Rezension zum Buch von Vassilij Grossman Leben und Schicksal

Belletristik

Grossman entwirft in diesem Roman ein umfassendes Panorama der Kämpfe um Stalingrad. Sein 1080 Seiten-Roman geschrieben in den Jahren bis 1960, ist erst jetzt ungekürzt in neuer Übersetzung herausgekommen.

Der russische Regisseur Fedor Bondarchuk beim Filmdreh zu Stalingrad.
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Der russische Regisseur Fedor Bondarchuk beim Filmdreh zu Stalingrad. Foto: Art Pictures Studio (CC BY-SA 3.0 cropped)

2. Juni 2016
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Korrektur
Ich habe Stalingrad einmal synchron und viermal literarisch erlebt. Das erste Mal wohl im Oktober 42 im Völkischen Beobachter mit der Botschaft: Stalingrad erobert. Soweit ich mich richtig erinnere: die Überschrift, zum ersten Mal in grossen roten Buchstaben. Im Nachrichtentext darunter etwas bescheidener: am Rande der Wolga hielten sich versprengte “bolschewistische” Reste, völlig unbedeutend. Tenor sonst: also wir haben gesiegt. Der Krieg ist bald aus. Bald darauf - unter vielen Hüllwörtern - es war nichts mit dem baldigen Sieg. Stalingrad eingekesselt.

In den folgenden Monaten sickerten Nachrichten durch über den massenhaften Tod mehr durch Hunger und Kälte als durch die feindlichen Soldaten. Schliesslich das Ende: Kapitulation. Abmarsch. Stalingrad wurde zum Wort, das allen Schrecken der Welt enthielt, bis es durch Auschwitz ersetzt wurde. In Ministranten- und Beichtkinderköpfen durchaus mit dem Bild der Höllenstrafen vermengt. Stalingrad blieb von deutscher Seite bis 1945 so undarstellbar, unvorstellbar wie später für lange Zeit Auschwitz. Es war gegenwärtig in der Sorge um, die Erinnerung an die tausende von Vermissten, auf die jahrelang gewartet wurde. Post von russischen Kriegsgefangenen durfte es ja von der deutschen Führung her nicht geben. Das Schicksal der Gefangenschaft sollte schlimmer dastehen als der Tod.

Das erste Buch, das nach dem Krieg herauskam, wenn ich mich recht erinnere, noch in Rowohlts Fledder-Zeitungs-Format (Vorläufer der Taschenbücher): Plieviers Reportageroman Stalingrad. Plievier, emigriert in die SU, dann wohl mit Weinert und anderen bei der Propaganda-Kompanie, hatte über Interviews mit Kriegsgefangenen ein sehr präzises Bild gewonnen vom langsamen Sterben einer ganzen Armee. Am eindrücklichsten seine Schilderung der vernichtenden Wirkung von Hunger und Kälte. Ein Offizier, der sich die abgefrorenen Zehen aus dem Stiefel schüttelt - er empfindet keinerlei Schmerz. Merkt die Erfrierung überhaupt erst am Abend. Riesige Behelfslazarette auf Betonboden - eine Bahre neben der anderen. Operationen fast ohne Betäubungsmittel. Am Ende die Verletzten auf einem zugigen Korridor nebeneinander gebettet - zum schnelleren Erfrieren. Das Gerangel ums Fleisch erfrorener Pferde. Ein Offizier, der in den Katakomben unter dem Kaufhaus sich verkrochen hat. Er klaut anderen das Essen. Die Feldpolizei überlässt es ihm, sich selbst eine Kugel in den Schädel zu knallen. Tut er es wirklich? Ich weiss nicht mehr.

In den oberen Rängen laut Plievier nur dumpfes Abwarten, totale Lähmung durch Hitlers Verbot erst des Durchbruchversuchs, später der Kapitulation. Am Ende die kläglichen Verhandlungsversuche des frischgebackenen Feldmarschalls Paulus: er kapituliert nur für die eigene Person. Und was darf er an gehorteten Lebensmitteln mitnehmen? Letztes Gespräch mit dem Dolmetscher im Wagen, der ihn zum russischen Hauptquartier ”zum Tee” abholt. Wie heissen denn die kleinen Kräutlein, die überall am Wegrand wachsen? (Von Grossman später aufgenommen: da fragt Paulus, der abhängige Raucher, was Machorka eigentlich bedeutet.) Gesamteindruck: es gab keine Helden in Stalingrad, auch keine Verbrecher, nur die Opfer eines sinnlosen Durchhaltebefehls.

Lange Sendepause. Dann kam Konsalik, der Betreiber einer ganzen Fabrik von Kriegsbüchern, vorwiegend aus Russland. Sein “Arzt von Stalingrad” in den fünfziger Jahren schildert die Zeit nach der Niederlage in einem russischen Lazarett. Der edle deutsche Oberarzt vollbringt Wunderoperationen mit nichts als einem Taschenmesser. Die zunächst gehässigen später bewundernden russischen Kollegen und Kolleginnen werden niedergezwungen: gegen deutsche Kraft, Findigkeit und Durchhaltewillen kommt kein Russe je auf. Konsalik spendiert dafür aber Frauen, die bei Plievier keinen Platz fanden. So sehr sie hinter dem deutschen Mann her sind: allesamt sind sie doch nur Schwestern des gefährlichen Flintenweibs, das alle Landser noch Jahrzehnte später ins wollüstige Gruseln trieb. (In einem in den sechziger Jahren erschienenen zweiten Roman Konsaliks, der die Kämpfe um Stalingrad selbst schilderte, kommen die Russen auf einmal zu grösseren Ehren. Auch sie sind arme Schweine aus Bunkern und Kellern, wie die Deutschen Opfer der Kriegstreiber Hitler und Stalin. Dafür kann keiner was, aber jeder tut verbissen seine Pflicht.)

Der junge Alexander Kluge bot in Schlachtbeschreibung dann eine dritte Version: es ging darin wesentlich um die Unmöglichkeit, im Hauptquartier mit sprachlichen Mitteln das begreiflich zu machen, was sich viel tausend Kilometer entfernt, leibhaft ins Fleisch frass.

Nun Grossman aus russischer Sicht. Sein 1080 Seiten-Roman geschrieben in den Jahren bis 1960, ist erst jetzt ungekürzt in neuer Übersetzung herausgekommen. Es handelt sich um einen zweiten Teil, beginnend mit der Vorbereitung des Umschwungs der Kriegslage: durch die russische Gegenoffensive gegen Paulus in Stalingrad. Der erste Teil ist - dem Nachwort nach - noch zu Stalins Lebzeiten erschienen, mit entsprechenden Abzwackungen durch die Zensur. Der jetzt vorliegende zweite Teil konnte auch in Chruschtschows “Tauwetter” nicht herausgebracht werden. Der KGB tat zwar dem Autor nichts, aber beschlagnahmte vom Roman alles, samt Schmierzetteln, Entwürfen, Farbbändern. Trotzdem blieb ein einziges Exemplar des Manuskripts bei einem Freund erhalten.

Wassili Grossman entfaltet in seinem “Leben und Schicksal” ein Riesengemälde. Sämtliche Rezensionen verweisen auf das grosse Vorbild: Tolstoj mit seinem “Krieg und Frieden.” Damals der vaterländische Krieg gegen Napoleons Invasion. Heute der gegen Hitler. Mit Tolstoj teilt der Verfasser die ungeheure Vielzahl der Personen. Für deutsche Leser kommt erschwerend hinzu, dass die russischen Vaternamen oft abwechselnd gebraucht werden mit den eigentlichen Nachnamen. Und dann noch zusätzlich familiäre Abkürzungen. Oft weiss man beim besten Willen nicht mehr, wer wer ist. Insofern fällt die Wiedergabe eines einheitlichen Handlungsstrangs schwer.

Jedenfalls gibt es die Grossfamilie Schaposchnikow, zum Teil jüdischer Herkunft. Mit Frauen unter ihnen, die in der Kraft des Festhaltens und Ausharrens Gorkis "Mutter" nahekommen. Prominentester der Familie: Viktor Pawlowitsch Strum, grosser Physiker mit praktischen und theoretischen Ambitionen. Von daher ein langes Kapitel über die Behinderungen der Wissenschaft unter Stalin, offenbar nicht ohne Anregung durch Solschenizyns “Im ersten Kreis der Hölle”, in dem ebenfalls das Wissenschaftlermilieu der fünfziger Jahre ausgebreitet wird, freilich unter Strafgefangenen.

Dieser zivilen Familie stehen die Offiziersgruppen gegenüber - vor allem Kommissar Krymow, erst der linientreuste der Treuen, schliesslich unmittelbar nach dem Sieg in Stalingrad ohne weitere Erklärung vom Geheimdienst gefangengenommen. Mit offenem Ende. Hinzutreten Offiziere, vom General abwärts, aber auch viele einfache Soldaten, die in Stalingrad in fast aussichtsloser Lage ein einzelnes Haus verteidigen. Russische Kommunisten im Deutschen Konzentrationslager treten auf.

Innerhalb der weiten Gebiete nimmt Stalingrad einen eher kleinen Raum ein. Grossman erzählt von der russischen Seite her. Zunächst von den in den Uferrand gekrallten letzten russischen Verteidigern, als die Deutschen angriffen - dann aus der Sicht von Scharfschützen und Häuserkämpfern, die sich durch ein Dickicht aus Ruinen schlagen.

Das Auffälligste: Von Plieviers und Konsaliks hautnaher Schilderung der unerträglichen Kälte, des beissenden Hungers findet sich kaum etwas. Und das nicht etwa, weil es das auf russischer Seite nicht gegeben hätte. Es entspräche offenbar nicht der Perspektive des künftigen Siegers, die hier vorweggenommen wird. Etwa auf Seite 38: Die Deutschen haben von der Steilküste her brennendes Öl auf die ausharrenden Russen geschüttet.

"Das brennende Öl verteilte sich flach auf dem Wasser der Wolga, rauchte und krümmte sich, von der Strömung erfasst. Das Erstaunliche war, dass viele Kämpfer schon in diesen Minuten wussten, wie man sich zum Wasser durchschlagen konnte. Sie schrien: 'Hierher, renn hierher, auf dem Pfad gehts lang!' Einige waren schon mehrmals zwischen den in Flammen stehenden Unterständen hin und her gerannt, um den Stabsleuten dabei zu helfen, einen Vorsprung auf dem Ufer zu erreichen, wo ein Häuflein Geretteter zwischen den sich in die Wolga wälzenden Ölströmen stand. (...) Bis zum Morgen standen die Stabsangehörigen der 62. Armee auf diesem kleinen Vorsprung direkt in der Wolga. Das Gesicht vor der glühenden Luft schützend, sich die Funken aus der Kleidung schüttelnd, beobachteten sie ihren Armeeoberbefehlshaber. Er trug die Uniform der Roten Armee und einen Soldatenumhang, unter der Fellmütze hervor fielen ihm die Haare in die Stirn. Sein Blick war düster, aber er schien ruhig und gefasst." (S. 38)

Man sieht förmlich das grosse Ölgemälde vor sich: im Stil des "Sozialistischen Realismus", eigentlich eines Klassizismus, wie ihn schon Napoleon für seine Gemälde befahl. Der rotumglühte Held auf der Walstatt, im Widerschein der Glut, aber feldherrlich gefasst. Schluss-Satz des Kapitels: "In dieser Nacht kamen vierzig Stabsführer in den zerstörten Unterständen im Feuer um." (S.44)

Lakonismus, der die Opfer zählt, aber nur die überlebenden Sieger nennt und ihnen mit den Blicken folgt. Grossman - von sich selbst sprechend - behauptet, er habe im Zusammenarbeiten, Zusammenleben, Zusammenkämpfen des Krieges etwas von der Zeit Lenins wiedergefunden. Und der Autor war durchaus in der Lage, sich als Augen-und Ohrenzeuge dieser Tage zu erinnern.

Wie und wo soll gerade die äusserste Anspannung des Krieges dieses Wiedererwachen von kollektiver Selbsttätigkeit ermöglicht haben? Zu finden etwa in dem isolierten Haus mitten in Stalingrad, bis zum letzten vergeblich verteidigt gegen die Deutschen. Man hört zuerst aus dem Mund der Vorgesetzten Missbilligung der dort herrschenden Zustände. Erstens lassen sie sieh vom Oberkommando absolut nichts sagen. Zum andern duzen die einfachen Soldaten ihren Kommandeur, der mitten unter ihnen schläft, Sardine unter Sardinen, eng aneinandergepresst. Nach einer ersten Meldung kein russisches Gefechtsbataillon, sondern die Kommune von Paris. Was in jenen Jahren offenbar kein Lob mehr war. Kommissar Krymow wird hingeschickt, um nach dem Rechten zu sehen. In der ersten Nacht schon angeschossen - von wem? Etwa den eigenen Leuten, die keine störende Aufsicht wollen - das bleibt offen.

Das Zusammenleben in dem isolierten Haus ist einmal bestimmt durch das fraglose Zusammenleben aller Völker und Stämme der Sowjetunion. Zum anderen - am verblüffendsten - durch die Ungerührtheit der Soldaten, die unterm heftigsten Beschuss, in der Deckung der Brücke, sich in ein Buch vertiefen oder einer kompliziert verlöteten Konservenbüchse zu Leibe rücken. Schliesslich, immer wieder vom Autor gerühmt, die erfinderische Selbstverständlichkeit, in der sie mit allen Mitteln ohne auf den Befehl zu warten sich dem Dauerangriff widersetzen.

Da werden nebenbei im Keller Durchbrüche gesprengt, Schleichwege erkundet, Waffen mit abenteuerlichen Mitteln repariert - liebevoll kommentiert von Grossman, es werde das Kriegshandwerk hier betrieben mit der geruhsamen Umsicht, wie so ein Muschik abendlich die Sense dengelt oder einen Zweig hochbindet. Dies Rückgreifen auf die Zeit Lenins gleicht einem Fünklein-Sammeln, nachdem die Glut schon bedenklich flackert. Es sind Reste aufzuklauben, zu konservieren. Verblüffend allerdings, dass dieser Rückgriff auf Lenin, der doch internationalistisch dachte, sich verknotet mit Grossmans Beteuerungen, es habe Stalins Werk 1943 eine neue Epoche erreicht: nun seien die Reste des Vorkriegssozialismus - gemeint: dessen vor 1914 - abzustreifen zu etwas, in dem der weite nationale Atem wehte.

Feine Hinweise vermerken das im Schicksal des am Ende vom Geheimdienst erfassten Krymow. War er als Kommissar nicht in China, in Spanien, bei den deutschen Kommunisten dabei? Mit dem allem - Kosmopolitismus - muss es jetzt ein Ende haben. Damit fügt sich Grossman ohne Widerspruch in Stalins Umdeutung des Kriegs gegen die Nationalsozialisten zum "Grossen Vaterländischen Krieg". Die Beschwörung des Vaterlands, des "Ewigen Russland" ermöglicht Grossman die liebevolle Versenkung in jede Einzelheit dessen, was er für einheitlich russisch hält.

Alles ist ihm Volksleben - die Säuerung des Joghurt wie die Präzisionsarbeit des Scharfschützen. Als lebendige Volkstätigkeit kommt ihm das Verhalten der Rotarmisten im Bürgerkrieg vor - wie das der Verteidiger nicht nur Stalingrads, sondern aller Bewohner des weiten Landes, die zum Beispiel durch Rationierung, durch Evakuiertwerden, durch das Warten der Frauen auf Nachricht am Krieg wohl oder übel teilhaben.

Es ist gewiss eine Welt zum Einnisten, zum Ansiedeln, die Grossman ausbreitet, genau wie er es Tschechow in einem langen Literaturgespräch nachrühmt. Nur dass die Grundlagen seit der Zeit Tschechows sich verändert haben. Für uns - bald fünfzig Jahre nach der Abfassung des Romans - erweist sich die Berufung auf Nation statt auf Sozialismus ausserordentlich gefährlich. Weil die Sowjetunion ja keineswegs auf eine einzige Nationalität sich gründete. Was sich in den neunziger Jahren zeigte, der Zerfall der Union nach den kleinen und kleinsten Nationalitäten, erweist sich nicht etwa als etwas, das in einem Putsch Chruschtows seinen Ursprung genommen hätte (wie die Genossen von KPD/ Rote Fahne immer meinten), sondern als Frucht genau der Hinwendung Stalins zum "Vaterländischen". Und gerade daran übt Grossman keinerlei Kritik.

Verhalten wendet er sich zwar gegen die Willkürherrschaft, die überfallartigen Verhaftungen, die nur zum Schein nach individueller Verfehlung suchen, in Wirklichkeit aber - so Grossman - der notwendigen Reinigung vom Sozialismus der ersten Generation dienen. Als solche nimmt Grossman sie hin, ohne zu einer Verurteilung mit der Stärke eines Solschenizyn zu gelangen.

Als der grosse Wissenschaftler Strum eine Theorie entwickelt, die die Lehre von den Feldern und den Dimensionen eines Planck und anderer noch einmal entwickelte, da wird dieser schnell angefeindet im Institut. Ist das noch materialistisch? Und ehe man es sich versieht, wird das abstrakte Denken als "Talmudistisch" hingestellt, und Strum erfährt die Gewalt eines latenten Antisemitismus, der sich freilich erst jetzt, in der angeblich neuen nationalen Epoche nach 1943 hervorwagt. Bisher war es nach Grossman - selbst der Herkunft nach Jude - eher ein Bonuspunkt gewesen, Jude zu sein wie so viele Bolschewiken der ersten Generation. Der grosse Gelehrte weigert sich, die landesübliche Selbstkritik zu erbringen. Er hockt daheim herum. Schon macht sich die Familie Sorgen um den Unterhalt.

Da - Grossmans ironische Pointe - klingelt das Telefon und eine nur zu bekannte rauchige Stimme ruft Strum Mut zu. Die Stalins. Offenbar hatte der etwas läuten hören von den höchst praktischen Verwendungsmöglichkeiten, an denen ähnlich denkende Wissenschaftler in den USA arbeiteten. Sofort ist aus schwarz wieder weiss geworden. Alles scharwenzelt um den Rehabilitierten herum.

Molière hatte das Mittel in seinem "Tartuffe" eingesetzt, Lessing in der "Minna von Barnhelm" - schon scheint alles verloren, da greift der höchste Herrscher ein und macht das Krumme gerade. Schon Mehring machte darauf aufmerksam, dass es wohl von Lessing nicht als rückhaltloses Lob der Hohenzollerndynastie gemeint war, wenn nur durch das Unwahrscheinlichste - ein Wunder - der böse und normale Lauf der Welt noch einmal umgelenkt werden konnte. So wohl auch bei Grossman. Bekannt sind tatsächlich blitzartige Eingriffe Stalins von oben in Massnahmen, die er selbst angeordnet oder mindestens zu verantworten hatte. So im Fall des Dichters Mandelstam, den ihm Fachleute als "einmaligen Spezialisten" für Lyrik angepriesen hatten. Nur können sie nicht das Gesamtgemälde ändern.

Es gibt eigentlich keine grossen russischen Nur-Philosophen - solche wie Kant oder Hegel. Dafür stecken alle russischen Romane voller philosophischer Gespräche. Die berühmten nächtelangen Diskussionen, die seitenlangen Darlegungen. Auch darin macht Grossman keine Ausnahme. Am bekanntesten geworden ist das "Gespräch" des russischen Kommunisten Mostowskoi mit dem SS-Lagerkommandanten Liss. Dieser schreibt eine gelehrte Untersuchung über das bolschewistische Führerprinzip. Tatsächlich gab es in NS- Kreisen, je härter die Russen den Deutschen aufs Haupt schlugen, eine gewisse Bewunderung für Stalin, der schlankweg zum Führer uminterpretiert wurde.

So wertet Goebbels etwa in einem Tagebucheintrag 1944 Mussolini ab - durch ein frühes Verhältnis zu einer Jüdin korrumpiert - kein echter Revolutionär wie "Hitler oder Stalin". Der SS-Forscher raunt etwas von der geheimen Identität des russischen und des deutschen Systems, mit nicht ganz verstandenen Anleihen bei Carl Schmitt, der seine Freund-Feind-Theorie später etwas verfeinerte zu "Der Feind ist meine eigene Gestalt als Frage". Littell hat in seinen "Wohlgesinnten" dieses Gespräch auf seine Weise geschluckt und wiedergekäut. Bei ihm läuft es dann endgültig auf die bekannte Trivialität hinaus: Rasse = Klasse. Kulakenvernichtung = Judenverfolgung. Es macht den Rang von Grossmans Erfindung aus, dass bei ihm von diesem Unsinn sich nichts findet. Noch mehr ein ausschlaggebendes Detail: der Russe schweigt. Er weigert sich schon dadurch, sich mit dem SS-Mann auf eine Stufe zu stellen. (Vermutlich eine Anlehnung an Dostojewskis Legende vom Grossinquisitor. Dort freilich schweigt Jesus aus ganz anderen Gründen.)

Grossman hatte zweifellos den Ehrgeiz, in seinem Riesenwerk ein zusammenhängendes Bild der ganzen Epoche zu geben. Der Zusammenhang ist für den deutschen Leser schwerer zu erfassen als vielleicht für den russischen. Für uns enthält das Buch unzählige Einzelgeschichten, locker verbunden, nicht immer im Spiel von Vorankündigung und rückgreifender Anspielung zu erfassen. Eine der eindrücklichsten Miniaturen etwa - der letzte Brief der alten Mutter an ihren Sohn, den Gelehrten Strum - fällt ganz aus dem Zusammenhang und bleibt doch unvergesslich. Es ist der Brief einer alten jüdischen Frau, die von der deutschen Invasion überrollt wurde und nun die Einweisung ins Ghetto erlebt, den letzten Weg zur Erschiessung voraussieht. (Im Anhang sind zwei Briefe Grossmans abgedruckt, an seine tote Mutter, die ein ähnliches Schicksal erlitt.)

Wie genau diese Frau in ihren letzten Tagen die Mitlebenden und sie wohl überlebenden Menschen ins Auge fasst und - trotz allem - ins Herz schliesst! Sie misst einem jeden sein Urteil zu, wie eine Mutter den Kindern die Scheiben des Frühstücksbrots. Den einen, die als Ukrainer auf die Seite der Deutschen treten und auf einmal Judenhass aus ihrer Seele ziehen - den anderen, die von ihrer eigenen Armut noch ein Stück welke Gelbrübe übrig haben und hergeben. Gross ist das Buch in solchem ruhigen Verweilen auf dem Menschenlos, streckenweise fast homerisch. Schwankend freilich in seiner Interpretation des Geschehens und der Politik.

Fritz Güde
kritisch-lesen.de

Vassilij Grossman: Leben und Schicksal. Neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur 1938-1945. Claasen Verlag, Berlin 2008. 1056 Seiten, ca. 29 SFr, ISBN 978-3-546-00415-2