Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung Mit Marx gegen Selbstoptimierung

Sachliteratur

Klasse muss als struktureller Erklärungsansatz verstanden werden, nicht als Teil der persönlichen Identität. Was es braucht ist Widerstand und politische Veränderung – keine persönliche Weiterentwicklung.

Black Lives Matter Mural in Greenpoint, Brooklyn.
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Black Lives Matter Mural in Greenpoint, Brooklyn. Foto: Rhododendrites (CC-BY-SA 4.0 cropped)

29. Mai 2023
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Spätestens seit der Ermordung George Floyds durch einen Polizisten im Mai 2020 haben die Themen Polizeigewalt und Rassismus Einzug in den breiten gesellschaftlichen Diskurs gehalten. Dabei verlagerten sich die Diskussionen schnell hin zu einer Aufforderung, antirassistische Massnahmen zu ergreifen, die mit der Reflexion eigener Privilegien verbunden sind. Probleme wie Rassismus, so kritisieren nun Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo, die Herausgeberinnen des Sammelbandes „Die Diversität der Ausbeutung – zur Kritik des herrschenden Antirassismus“, scheint man in einer Zeit des vermeintlich „alternativlosen Kapitalismus“ (S. 9) durch individuelle Massnahmen wie korrektes Verhalten und Sprechen lösen zu können.

Um der moralisierenden Selbstoptimierungsliteratur – wie beispielsweise bei Werken wie „Exit racism“, „Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ oder „Sprache und Sein“ – die auf diesem Denken aufbaut und sich inzwischen zum Kassenschlager gemausert hat, etwas entgegenzusetzen, trägt der vorliegende Band neun Beiträge zusammen, die sich aus einer historisch-materialistischen, marxistischen Perspektive mit Ausbeutung, rassistischen und sexistischen Strukturen und allen voran Klassenverhältnissen auseinandersetzen.

Marxistische Gesellschaftsanalyse statt antirassistischer Selbstreflektion

Zum Einstieg fragen die Herausgeberinnen, warum eine marxistische Analyse von Rassismus und anderen Diskriminierungsstrukturen überhaupt notwendig ist. Zentral sei ein historischer Blickwinkel, der deutlich mache, dass „[g]esellschaftliche Phänomene und ihr Funktionieren […] nur aus den spezifischen historischen Bedingungen ihres Entstehens“ (S. 18) heraus erklärt werden können. Kapitalismus ist kein alternativloses System: Soziale Verhältnisse sind immer veränderbar. Diese These stellt sich gegen die populären Vorstellungen zur Bekämpfung von Rassismus, die immer mit individualistischen Forderungen nach Selbstreflektion und Änderung der eigenen Anteile an Diskriminierung oder auch Einführung von Antidiskriminierungsabkommen bei Arbeitgeber*innen verknüpft sind. Der vorliegende Band setzt sich dieser verkürzten Vorstellung von Rassismus entgegen und zeigt auf, dass Diskriminierungsstrukturen immer im gesellschaftlichen System begründet sind – und nicht im Verhalten Einzelner bekämpft werden können. Marxistische Analyse statt Selbstoptimierungspolitik ist hier also die Devise.

Gleiches gilt für den Beitrag von Sarbo „Rassismus und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse“, in dem sie eindrücklich darstellt, wie Rassismus und Klassenzugehörigkeit zusammenhängen und wie sich dieser Zusammenhang auf dem Arbeitsmarkt widerspiegelt. „Vor allem in Deutschland wird ein ethnisch segregierter Arbeitsmarkt als Ergebnis des Rassismus […] begriffen und damit vor allem zum Gegenstand von Antidiskriminierungspolitik.“ (S. 37) Sarbo kritisiert einen Rassismusbegriff, „der Rassismus in erster Linie auf Bewusstseinsprobleme reduziert“ (ebd.) und somit als Lösungsstrategie auch nur die Dekonstruktion des Bewusstseins anbieten kann.

Um den Zusammenhang zwischen Rassismus, Klassenverhältnissen und Arbeit deutlich zu machen, zeigt Sarbo auf, wie der „Kolonialismus als ‚ursprüngliche Akkumulation'“ (S. 39) den Rassismus in seiner spezifischen, kapitalistischen Weise hervorgebracht hat und welche Funktion eine „koloniale Überausbeutung der Arbeitskraft“ (S. 41) bis heute hat. Der Begriff der Überausbeutung wird in antidiskriminierenden Praxen oft mit dem der Ausbeutung gleichgesetzt. Ausgebeutet sind Arbeiter*innen im kapitalistischen System alle – auf dieser Ausbeutung beruht erst das Funktionieren dieses Systems. Überausbeutung, so macht Sarbo an der Versklavung in den Kolonien „zu Beginn der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise“ (S. 42) deutlich, zeichnet sich beispielsweise durch Gewaltverhältnisse, überdurchschnittliche lange Arbeitszeiten und niedrigen Lebensstandard aus, der auch die Kämpfe für bessere Arbeitsverhältnisse im Vergleich zur „‚freien' Lohnarbeit“ erschwert. „Überausbeutung bezeichnet hier keinen Ausnahmezustand, sondern ein Verhältnis, das einen Grundpfeiler der kapitalistischen Akkumulation darstellt. Ausbeutung ist der allgemeine Modus aller Klassengesellschaften.“ (S. 43)

In einem weiteren Beitrag mit dem Titel Intersektionalität, Identität und Marxismus formulieren Mendívil und Sarbo eine konkrete Kritik an dem oft vorgetragenen Paradigma der Intersektionalität. Intersektionalität in einer individualisierenden Perspektive setzt immer bei Erfahrungen einzelner Menschen an, macht Unterdrückung zum Problem Einzelner und begreift Klasse lediglich als weitere Identitätsform – wodurch „der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit […] verschleiert [bleibt].“ (S. 106) Am Beispiel der Klassenverhältnisse wird auch die Verkürzung gesellschaftlicher Verhältnisse innerhalb des Intersektionalitätsparadigmas deutlich. „Klasse wird weniger als Ausbeutungsverhältnis, denn als Identität gefasst, die sich durch Erfahrungen konstituiert.“ (S. 110)

Es braucht einen analytischen, tiefgreifenden Blick auf Ethnizität, Klasse und Geschlecht, die sich nicht auf Identitätsfragen und persönliche Erfahrungen reduzieren lassen. „Die Intersektionalitätstheorie stellt sich als Sackgasse dar, weil sie unterschiedliche soziale Verhältnisse auf Unterdrückung und Identitätsfragen reduziert.“ (S. 118f)

Widerstand statt Selbstoptimierung?

Der vorliegende Sammelband trifft einen Nerv: Der Versuch, der antirassistischen Selbstoptimierungsliteratur etwas entgegenzusetzen, zeichnet sich durch eine strikte Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Klasse wird hier verstanden als struktureller Erklärungsansatz, statt als Teil der persönlichen Identität. Den Autor*innen ist es nicht nur gelungen aufzuzeigen, wie problematisch die Reduktion dieser Verhältnisse auf individuelle Entwicklungsprojekte ist, sondern auch marxistische Theorie wieder aufzugreifen. Was es braucht ist Widerstand und politische Veränderung – keine persönliche Weiterentwicklung. Antirassistische Massnahmen bedienen genau die neoliberale Vorstellung, dass jede*r sich stetig selbst verbessern und an sich arbeiten müsse und spielt damit dem kapitalistischen System in die Hände.

Was sich als Kritik am Sammelband formulieren liesse, ohne die Inhalte anzuzweifeln, ist, wie voraussetzungsvoll (inhaltlich, sprachlich und begrifflich) die vorliegenden Texte sind. Bücher wie „Exit racism“ funktionieren deshalb so gut, weil sie in einfacher Sprache und durch einleuchtende, wenig komplexe Erklärungen eine Problematik aufmachen, denen auch Leser*innen ohne wissenschaftlichen Hintergrund folgen können. Genau die (berechtigte) Kritik an verkürzenden Darstellungen von Diskriminierung und Antirassismus ist jedoch auch der Grund, warum sie so viele Menschen erreicht.

Damit möchte ich nicht für diese Form der Betrachtungsweise plädieren, im Gegenteil. Verhältnisse sind nicht vereinfacht, bei leichter Sprache und einfacher Darstellung geht Komplexität verloren. Dennoch bedürfte es meines Erachtens nach einer Form, die Diskussion und Beteiligung aller Menschen möglich macht – nicht nur die des linken Bildungsbürgertums. Wie dies möglich sein kann, ohne Inhalten die Komplexität zu nehmen, könnte eine Frage sein, über die es sich nachzudenken lohnt.

Benita Baum
kritisch-lesen.de

Eleonora Roldán Mendívil / Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. 3. Auflage. Karl Dietz Verlag, Berlin 2023. 200 Seiten. ca. SFr. 19.00. ISBN: 978-3-320-02397-3.

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