Christoph Bangert: War Porn Die Sichtbarkeit des Krieges

Sachliteratur

Wie weit darf (oder muss?) man als Kriegsfotograf gehen? Was darf (oder muss?) man den Zuschauer_innen zumuten? Gibt es Grenzen der Darstellbarkeit? Das sind einige der Fragen, die Christoph Bangert mit seinem neuen Fotobuch aufwirft.

Szene aus dem Schweizer Dokumentarfilm
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Szene aus dem Schweizer Dokumentarfilm "War Photographer" von Christian Frei mit James Nachtwey. Foto: Christian Frei Switzerland (CC BY-SA 2.0 cropped)

7. November 2022
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„War Porn“ lautet der ebenso provokante wie aussagekräftige Titel der kontroversen Publikation, für die der 1978 geborene Fotojournalist mit dem Deutschen Fotobuchpreis 2015 ausgezeichnet wurde. Und in der Tat: Es wäre ein Leichtes, die Bilder von Leichen, die auf Mülldeponien abgeladen wurden, von blutigen Krankenhausbetten und Sterbenden, von verstümmelten, gefolterten Körperteilen und von toten Kindern als „pornografisch“ zu bezeichnen. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn ganz so einfach macht es „War Porn“ den Leser_innen nicht.

Seit ihren frühen Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Kriegs- und Krisenfotografie zwei Vorwürfen ausgesetzt gesehen, die bis heute mit unterschiedlicher Akzentsetzung immer wieder reformuliert werden: dem der Manipulation (des Bildes) und dem der Ausbeutung (des fotografierten Menschen). In den Bilderfluten der heutigen Medienwelt kommt ein weiterer Verdacht hinzu, nämlich dass die schonungslose Darstellung von Tod, Krieg und Katastrophen zur allgemeinen Abstumpfung der Rezipient_innen beiträgt. Man mag zustimmen oder das als kulturpessimistisches Geraune abtun, festzuhalten bleibt, dass kritische Bilder nicht automatisch ein Garant für die kritische Auseinandersetzung mit ihren Inhalten sind. „Dass Nachrichten über Kriege heute weltweit verbreitet werden“, so Susan Sontag in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“, „bedeutet nicht, dass sich die Fähigkeit, über das Leben weit entfernt lebender Menschen nachzudenken, nennenswert erweitert hätte“ (Sontag 2013, S. 135).

Auch Bangert weiss, dass er sich mit den drastischen Fotografien, die in den letzten zehn Jahren in Afghanistan, Irak, Indonesien, Libanon und Gaza entstanden sind, angreifbar macht. Genau darum geht es ihm aber auch. Seine Bilder sollen nicht in erster Linie schockieren, sondern weitergehende Kontroversen provozieren: über die Sichtbarkeit von Terror, Krieg und Mord in unserer Gesellschaft, über den schmalen Grat zwischen Pietät und Feigheit, was das Hin- beziehungsweise Wegschauen betrifft, über das, was man sich als „Erste-Welt-Jammerer“ („first world whiner“, ohne Seite) zumuten und wovor man sich verantworten muss. Das Schlüsselwort für das dahinterstehende Konzept lautet „Selbstzensur“.

Dieser unterliegen laut Bangert nicht nur Redakteur_innen und Medienmacher_innen, sondern zunächst und vor allem die Kriegsfotograf_innen selbst. Nicht zuletzt seien es ausserdem die Leser_innen und Zuschauer_innen zuhause, die aktiv an dieser Zensurpraxis Anteil hätten.

„Die meisten meiner Kolleg_innen, die in Kriegs- und Krisengebieten arbeiten, haben zahlreiche Bilder wie ich. Alle diese Bilder liegen auf Festplatten, unsichtbar. Es wäre leicht, für diese Tatsache, das Übel der Selbstzensur, ‚die Medien' verantwortlich zu machen. Ich selbst bin Teil dieses mutierenden Medienorganismus […], aber das bist auch du: die Person, die liest, absorbiert und für Informationen bezahlt. Leider gibt es da keine Verschwörung. ‚Die Medien' werden von Menschen gemacht.“ (o.S., Übersetzung S.B.)

Nun wäre es ein Missverständnis, Bangerts Buch als Appell für eine schonungslosere Bildpolitik und als Freifahrtschein für visuelle Skandalisierung zu verstehen. „War Porn“ ist durchdrungen von permanenter Selbstreflexion. Das zeigt sich sowohl in der konzeptionellen Anlage des Buches als auch in dem Textrahmen, der durch Einleitung und Epilog vorgestellt wird. Im Bildteil selbst wird auf Kommentare oder Untertitel verzichtet. Nichts lenkt von den Fotografien ab. Ort, Zeit und Kontext der Aufnahmen sowie – sofern ermittelbar – die Namen der Fotografierten werden stattdessen im Anhang angegeben. Das ist in konzeptioneller Hinsicht ein nicht unerhebliches Detail, denn von Robert Capas „Falling Soldier“ über Dorothea Langes „Migrant Mother“ bis hin zu Nick Úts „Napalm Girl“ sind die „Ikonen“ in der Geschichte der Kriegs- und Krisenfotografie meist anonym geblieben – im Gegensatz zu ihren „namhaften“ Fotograf_innen, deren Ruhm sie begründet haben. Bangert beruft sich demgegenüber explizit auf das Mandat, das ihm die Fotografierten selbst beziehungsweise deren Angehörige und Hinterbliebene erteilt haben: „Ich mache nie Bilder von Menschen, die nicht fotografiert werden wollen“, erklärt er im Juli 2014 in einem Gespräch mit der ZEIT, „Oft ist es genau umgekehrt. Die Leute sagen: ‚Das musst du fotografieren, du musst zeigen, was uns hier passiert.'“ (Bangert 2014).

Das klingt nach Rechtfertigung, und in der Tat wird das nachdrückliche Bedürfnis, das eigene Tun zu legitimieren, in nahezu allen Interviews über „War Porn“ deutlich. Den Vorwurf, diese Art von Bildern sei „pornografisch, voyeuristisch, entmenschlichend“ bezeichnet Bangert als „Totschlagargument“:

„Natürlich tragen diese Bilder immer etwas Entmenschlichtes in sich, weil das, was sie zeigen, so unglaublich ist: Dass ein Mensch zu Tode gefoltert und auf einer Mülldeponie entsorgt wird. Das Bild deswegen verwerflich zu nennen, ist aber eine Ausrede. Damit vermeidet man, sich mit den Ereignissen, die sie zeigen, auseinanderzusetzen“ (ebd.)

Für Bangert bedeutet die Veröffentlichung seiner Fotografien, deren Aufnahme er mitunter vollkommen verdrängt hat, auch das Experiment, die Schere im eigenen Kopf auszusetzen: „Was passiert, wenn ich die Selbstzensur ausschalte?“ (o.S., Übersetzung S.B.) – eine Frage, die man sich auch bei der Lektüre von Bangerts Fotobuch automatisch stellen muss. Denn „War Porn“ ist ein belastendes Buch, das die Leser_innen fordert und ihnen einiges abverlangt – unter anderem, sich immer wieder aktiv und immer wieder aufs Neue dazu zu entscheiden, genau hinzuschauen: Einige der Seiten sind zusammengebunden und müssen bei der Lektüre selbst aufgeschnitten werden. Das fällt nicht leicht, denn das Buch wird im Wortsinn sehr persönlich und bietet – anders als andere sozialkritische Fotobücher – kaum dramaturgische Ruhepausen. Distanzierte Landschaftsaufnahmen, die es erlauben, einen Schritt zurückzutreten, gibt es nicht. Nur ganz selten werden Fotografien eingestreut, auf denen keine Menschen zu sehen sind. Und auch bei diesen – etwa den Detailaufnahmen von Müll auf der Strasse, Stills von TV-Nachrichten, dreckigen Operationstischen oder dem Close Up eines Fleischgerichts – handelt es sich um Nahaufnahmen, die in den Erzählverlauf des Buches eingepasst sind. Dass das nicht unbedingt subtil ist, muss man als Teil des dezidiert „unpoetischen“ Konzepts auffassen.

„Das hier sind nicht meine besten Fotografien. Ich habe wunderschöne, dramatische, durchkomponierte Bilder aus Kriegs- und Krisengebieten. Landschaften, Porträts, Details; the boom and the bang. Aber in diesem Buch geht es nicht um das Drama des Krieges oder den künstlichen Mythos des heroischen Kriegsfotografen. Ich versuche lediglich, eine Diskussion über unseren Umgang – oder Nicht-Umgang – mit Darstellungen schrecklicher Ereignisse anzuregen.“ (o.S., Übersetzung S.B.).

Gerade der Verzicht auf planvoll-tragische Bildkompositionen und effektvolles Pathos macht „War Porn“ im eigentlichen Sinn so „skandalös“, das heisst empörend und ungeheuerlich. Bangerts Bilder sind verstörend und hässlich, mitunter übelkeitserregend. Sie machen wütend, traurig, und sie beschämen. Zur Ikonisierung eignet sich jedoch kein einziges von ihnen.

Gewiss: Das Dilemma, dem sich insbesondere dokumentarische Fotografie ausgesetzt sieht – das buchstäbliche „Abschiessen“ eines Gegenübers, der oder die durch das Bild objektiviert (mithin auch exotisiert) und zum Anschauen freigegeben wird; das „Ausstellen“ der Fotografierten und die Hierarchie des Beschauens, die jedem Bild implizit ist – wird auch Bangert mit seinem Buch nicht lösen können. Durch das extrem nüchterne Layout versperrt sich das Buch zugleich gegen jegliche Form von plakativem Schock und marktschreierischer Opulenz. Dazu tragen das nackte Cover und der einfache Pappeinband ebenso bei wie die Schreibmaschinen-Typo und das Westentaschen-Format von 12 x 16 cm, die eher an ein Notizbuch oder Arbeitsjournal denn an eine aufwändige Kunstpublikation erinnern. Tatsächlich ist es vor allem dieser reduzierte und reflektierte dokumentarische Gestus, der „War Porn“ als das auszeichnet, was es als Fotobuch lediglich sein kann: ein bruchstückhaftes und rohes Zeugnis, das die Rede vom „sauberen“ Krieg des 21. Jahrhunderts Lügen straft.

Stephanie Bremerich
kritisch-lesen.de

Christoph Bangert: War Porn. Kehrer, Heidelberg; Berlin 2014. 192 Seiten, ca. SFr 34.00. ISBN 978-3-86828-497-3

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