Yannick Haenel: Die bleichen Füchse In schlechter Gesellschaft
Belletristik
Ein Roman erzählt aus Perspektive eines auf die schiefe Bahn Geratenen von den Kämpfen der sans-papiers in Frankreich.


Verlorene Territorien in der Republik Frankreich - das Problemviertel Clichy-sous-Bois im Osten von Paris. Foto: Marianna (CC BY-SA 3.0 cropped)
Der Roman von Yannick Haenel „Die bleichen Füchse" stellt seinen Protagonisten vor, Jean Deichel, der seinen Job, die Wohnung und seinen Glauben an die Arbeit, das System sowie an die offizielle Politik verloren hat. Von nun an lebt er in einem Renault R 18, welcher an der Rue de Chine beim Friedhof Père Lachaise abgestellt ist, in seinem Lieblingsviertel natürlich. Es ergibt sich fast zwangsläufig, dass Jean Deichel mit Leuten in Kontakt gerät, die in der Bewegung um die sans-papiers aktiv sind. Sans Papiers nennt sich eine Bewegung, die sich aus Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis und Unterstützer_innen zusammenfand, um gegen die Illegalisierung zu kämpfen.
Es wird ausgiebig darüber gestritten, ob Marx oder Max Stirner recht gehabt habe, ob Houellebecq (der Skandalautor) überhaupt eine reale Person ist und man ist sich nur eines sicher: „Die Gesellschaft existiert nicht". Ob es sich bei diesem Graffiti, welches Deichel eher zufällig irgendwo in Paris entdeckte, um eine Abwandlung von Niklas Luhmanns bekannter Aussage handelt, dass die Gesellschaft keine Adresse habe, bleibt offen. Jedenfalls ist sie, die Gesellschaft, in schlechter Verfassung, es gibt in Frankreich und nicht nur dort Horrormeldungen über Selbstmordraten, Armut, korrupte Politiker, die ganze Palette eben.
Einige der Freund_innen Deichels haben ihre Papiere selbst verbrannt, obwohl sie über gültige französische verfügten. Nachdem zwei Brüder aus Mali auf der Flucht vor der Polizei in der Seine ertrinken (ein Vorfall der sich offensichtlich tatsächlich ereignete), setzt der Roman zu einem furiosen Finale an. Die Brüder selbst werden wie folgt beschrieben und stehen so für unzählige Migrant_innen:
„Bei ihrer ersten Ankunft in Frankreich hat man sie abgewiesen. Kaum in Roissy gelandet, wurden sie in ihr Land zurückgeschickt. Also versuchten sie es anders. Wie die meisten Migranten machten sie Bekanntschaft mit dem Schlepper der sie ausraubte, und der Nussschale, auf der sie nachts das Mittelmeer überquerten und die bestochene Zöllner bis nach Marseille oder die Insel Lampedusa treiben liessen, wo andere Grenzwächter − manchmal auch dieselben − sie erst einmal einsperrten. Dann wurden sie in einem Auffanglager geparkt, wo die Mafia ihre Sklaven rekrutiert.
Für eine schimmlige Matratze in einer verfallenen Hütte wanderten sie endlos an den Stränden auf und ab, um gefälschte Vuitton- oder Pradataschen abzusetzen. Frühmorgens werden sie brutal geweckt, wenn die Lastwagen mit der Ware uns einsammelt, um uns an den Küsten der Côte d`Azur, Liguriens, der Toscana oder Kampaniens zu verteilen“ (S. 150).
Bei einer Demo in Paris kommt es schliesslich zu den obligatorischen Krawallen, an denen sich allerdings auch die potenziellen Verbündeten aus den Banlieues beteiligen. Der Autor, der übrigens seine Jugend in verschiedenen Länder Afrikas verbracht hat, möchte einer Bewegung eine Stimme verleihen, deren Ausgang ungewiss ist. Die Dialoge und Szenen sind gekonnt daran angelehnt und vermeiden es, sich an ein anderes als ein linkes Spektrum zu richten. Der Front National, der sich in Frankreich schon länger zur drittstärksten politischen Partei entwickelt hat, bleibt aussen vor. Literatur darf das, eine Analyse nicht.
Yannick Haenel: Die bleichen Füchse. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014, 188 Seiten. 24 SFr, ISBN 978-3-498-03026-1
Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.
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