Christopher Wimmer (Hg.):«Where have all the rebels gone?» Verbrannter Beton

Sachliteratur

Die Suche nach revolutionären Splittern: Ein Sammelband versucht, Erkenntnisse eines ganzen Jahrhunderts linker Gegenmacht zusammenzutragen.

Polnische Anarchisten, 1995.
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Polnische Anarchisten, 1995. Foto: Marcel Duchamp (PD)

29. November 2021
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Anarchistische Spurensuche oder Fragmente von Militanz und Organisierung? Das Ansinnen des Sammelbands „Where have all the rebels gone“ ist vage. Die Autor*innen sind vor allem Aktivist*innen im Gestern und Heute, die Lehren aus bisherigen Versuchen linker Gegenmacht ziehen. Ihre Bezugspunkte sind dabei vielfältig: Beiträge zur russischen Revolution 1917, den anarchistischen Rätestrukturen im revolutionären Spanien 1936 oder den militanten Stadtguerillas der 1970er-Jahre blicken zurück, andere beschreiben die Revolution in Rojava, militanten Widerstand gegen die Troika in Griechenland, französische Gelbwesten auf Kreisverkehren und die Potenziale der weltweiten Frauen*streiks der letzten Jahre. Herausgeber Christopher Wimmer fragt: Lassen sich diese Spuren für eine vertiefende Erkenntnis und Diskussion zusammen lesen, und wenn ja – welche Lehren ziehen wir daraus?

Solidarität im Krisenmodus

So oder so lädt das Potpourri zum Weiterblättern ein. Das hat insbesondere in Zeiten der Pandemie gute Gründe: Die tiefen, weltumspannenden ökologischen, sozialen, politischen und ökonomischen Krisen, die durch das Virus zutage traten, führten uns gleichzeitig in aller Deutlichkeit das Fehlen tragkräftiger linker Strategien und organisationaler Perspektiven vor Augen. Das Ende der Welt, wenn man den bekannten Satz bemühen will, mit der auch die Einleitung des Buchs beginnt, war leichter vorstellbar, als dem Ende des Kapitalismus nachzuhelfen – und das, obgleich dieser strauchelte und ächzte.

Das Möglichkeitsfenster, um sich innerhalb der multiplen Krisen die Brüche zunutze zu machen und die Visionen einer postkapitalistischen Welt in Richtung Realität zu bewegen, scheint nun vielerorts wieder ausser Reichweite. Gleichzeitig hat die Pandemie aber auch für neue Solidarisierungen und Potenziale gesorgt, die an bestehende Strukturen anknüpfen konnten und dort nun eine politische Festigung und inhaltliche Konkretisierung erfahren.

Mit dem Versuch, scheinbar nebeinander laufende Kämpfe einander näher zu bringen, liegen die Autor*innen des Sammelbands also richtig. Sie nehmen damit einige Erkenntnisse aus den aktuellen linken Debatten rund um die Bearbeitung der Corona-Krise vorweg. So ist vieles davon, was zuvor unter „feministischen Kämpfen“ eingeordnet (und oft abgehakt) worden war, nun ins Zentrum von Klassenkämpfen gerückt, Produktions- und Reproduktionsarbeit fallen allerorts ineinander und werden als unzertrennbares System sichtbar.

Im Buch wird die Zentralität eines feministischen Blicks, oder vielmehr der Blick auf die Lage der Frauen* in den Klassenzusammensetzungen gleich an mehreren Stellen thematisiert, etwa in dem Beitrag von Andrea D'Atri zu „Feminismus und Marxismus“. Auch in dem herausragenden Beitrag von Thorsten Bewernitz über die Möglichkeit, Streiks zu generalisieren und den „sozialen Streik“ (S. 154) als kollektiver Widerstandsform zu entwickeln, geht es letztlich um die Verbindung von Reproduktions- und Produktionssphäre. Der soziale Streik „geht über die Welt der Lohnarbeit hinaus, ist gleichzeitig aber auch mehr […] als ein politischer Streik“ (ebd.). Bewernitz gibt dabei zu bedenken, dass dieser Streik auch über einen „Demonstrationsstreik“ hinaus gehen muss, um effektiv zu sein.

Es muss zum einen die entscheidene Rolle der Produktion und der damit verbundenen ökonomischen Macht mitgedacht werden, vor allem im globalen Zusammenhang. Und zum anderen braucht es eine klare feministische Perspektive auf den Streik und die Klassenzusammensetzung. Ein Feminismus in „klassenbewusste[r], antikoloniale[r] und massenspezifische[r] Dimension“, so schreibt Bewernitz im Verweis auf die aktuellen Debatten, wird „auf absehbare Zeit einer der massgeblichen Leitgedanken der Arbeiter*innenbewegung werden“ (S. 169).

Hinein in die Organisationsdebatte

Ein weiterer Beitrag stammt vom Herausgeber selbst. Wimmer beschreibt darin die Metamorphosen einer antifaschistischen autonomen Politik von den 1980er-Jahren bis heute. Der Blick zurück zeugt von der Stärke der militanten Kämpfe und ihrem zentralen Dreh- und Angelpunkt: Dem Widerstand gegen das staatliche Gewaltmonopol. Strategische Fragen entlehnt Wimmer hierbei vor allem vom Reflexionspapier eines Zusammenhangs, welcher sich schlicht „Autonome aus Berlin“ nennt. Über Strassenschlachten der 1980er-Jahre heisst es darin, und damit trifft es letzlich genau den Kern (und die Beschränktheit) autonomer Politik insgesamt:

„der offene Hass durfte und musste sein. Zwar gesellschaftlich mikroskopisch, aber trotzdem im Willen zur Konfrontation visionär […]. Es erschien erstmalig möglich, dass der Beton doch brennen könne. Ohne eine soziale Bewegung im Rücken, die sich genötigt sieht, ihr Handeln mit gesellschaftlichen Missständen zu legitimieren, konstituierte sich der unbedingte Wille zur Zerstörung“. (S. 99)

Die Spaltung der Szene, lesen wir, war auch aus diesem Grund vorprogrammiert: Mitte der 1990er wurden die wenig flexiblen Politikformen der Autonomen durch die gesellschaftliche Realität überholt, vor allem, was die Grundlagen antifaschistischer Organisierung anbelangte. Es waren breite Organisierung und Verbindlichkeit gefragt.

Ein Interview mit drei Berliner Antifagruppen bestätigt diese Erkenntnis. Es geht darin um eine Selbstkritik ihrer Praxis und daraus resultierende Veränderungen, etwa im Bezug auf Antirassismus und neue Formen von antifaschistischer Gegenwehr. Aber das Interview ist auch entlarvend in Bezug auf die Selbstverortung der Aktivist*innen, ein Problem, das sich beispielsweise in den gemeinsamen Kämpfen mit migrantischer Selbstorganisierung zeigt: „Die Antifa war immer deutsch, akademisch und von der Mittelklasse geprägt. Das ist nicht nur schlecht, weil dadurch Politik gemacht wird, die nicht aus Betroffenheit rührt, sondern aus Vernunftgründen“ (S. 127). Mit dieser Haltung scheint es nicht weiter verwunderlich, dass die Antworten zur Klassenfrage und zu konkreter antirassistischer oder internationalistischer Arbeit eher dürftig ausfallen.

Es zeigt sich ein grundsätzliches Manko der (post)autonomen Bewegungen: Die Vorstellung, unabhängig und antagonistisch und nicht von der bürgerlichen Ideologie durchdrungen zu sein. Dass dies ein Mythos ist, haben auch die Genoss*innen im Interview erkannt. Aber diese Erkenntnis muss sich auch in die Praxis umsetzen, die in ihren Grundstrukturen subkulturell, individualisierend und letztlich auch ziemlich privilegiert ist. Gegen jede Form der strukturierten Organisierung innerhalb der eigenen Gruppierung zu sein, keinerlei gewerkschaftliche oder zivilgesellschaftliche Bündnisse einzugehen und einzig auf die Schlagkräftigkeit der eigenen Inhalte zu setzen, muss man sich leisten können. Insbesondere, wenn die objektiv-gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse (zunehmender Autoritarismus, Rechtsdruck, soziale Verwerfungen und so weiter) den alleinigen Fokus auf die Strategie des Abwehrkampfes längst als Sackgasse offengelegt haben.

Geteilte Kämpfe

Der Band versammelt einen bemerkenswerten Einblick in Chancen, vor allem aber auch in die Niederlagen einer antagonistischen autonomen Linken. Seine Stärke besteht darin, dies über verschiedene Länder und Zeiträume hinweg zu tun. Gleichzeitig ist das auch seine Schwäche: Die Qualität der Beiträge ist höchst unterschiedlich, und auch die Frage nach politischem Gehalt all dieser „Positionsbestimmungen in Raum und Zeit“ (S. 13). Bei einigen Beiträgen scheint die Abscheu vor einem – höchst verallgemeinerten – Feindbild des Kommunismus noch weiter zu reichen als vor Faschisten. Hier sind andernorts schon weiterführende kritisch-solidarische Bezugnahmen auf vergangene Kämpfe erschienen, hinter denen dieser Band zurückfällt.

Zum Thema Organisationsdebatte bleiben die Beiträge insgesamt oft widersprüchlich: So wird gleichzeitig klare Organisierung und längerfristige gegenseitige Bezugnahme der Kämpfe als notwendig dargestellt (nicht zuletzt mit Verweis auf Rosa Luxemburgs Überlegungen zu Gewerkschaft, Partei und der Demokratisierung des kapitalistischen Staates) und ist im nächsten Augenblick aber ein absolutes No-Go. Dass die autonome Bewegung insgesamt in den letzten Jahren geschwächt wurde und sich vielerorts ganz aufgerieben hat, wird an vielen Punkten klar. Das letztliche Ende des Organisationsansatzes „militante Autonome“, zumindest im deutschsprachigen Raum, hängt unter anderem damit zusammen, dass militante Konzepte und Praxis sich vielfach längst selbst überholt haben.

Der Mangel an solidarischen Organisationsstrukturen und Perspektiven über eine sehr begrenzte Zeit und Zielgruppe hinaus – etwa für erkrankte oder alternde Genoss*innen, für aktivistische Eltern oder Genoss*innen in schwierigen ökonomischen, rechtlichen oder sozialen Lagen – erschwert auch die Weitergabe von dem, was im Buch immer wieder als weiterer zentraler Bezugspunkt durchscheint: Die Erinnerung an gemeinsame Kämpfe, an vorhergegangene Revolten, an geteilte Erfahrungen: „Nur in der Revolte, im Aufstand, entstehen jene Beziehungen, jene sozialen Bezüge, die den Gedanken an eine Aufhebung überhaupt als Idee am Horizont ermöglichen“ (S. 111).

Johanna Bröse
kritisch-lesen.de

Christopher Wimmer (Hg.): "Where have all the rebels gone?". Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht. Unrast Verlag, Münster 2020. 304 Seiten, ca. 24.00 SFr. ISBN 978-3-89771-277-5

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