Perihan Magden: Ali und Ramazan So sehr, wie es nur geht

Belletristik

„Ali und Ramazan“ ist eine Liebesgeschichte, die fernab jeder Schnulze daher kommt.

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Blick auf Istanbul. Foto: As2431 (PD)

4. August 2019
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In klarer aber reicher Sprache erzählt die Autorin Perihan Mağden darin die Geschichte der zwei Jungs Ali und Ramazan, die in einem Waisenhaus aufwachsen und sich dort ineinander verlieben und so die Zumutungen, mit denen sie konfrontiert werden, überstehen – bis es nicht mehr weitergeht.

Neben einer einfühlsamen, vor Freude und Traurigkeit zu Tränen rührenden Liebesgeschichte, die sich an einer wahren Begebenheit orientiert, fundiert der Roman literarisch die aktuellen wissenschaftlichen Debatten, die sich mit der ökonomischen Ausgrenzung von Menschen und der Zementierung menschlichen Miteinanders zu starren Identitäten befassen. Im Jahr 2010 wurde „Ali und Ramazan“ zum Buch des Jahres in der Türkei gewählt.

Ali-und-Ramazans Ali und Ramazan

„Ali lacht über Ramazans lustige Stichelein und entblösst zwei Zahnreihen, die inmitten seines dunklen Teints wie Perlen schimmern. Ramazans Interesse hat etwas an sich, das Alis Wunden guttut. Es fühlt sich an, als würde über die Verbrennungen in seinem Inneren ein Eimer Wasser ausgeschüttet. Als würde über das Frösteln in seinem Inneren eine Daunendecke gebreitet. Ramazan tut Ali gut. Wie man das nennt, was da mit ihm passiert, das weiss er nicht. Er verliebt sich. Hals über Kopf verliebt Ali sich. So sehr, wie es nur geht.“ (S.22/23)

Dabei ist das gar nicht so leicht, da der körperlich viel kleinere Ramazan, der im Murmeln grosse Klasse ist, Ali mit allerlei Neckereien aufzieht, ab dem ersten Moment, in dem Ali das Waisenhaus betritt. „Fellache“ und „Reifenschlauch“ wird er von Ramazan genannt. Ali geniesst diese Aufmerksamkeit, gutmütig und von krassen Erfahrungen geprägt. Aus Sticheleien wird Liebe – von beiden Seiten, mit innigem Verlangen nacheinander und mit Sex.

Ramazan bekommt neue Turnschuhe – Zuneigung des Direktors. Ali hat hingegen zu putzen. All das was die Angestellten im Waisenhaus nicht erledigen – und das ist bei Sauberkeit beinahe alles – wird Arbeit für Ali. Und der erledigt sie, mag er doch die Sauberkeit. Und so vergeht die Zeit rasch – sieben schnell vergehende Jahre. Zeit, die schnell vergeht, ist gute Zeit.

Sex ist zwischen Ali und Ramazan auch, aber er macht ihr Begehren nacheinander nicht aus. Vielmehr ist alles Sex um sie herum – und insbesondere betrifft er Ramazan. Menschen, die aus einem Waisenhaus kommen, bekommen keine Chance. Sie kampieren oder ficken sich zu einer Wohnung hoch, wie Ramazan. Oder sie sind mal mehr und mal weniger abhängig vom Schnüffeln, wie Ali. Von Polizisten werden sie drangsaliert.

Ramazan fickt aktiv, wenn man ihn als Stricher aufliest. Selten bläst er auch einen, wenn das Geld stimmt. Leute, die ihn nachfragen, gibt es viele – gutbürgerlich, Familienväter, mal steht auch noch die gewärmte Milchflasche des Nachwuchses auf dem Tisch. Das ekelt Ramazan an – und er versucht seine Grenzen zu verteidigen. Er wird nicht gefickt und hier beginnt die Katastrophe. Und Ali soll keinen Sex mit anderen Männern haben. Das ist klar! Nur blöd, wenn ihn wegen seiner guten und ehrlichen Augen niemand auf dem Markt einstellt.

Wer liegt oben?

Über einige Menschen wird verfügt. Ali und Ramazan haben schon deshalb keine Chance, weil sie in einem Waisenhaus gross werden. Danach finden sie kaum eine Anstellung – aber sie sind beide schön. Und Verlangen gibt es viel. Es kann Frauen und Männer betreffen, es kann auch Spass machen, es kann auch dazu führen, dass das ersehnte Geld auf dem Konto wächst und eine bessere Zukunft verspricht. Perihan Mağden stellt ihrem Buch voran:

„Leute, die über Revolution reden, oder über Klassenkampf, ohne sich dabei explizit auf das alltägliche Leben zu beziehen, die nicht verstehen, was subversiv an der Liebe ist und was positiv ist an der Zurückweisung von Beschränkungen, solche Leute haben eine Leiche in ihrem Mund.“

Mağden verweist so auf sehr notwendige und grundlegende Veränderungen, die dazu führen, dass Menschen nicht mehr die vom System Gefickten sind. Dabei ist nicht ein abstraktes System gemeint, sondern wohlhabende Menschen – hier Schwule –, die der Meinung sind, sich alles kaufen zu können. Alles sei eine Frage des Preises. Und nimmt man Menschen auch noch den letzten Halt, beispielweise eine vernünftige Sozialhilfe, oder erschwert den Zugang zu ihr so, dass Menschen tatsächlich genötigt werden, alles über sich ergehen zu lassen, lassen diese Menschen tatsächlich vieles mit sich machen. Bis es reicht.

Jennifer Petzen hatte dieses Ausgeliefertsein von Menschen in anderem Zusammenhang plastisch benannt: „Wer liegt oben?“ Übertragen heisst es: Auch wenn Ramazan aktiv fickt und selbst wenn Cem Yildiz in seinem autobiographisch geprägtem Roman „Fucking Germany“ beschreibt, dass er ficken soll oder von ihm auch mal Härteres verlangt wird, so bestimmt das Gegenüber, nämlich der, der den Fick oder auch das Härtere beauftragt und dafür bezahlt.

Und damit gelangt man zum Kern des eigentlichen Problems. Wie Michel Foucault und Georg Klauda exzellent herausgearbeitet haben, sind Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Sex zu unterscheiden. Homosexualität thematisiert nicht das Miteinander von Menschen, innig oder auch bei einer schnellen Nummer. Vielmehr ist Homosexualität ein medizinisch geprägtes europäisches Konstrukt, mit dem gleichzeitig Homophobie einherging. In anderen geographischen Regionen wurde es nur in dem Zusammenhang bekannt, dass Kolonialherren damit gleichgeschlechtlichen Sex unter Strafe stellten und dass westliche Schwule heute in Kolonialmanier der Auffassung sind, sich in armen Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit die Söhne klar machen zu können. Das „Klar machen“ auf Grund von Geld geht auch im eigenen Land, wenn es dort nur Menschen gibt, die ausreichend arm gehalten werden…

„Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du nur Liebe gegen ¬Liebe tauschen, Vertrauen nur gegen -Vertrauen“. (Karl Marx)

Fazit

Abseits einer wunderbaren Geschichte, die einfühlsam erzählt wird und man so das Buch nicht mehr aus der Hand legen will, bietet „Ali und Ramazan“ einen guten, einen literarischen Zugang zu den aktuellen wissenschaftlichen Debatten, die häufig unter dem Stichwort Intersektionalität firmieren, aber doch nur meinen, dass es eben auch die gutbürgerlichen Schwulen gibt, die Teil des Problems sind und nicht Teil der Lösung.

Heinz-Jürgen Voss
kritisch-lesen.de

Perihan Magden: Ali und Ramazan. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 191 Seiten, ca. 17.00 SFr, ISBN 3518462865

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