 978-1844845026

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