Charles Mingus: Beneath the Underdog Jazz + Sex hoch zwei = Beneath the Underdog

Sachliteratur

Wer die Musik des Jazzvirtuosen Charles Mingus mag, muss sein literarisches Schaffen nicht notwendigerweise ebenso schätzen.

Charles Mingus - Bi Centenial, Lower Manhattan am 4. Juli 1976.
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Charles Mingus - Bi Centenial, Lower Manhattan am 4. Juli 1976. Foto: Tom Marcello (CC BY-SA 2.0 cropped)

4. September 2013
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Wer es wagt, sich in die Weiten der Jazzszene zu begeben, wird früher oder später unweigerlich auch Musik von Charles Mingus (1922-1979) am Plattenspieler oder in der Playlist haben. Der in Watts, einem Vorort von Los Angeles, aufgewachsene Mingus durchlebte wie so viele Schwarze seiner Zeit nicht nur den Rassismus der weissen US-amerikanischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch eine von häuslicher Gewalt geprägte Kindheit und Jugend. Dennoch erlernte er relativ früh diverse Instrumente, zuletzt den Bass, mit dem er weltberühmt werden sollte. Doch sein Aufstieg in der Jazzszene war alles andere als einfach und reibungslos. Er hatte immer wieder mit Geldproblemen, Scheidungen, Depressionen und Rückschlägen zu kämpfen. Er arbeitete zwischen Tourneen und Plattenaufnahmen bei der Post und war wohl charakterlich alles andere als ein angenehmer Typ.

Bandmitglieder wechselten ständig, einmal verprügelte er ob eines Missverständnisses einen Musiker auf offener Bühne, er massregelte das Publikum und sein Ruf als notorischer Fremdgeher war mehr als begründet. Gegen Ende seiner Karriere erkrankte er an Amyotropher Lateralsklerose (eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems), weshalb er schliesslich nur noch komponieren, aber nicht mehr selbst Bass spielen konnte.

Jazz und der „Weisse Mann“

Mit seinem eigenen Plattenlabel Debut versuchte er sich von grossen Labels unabhängig zu machen, was nur mässig gelang. In seiner Autobiografie „Beneath the Underdog“, die ursprünglich „Memoirs of a Half-Schitt-Colored-Nigger“ heissen sollte, beklagte er auch immer wieder den seiner Ansicht nach schlechten Einfluss des „Weissen Mannes“ im schwarzen Jazz-Business (das „Half-Schitt-Colored-Nigger“ rührt von seinem teils afrikanischen, europäischen und asiatischen Familienbackground her, was ihm gröbere Identitätsprobleme bescherte und weshalb er von allen möglichen Seiten diskriminiert wurde). Auch sonst in Bürgerrechtsfragen engagiert, war er in Sachen Jazzmusik gewissermassen – ganz dem Zeitgeist entsprechend – ein Black-Power-Separatist:

„Na gut, die weisse Gesellschaft hat also ihre eigene Tradition; dann soll sie uns aber auch die unsere überlassen. Ihr habt euren Shakespeare gehabt, und euren Marx und Freud und Einstein und Jesus Christus und Guy Lombardo, aber wir haben mit dem Jazz angefangen, vergiss das nicht, und die moderne Popmusik in der ganzen Welt stammt vom Jazz ab. (…) Weisse Typen nehmen einfach unsere Musik und machen mehr Geld damit als wir“ (S. 293).

An diesen letzten Gedanken anknüpfend, liest man an anderer Stelle eine sehr hellsichtige Kritik der (weissen) Musikindustrie, in der er die alltägliche rassistische Diskriminierung fortgesetzt sah:

„Für den Weissen Mann ist der Jazz das grosse Geschäft und ohne ihn geht überhaupt nix. Wir [schwarze JazzmusikerInnen; Anm. S.K.] sind nur Arbeiterameisen. Er besitzt die Zeitschriften, die Agenturen, die Plattenfirmen und alle Kneipen, die der Öffentlichkeit Jazz verkauft. Wenn du dich nicht verkaufst, und zwar sehr billig, und versuchst zu kämpfen, dann stellen sie dich nicht mehr ein und machen dich mit schlechter Publicity fertig“ (S. 156).

Sex als Überthema

Das Thema dieser Autobiografie ist aber Mingus' Sexualleben, was jene schwer enttäuschen wird, die sich für den Musiker und nicht für den selbsternannten Frauenheld Mingus interessieren. Prinzipiell stellt sich hier die Frage, weshalb es einem derart begnadeten Musiker scheinbar wichtiger ist, seine Autobiografie mit der detailreichen Schilderung seines Sexuallebens zu füllen, anstatt sich dem zu widmen, was wohl die Motivation für viele ist, sein Buch zu lesen: dem Jazz. Das Hauptproblem ist jedoch nicht, dass Mingus hauptsächlich über Sex und Frauen schreibt, sondern wie er das tut. Mingus schreibt derb, unverhohlen und ohne jegliche Rücksicht auf linke (Sprach-)Befindlichkeiten. „Warum auch!?“, könnte hier ein Einwand lauten, Mingus war schliesslich Musiker und kein wie auch immer gearteter politischer Purist im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Und die Jazzszene dieser Zeit war nun mal vermutlich ein eher hartes und ungestümes Pflaster. Stimmt.

Aber selbst für LeserInnen, die lediglich ein Mindestmass an diskriminierungsfreier Sprache einfordern und nicht reflexartig bei jedem Verstoss gegen linke Szene-Neusprechnormen ausflippen, wird es unerträglich, wenn Mingus sich ausführlich dem Thema Frauen und Sex widmet. „Bräute“ und „Weiber“ sind hier noch die harmlosesten Termini, mit denen das Mingus'sche Sexualobjekt tituliert wird. Viel öfter sind sie einfach nur „Nutten“ oder „Fotzen“. Das gesamte Buch hindurch liest man seitenlang über seine „Eroberungen“, sein ausschweifendes Sexualleben, von der vermeintlichen Grösse seines „Schwanzes“ und der Unendlichkeit seiner Potenz. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass Mingus' Libido die unangefochtene Protagonistin des gesamten Buches ist! Selbst die wenigen tiefgründigeren Passagen, wie die Wiedergabe eines Gesprächs mit seinem alten Vater, beginnen mit der Frage, ob dieser denn „immer noch einen hoch“ kriege (S. 103). Spätestens hier legte ich das Buch zum ersten Mal völlig entnervt zur Seite.

Endgültig unerträglich wird es aber, wenn so manche Sexszenen mit äusserst aggressiver und entwürdigender Rhetorik geschildert werden, Sex mit minderjährigen mexikanischen Prostituierten angedeutet wird und er Frauen (unter anderem seine diversen Lebenspartnerinnen) zur Prostitution „überredet“ und sich daraus ein Spiel macht, wie lange er wohl dazu brauche, dass die Frauen für ihn auf den Strich gehen. Zuletzt erfährt man folglich noch mehr über Mingus' Einstieg ins Zuhältergeschäft und wie man sich dadurch seine Vorliebe für Jazz gegenfinanzieren könne:

„Ich werde dir sagen, Mingus, wie du dich davor bewahren kannst, abhängig zu werden von dem, was reiche Schweine denken und Kritiker sagen; über Jazz, echten Jazz, deine Arbeit. Für mein Gefühl muss ein guter Jazzmusiker einfach ein Zuhälter werden, wenn er frei sein und seine Seele retten will. Jelly Roll Morton [US-amerikanischer Jazzpianist; Anm. S.K.] hatte sieben Mädchen und auf diese Art und Weise hat er sich die Zeit zum Komponieren und Lernen gekauft und zufällig ist er auch noch zu den Diamanten in seinen Zähnen und vielleicht auch im Arschloch gekommen. Er sagte immer: ‚Weisser Mann, du hasst und kämpfst und tötest für deine Reichtümer. Ich bekomme sie durch's Ficken. Wer von uns ist besser?'“ (S. 222)

Wie soll man das nun alles verstehen und einordnen? Das Nachwort von Harald Justin legt nahe, dass der „Big Bad Motherfucker Charles“ (S. 316) lediglich „Fi(c)ktion“ (ebd.) sei und die „Zuhälter-Pose“ nur „literarische Fantasie“ blieb (S. 319). Mingus selbst behauptete hingegen stets, dass alles, was er in dieser Autobiografie niedergeschrieben hatte, „die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ (S. 314) sei. Ob Wahrheit oder Fiktion, auch frauenverachtende Fiktion ist frauenverachtend und somit für fortschrittlich gesinnte LeserInnen schwer ertragbar.

Was bleibt

Nicht nur über den Wahrheitsgehalt, sondern auch über die literarische Qualität des Buches lässt sich trefflich streiten. Letzteres betreffend werden im Nachwort nicht gerade bescheidene Verbindungslinien zu Literaten wie Henry Miller, James Joyce und Charles Bukowski gezogen … naja … stilistisch Bukowski, vielleicht (und das schreibe ich, weil ich Bukowskis Stil wenig abgewinnen kann). Letztendlich bleibt bei mir aber das Gefühl, dass Charles Mingus wohl doch ein weit besserer Musiker als Schriftsteller war – und dass es gut ist, dass seine Musik rein instrumentaler Natur ist.

Als ich vor einiger Zeit den sehr sehenswerten Dokumentarfilm „Let's Get Lost“ über den grandiosen Jazztrompeter Chet Baker gesehen hatte, dachte ich mir nur „Wow, was für ein Arschloch!“, wobei dieses Gefühl bei Baker rein persönlich-charakterlicher und nicht (wie teilweise bei Mingus) politischer Natur war. Nach der Lektüre von „Beneath the Underdog“ muss ich nun auch viel ausblenden, um Charles Mingus weiterhin unbeschwert hören zu können. Wobei: Ehrlich gesagt, kann ich ihn gar nicht mehr unbeschwert hören.

Sebastian Kalicha
kritisch-lesen.de

Charles Mingus: Beneath the Underdog. Aus dem Englischen übersetzt von Günter Pfeiffer. Edition Nautilus. Hamburg, 2012. 320 Seiten, 20.80 SFr, ISBN 978-3-89401-416-2

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