Detlef Wetzel: Arbeit 4.0 „Von der Realität ausgehen“ – Ein Dogma und sein Fehler

Sachliteratur

Detlef Wetzels Buch zur „Arbeit 4.0“ ist in diesem Jahr in seiner zweiten Auflage erschienen. Wetzel war vom 25. November 2013 bis zum Oktober 2015 erster Vorsitzender der IG Metall.

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Produktionshalle der Lufthansa. Foto: Lufthansa Technik AERO Alzey GmbH (CC BY-SA 4.0 cropped)

31. August 2016
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Während dieser Zeit initiierte er unter anderem das „Bündnis für Industrie“, um zusammen mit der Politik und Wirtschaftsverbänden den Industriestandort Deutschland „auf Dauer gesichert“ (StZ 2014) zu wissen.

Schon an anderer Stelle stellte Wenzel sein Dogma richtiger Gewerkschaftspoltik vor, dass er Willy Brandt entlehnt hat: „Alles politische Handeln muss von den Realitäten ausgehen“ (Detlef Wetzel: Mehr Gerechtigkeit wagen: 5). Praktisch folgt daraus, dass alle Zumutungen der kapitalistischen Realität für Wetzel in seinem Buch zur Arbeit 4.0 nichts anderes sind als die Realitäten, die man nicht zu kritisieren hat, sondern als praktischen Ausgangspunkt der eigenen Politik zu affirmieren hat. Hier ist einer fest überzeugt, dass alle Interessen in der Industrie 4.0 schon irgendwie zusammenpassen: „Es gibt das Diktat der Arbeitsorganisationen, es gibt die betriebswirtschaftlichen Anforderungen der Firmen und es gibt die Interessen der Beschäftigten – können wir in Zukunft Arbeitszeiten so organisieren, dass diese teilweise sehr unterschiedlichen Interessen in Einklang gebracht werden können?“ (152).

Für einen Praktiker wie Wetzel stellt sich natürlich nicht einmal die Frage, was für Interessen da eigentlich aufeinanderprallen. Diese „Realitäten“ von Beschäftigten, die irgendwie versuchen ihre Arbeit und ihre Kinder unter einen Hut zu bringen und dabei ständig an den Kalkulationen des Kapitals scheitern - die sich für die Reproduktion der Arbeiter herzlich wenig und für ihre ständige Verfügbarkeit dafür umso mehr interessieren – kennt Wetzel und interviewt sogar die Arbeiter, die genau von diesen Brutalitäten erzählen. Da ist z.B. die Mutter, die zuerst dachte, Kind und Karriere vereinen zu können, um dann festzustellen: „Aber jetzt, wenn ich mit mehr Ruhe nachdenke, merke ich, es geht einfach nicht mehr“ (154). Wetzel dokumentiert also die Auswirkungen der kapitalistischen Interessen und will von ihren Konsequenzen aber gar nicht als Notwendigkeiten wissen, sondern als unnötige Fehler, die eine richtige Politik beseitigen könnte:

1.) Da werden Arbeiter gesundheitlich Zuschanden gemacht durch Schichtarbeit? Kein Ergebnis kapitalistischer Benutzung der Ware Arbeitskraft, die, einmal bezahlt besonders effektiv genutzt werden soll, sondern ein Fall für bessere Arbeitgeber: „Und genau das kann ich als Gewerkschafter so nicht akzeptieren. Wir sehen die Arbeitgeber deutlich in der Pflicht, die herrschenden Arbeitsbedingungen zu überprüfen“ (130) – ganz so, als würden die nicht wissen, was sie ihrem Arbeitsvieh so antun wenn sie es Rund um die Uhr für ihren Profit arbeiten lassen!

2.) Da wird der Stress auf Arbeitnehmer ständig erhört und erreicht nie gekanntes Ausmass. Das ist für Wetzel aber kein Grund danach zu fragen, wer eigentlich davon profitiert, dass die Arbeit immer dichter wird. Hier sieht Wetzel kein Interesse an Arbeitsverdichtung am Werk um den Mehrwert zu erhöhen, sondern viel mehr ein Versäumnis, für Stressabbau zu sorgen: „Es bedarf der Anstrengungen durch die Sozialpartner und des Staates, um Entlastung für die Belastungsgesellschaft [sic!] zu schaffen“ (119). Wenn der Chef von seinen Mitarbeitern immer mehr Arbeit verlangt, dann ist nach Meinung dieses Gewerkschaftlers also glatt eine gemeinschaftliche Anstrengung von Chef und Arbeiter notwendig, um den Arbeiter zu „Entlasten“.

3.) Da wird festgestellt, dass Arbeiten bis 67 für die meisten Arbeiter gar nicht drin ist, weil sie bis dahin schon völlig verschlissen sind und dass sie trotzdem von den Leuten verlangt wird. Warum muss eigentlich ausgerecht länger gearbeitet werden, wenn mit der neuen Technik mehr in weniger Zeit hergestellt werden kann? Ohne sich diese Frage überhaupt zu stellen, wird auch hier natürlich im Sinne der Weltsicht von Wetzel die Realität einfach unterstellt um dann „Chancen“ in ihr zu erblicken: „Wenn die Menschen bis 67 arbeiten sollen, dann können wir es uns schlicht nicht leisten, dass sie mit 50 schon körperlich oder psychisch verschlissen sind“ (186). Selbst also noch die letzte Zumutung des Kapitals an sein Lebendes Inventar wird so in eine „Möglichkeit“ verwandelt!

„Wir“ ist dabei übrigens der Standort Deutschland, mit dem sich Wetzel so unumschränkt identifiziert, dass er gar nicht mehr bemerkt, dass da die einen bis 67 arbeiten müssen für den Reichtum der anderen, also vielleicht doch nicht alle Interessensgegensätze in einem harmonischen „wir“ aufgelöst werden. Weil „wir“ uns das also nicht leisten können, „darum sage ich: Gesunde Mitarbeiter sind die besseren Mitarbeiter“ (186).

So wird jedes Interesse von Arbeitnehmern für Wetzel dadurch geadelt, dass es sich eigentlich mit dem der Arbeitgeber sehr gut vereinbaren liesse! Dass die Arbeiter immer mehr Weiterbildungen machen müssen, um den ständig sich verändernden Ansprüchen des Kapitals gerecht zu werden? Erstmal eine „Realität“ auf die man sich natürlich einzustellen hat. Wenn die Leute dann tatsächlich mehr Weiterbildungen machen – was bleibt ihnen auch anderes übrig? – dann ist das für den Autor eine Politik, die sich der Realität angepasst hat und „hört sich doch gut an“! (79).

Ganz vergessen will der Autor die Interessen der Arbeitnehmer dann aber doch nicht, und fragt seinen Interviewpartner so kritisch: „Gut, das sind also die äusseren Zwänge zur Weiterbildung, aber gibt es nicht auch einen speziellen Nutzen für denjenigen, der sich weiterbildet?“ Hier endet natürlich die Harmonie und es gibt eine Klarstellung darüber, was der Lebenslang lernende Prolet zu erwarten hat: „Wenn wir engstirnig den Nutzen messen, wird es irgendwann auch nur noch einen engstirnige Bildung geben“ (79).

4.) Das Buch ist ein einziger konstruktiver Beitrag dazu, Deutschland voranzubringen: „Gemeinsam sollten wir der Volkswirtschaft in Deutschland die richtige Richtung geben“ (177). Dass der Erfolg einer kapitalistischen Nation auf der Ausbeutung seiner Arbeiterklasse beruht ist für Wetzel dabei wohl ebenfalls nur eine dieser „Realitäten“ die man zu akzeptieren hat und auf deren Grundlage man dann „viel Gestaltung“ (176) einbringen kann.

Berthold Beimler

Detlef Wetzel: Arbeit 4.0. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2015. 200 Seiten, ca. SFr 24.00. ISBN 978-3451313066

Der Artikel der StZ findet sich hier: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.buendnis-fuer-industrie-politik-und-tarifpartner-schliessen-sich-zusammen.23c2cbd4-78ff-4b3d-8cd8-89c8eaa29b39.html