Grandioses Werk über die goldenen Zwanziger F. Scott Fitzgerald: Zärtlich ist die Nacht

Belletristik

Ein zeitloser Roman, gewaltig, tiefsinnig und zugleich brandaktuell. Die oft unterschätzte Analyse der dekadenten US-Oberschicht von F. Scott Fitzgerald vom Anfang des 20. Jahrhundert geht direkt in die Knochen.

Der Protagonist des Romans «Zärtlich ist die Nacht» übernachtete im Grand Hotel in Caux, oberhalb von Montreux.
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Der Protagonist des Romans «Zärtlich ist die Nacht» übernachtete im Grand Hotel in Caux, oberhalb von Montreux. Foto: PD

13. Februar 2012
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Korrektur
Selten wurde in der Literatur das inhaltsleere, orientierungslose und oberflächliche Leben der Superreichen so schonungslos seziert und präzise aufgezeigt. Am Beispiel eines aufstrebenden jungen Mannes aus einer verarmten Upperclass-Familie mit ehrenwertem Namen wird der schmerzvolle Untergang einer musikliebenden, partysüchtigen und orientierungslosen Generation veranschaulicht.

Die Selbstzerstörung durch unsteten Lebenswandel und antriebslosen Müssiggang, der regelmässige Alkoholkonsum und die ausufernden Sexeskapaden versetzen die Protagonisten in einen unentrinnbaren Kreislauf aus Selbstaufgabe und Lebensverdruss. Dem aufregenden Schauspiel stehen gelangweilte Hedonisten, arbeitsscheue Millionärskinder und vergnügungssüchtige Weltenbummler zur Seite.

Wer jetzt aber annimmt, er könne strikte dem trivialen roten Faden des Buches folgen und als teilnahmsloser Leser die Seiten runterspulen, der hat die Tiefe der Thematik ganz klar unterschätzt. Es handelt sich hier zweifelsohne nicht um einen der vielen Geschichtchen eines beflissen-gelangweilten Bestseller-Autors, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, ausgebrannte Hausfrauen und abgehetzte Arbeitsdronen nach Feierabend in den Schlaf zu schaukeln. Der Autor dieses Buches, F. Scott Fitzgerald, Verfasser des mit Robert Redford und Mia Farrow verfilmten Welterfolges «Der grosse Gatsby», rechnet in diesem Roman noch gnadenloser mit der ihm so verhassten Oberschicht ab als in seinem Vorgängerwerk.

Sieben Jahre nach seinem Grosserfolg, unzähligen Partys, Gala-Dinners und durchlebten Nächten kann er diese Geschichte, welche stark autobiografische Züge enthält, beenden und veröffentlichen. Dabei hat er die Geschichte mehrmals komplett umgeschrieben und überarbeitet, so wichtig waren ihm diese Aufzeichnungen. Es ist erst sein dritter vollständiger Roman und wird zugleich sein letzter Vollendeter sein. Er stirbt fünf Jahre später an einem mehrfachen Herzinfarkt mit 45 Jahren.

Dekadente High-Society

Und genau von diesem düsteren Unterton ist der Aufstieg und Fall des Antihelden in «Zärtlich ist die Nacht» begleitet. Obwohl zu Beginn der Geschichte ein unglaublicher kraftvoller und unternehmenslustiger Psychiatriestudent seinen jugendlich-unbeschwerten Optimismus verbreitet, schimmert zwischen den Zeilen schon von Beginn weg melancholischer Dystopismus durch. Dem jungen eloquenten Arzt Dick Diver liegt die Frauenwelt zu Füssen, sein beruflicher Erfolg ist durch sein soeben erschienes und in der Fachwelt vielbeachtetes Psychiatrie-Werk vorprogrammiert und sein ehemaliger Studentenkolleg hat ihm eine lukrative Stelle in einer renommierten Bourgeois-Nerven-Klinik am Züricher Berg verschafft.

In dieser Atmosphäre lernt er die blutjunge Nicole Warren kennen, welche von ihrer steinreichen Familie in eben diese Nervenheilanstalt eingewiesen wird. Die Tochter eines Industriemagnaten verband nach dem Tod ihrer Mutter eine enge Beziehung zu ihrem geliebten Vater. Das unzertrennliche Duo reiste gemeinsam um die Welt bis die Vater-Tochter Beziehung dort endete, wo sie niemals hätte hinführen dürfen. Die Tochter verschliesst sich nach dem inzestuösen Vorfall zusehends der (männlichen) Aussenwelt, bis der schuldbewusste Vater keine andere Lösung mehr sieht als die Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Dort verliebt sich Nicole in den gutaussehenden, feinfühlenden Arzt Diver, welcher vorerst versucht, die Annäherungsversuche seiner ihm anvertrauten Patientin zu ignorieren.

F. Scott Fitzgerald, im Juni 1937.

Bild: F. Scott Fitzgerald, im Juni 1937. / Carl van Vechten (PD)

Nach einer monatelangen mehr oder weniger erfolgreichen Behandlung wird die wiedererstarkte Nicole mit 18 Jahren in die Freiheit entlassen. Mit ihrer Schwester Baby Warren quartieren sich die beiden im Palace Hotel in Caux oberhalb von Montreux ein, um die wiedergewonnene Freiheit zu geniessen.

Wie es der Zufall will, treffen sich Dick und Nicole in eben diesem Hotel wieder, welches in den 20er Jahren bei der europäischen und amerikanischen Oberschicht ein angesagter Treffpunkt war.

In dieser abgehobenen Atmosphäre mit traumhafter Aussicht auf den Lac Leman kommt es nach dem Abendessen im grosszügigen Park des Hotels zum ersten Kuss. Trotz den zaghaften Bedenken von Seiten der wohlhabenden Familie Warren kommt es zur Vermählung des jungen Paares. Nach der ersten romantisch-verliebten Phase mit zahlreichen Reisen durch weit entfernte Kontinente (zu deren Beschreibung Fitzgerald diverse Tagebucheinträge seiner Frau Zelda benützt) und der Geburt von zwei Kindern lässt sich die Familie auf einem neu erstandenen Grundstück oberhalb der Côte d'Azur eine grosszügige Villa erbauen.

Die goldenen Zwanziger

In der Folge führen Dick und Nicole Diver das Leben kultivierter Auswanderer an der französischen Riviera. In ihrem mondänen Palast gehen Künstler, High-Society-Leute und Exzentriker ein und aus. Darunter auch die aufreizende Schauspielerin Rosemary. Jung und ehrgeizig, hat sie sich in den Kopf gesetzt, den Herrn des Hauses zu verführen. Allerdings weiss sie nicht, worauf sie sich dabei einlässt und welche Geheimnisse der Psychiater und seine zarte Frau verbergen.

In den Sommermonaten pflegen die Divers als eine der Ersten die Badekultur vor den verwunderten Augen der Einheimischen am herrlichen Strand von Südfrankreich. Am Abend geben sie feucht-fröhliche Partys oder es werden illustre Abendgesellschaften eingeladen. Um sich vom süssen Nichtstun zu erholen (nichts ist anstrengender und nervenaufreibender als nicht zu Arbeiten), reisen sie im Winter mit den Kindern nach Paris oder Italien. Dick arbeitet in all den Jahren an einem Nachfolgewerk seines erfolgreichen Psychiatriebuches. Da ihm das Schreiben zwischen all den Partys und Gesellschaftsanlässen jedoch viel mehr Mühe bereitet als früher und er dabei spürt, dass sein neues Werk nicht mehr die Dringlichkeit besitzt des Erstlings, vernachlässigt er die zähen Schreibversuche des Öfteren und widmet sich vermehrt seinen Kindern und dem Alkohol.

Obwohl es um seine Frau Nicole immer besser steht, da diese ihre traumatischen Erlebnisse relativ gut verarbeitet, geht der gelangweilte Psychiater eine verhaltene Liaison mit der erfolgreichen und mittlerweile etablierten Schauspielerin Rosemary ein. Der Seitensprung geht jedoch nicht über leidenschaftliche Liebeserklärungen und stürmische Umarmungen hinaus. Nicole, die etwas von der platonischen Liebe ihres Ehemannes zu dem attraktiven Hollywood-Starlet ahnt, erleidet prompt wieder einen Rückfall und erlangt so auch wieder die volle Aufmerksamkeit ihres untreuen Mannes.

Als er von seinem ehemaligen Studienkollegen das Angebot erhält, mit ihm zusammen eine international angesehene Nervenklinik am Zugersee zu übernehmen, nimmt er das Angebot auf Drängen von Nicole und dessen Schwester Baby Warren, welche das notwendige Kapital für den Kaufpreis zur Verfügung stellt, an. Obwohl der nun wieder praktizierende Arzt Diver sich vorerst leidenschaftlich seinen ihm anvertrauten Patienten, meist missratene Sprösslinge von schwerreichen Industrie-Dynastien, widmet, treibt ihn die Schwermut und Langeweile alsbald wieder in die Arme der leichtlebigen, fünfzehn Jahre jüngeren Schauspielerin Rosemary Hoyt.

elda Fitzgerald

Bild: Zelda Fitzgerald. / PD

In Italien kommen der vom Alkohol schon leicht gezeichnete Dick und die vom Erfolg verwöhnte Rosemary erneut zusammen. Sie lieben sich oberflächlich und der knapp vierzigjährige Psychiater Diver registriert, dass sich die Leidenschaft nach dem Liebesakt erschreckend schnell wieder in Luft aufgelöst hat.

Nach einer nächtlichen Schlägerei mit einem Polizisten in den Strassen einer Grossstadt von Italien kehrt Dick Diver ramponiert und angeschlagen wieder in die ruhigen Gefilde des Kantons Zug zu seiner Familie zurück.

Die sensible Ehefrau ahnt jedoch den Ehebruch und zieht sich vermehrt wieder in ihre autistische Welt zurück. Die triste Szenerie des Lebens bringt den von Lebensmüdigkeit geplagten Psychiater zum täglichen Trinken von Alkohol. Sein Geschäftspartner verlangt nach anfälligem Zögern den Ausstieg aus der Klinik und nach kurzem Überdenken zahlt die Familie den Freund aus und zieht wieder an die französische Côte d'Azur in ihre grossräumige Villa zurück.

Ehebruch und Trennung

Dick verfällt nun endgültig der Schwermut: Durch die bitter-bösen und zynischen Bemerkungen des angetrunkenen Doktors, verkrachen sich die Divers endgültig mit altgedienten Freunden und Bewunderern. Infolgedessen verliert das Bohemepaar zusehends an Sozialprestige. Die Divers sind an der Riviera durch das streitsüchtige Benehmen des Antihelden ganz plötzlich nicht mehr gern gesehene Gäste.

Doch je schlechter es Dick Diver, der nun endgültig aufgehört hat zu schreiben, geht, desto besser erholt sich seine Ehefrau von ihrem schlechten psychischen Zustand. Sie findet nach und nach wieder die Kraft, die Augen für die schönen Seiten des Lebens zu öffnen. Während ihr Mann das Techtelmechtel mit der Schauspielerin noch immer nicht ganz beendet hat, stürzt sie sich in eine pragmatische Affäre mit einem alten Verehrer von ihr, dem in der französischen Fremdenlegion dienenden Tommy Barban. Dieser sieht seine Chance durch den Zerfall von dem ehemals angesehenen Psychiater als gekommen und fordert Nicole Diver auf, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen und mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Ohne grosse Gegenwehr lässt Diver seine Frau und die zwei Kinder mit dem Söldner ziehen. Er reist zurück in die Vereinigten Staaten wo sich seine Spur verliert...

Abschliessend muss vielleicht noch darauf hingewiesen werden, dass dem Buch, welches 1932 veröffentlicht wurde, kein grosser Erfolg beschieden war. Die US-amerikanische Gesellschaft hatte, von der Wirtschaftskrise hart getroffen, andere Sorgen, als sich in einem Roman mit den Problemen und Nöten der amerikanischen Dekadenz auseinanderzusetzen.

Ricardo Tristano

F. Scott Fitzgerald: Zärtlich ist die Nacht. Roman. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Diogenes, Zürich 2007. 560 S., ca. 36.00 SFr, ISBN 978-3257236958