Vom Leben und Sterben in Rumänien Noptesch - Ein packender sozial-politischer Roman zu Rumänien
Belletristik
Martin Veith ist bekannt durch seine Forschungsarbeiten über die Arbeiterbewegung und den Anarchismus in Rumänien.

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Buchcover. Foto: (GNU Free Documentation License v1.2)
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Martin Veith hat dort einige Jahre gelebt und berichtet gewohnt einfühlsam und gut verständlich vom meist harten Lebensalltag und den zahlreichen Ungerechtigkeiten. Dem Buch hat er eine Warnung vorangestellt. Denn in den Geschichten wird über verschiedene Formen schwerer Gewalt berichtet, die er für die Leser so anschaulich darstellt, als ob man dabei wäre.
Diese Darstellungen haben bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die beschriebenen zahllosen Ungerechtigkeiten in Familien, unter Nachbarn und durch Behörden zeigen eine Ellenbogengesellschaft, in der es den meisten der dargestellten Menschen um Machtbesitz und Ausübung in ihren vielfältigen Ausformungen, Geld und Besitz geht. Deutlich kommt zum Vorschein, dass der einzelne Mensch, gilt er als „schwach“ und „einflusslos“ nicht respektiert wird. Er ist konfrontiert mit einer Vielzahl und Vielfalt an Herausforderungen in unterschiedlichsten Dimensionen. Meistens kommen sie zusammen oder in kurzer Abfolge nacheinander. Menschen werden zur Verzweiflung getrieben und sind allermeistens auf sich allein gestellt. Wer sich behauptet, lebt mit Narben und Traumas und muss sich immer wieder den gemachten schlimmen Erfahrungen stellen. Nur selten erlebt man solidarisches miteinander. Ein Beispiel dafür ist für mich die Geschichte „Als die Fabrik schloss.“ Einem in Ungarn überfallenen rumänischen Arbeiter, der einen Gedächtnisverlust erleidet, helfen lokale Menschen. Ein Tagelöhner und ein Lehrer. Sie sind es auch, die ihn in ihrem uneigennützigen Zusammenspiel wieder so stabilisieren können, dass Erinnerungen wiederkehren und er den Weg zurück in seine Heimatgemeinde antritt. Was ihn dort erwartet ist eine weitere Hölle.
Die Geschichten führen uns durch verschiedene Jahrzehnte und politische Systeme Rumäniens bis heute. Realitäten in der Monarchie, die Verfolgung der Arbeiterbewegung, die faschistische Diktatur Antonescus, der Antisemitismus, die Pogrome gegen Juden, die darauffolgende Volksrepublik und der „Sozialismus“ werden kenntnisreich dargestellt und vermitteln dabei wichtiges Hintergrundwissen zum Land und seiner Geschichte. Beeindruckend sind aber alle Geschichten, die in ihrer Mehrheit von den Schicksalen von Frauen und Mädchen berichten und diese in den gesellschaftlichen Kontext einbetten.
Elisa, Lavinia und Lenuta sind so scharf gezeichnet, das man denkt, diesen jeden Augenblick selbst begegnen zu können. Etwas, das mir gefallen würde, auch wenn der Weg ins Waisenheim oder die Migration führt. Und ganz im Gegensatz zu den ebenso scharf gezeichneten Charakteren Elena, Emil oder der Geheimdienstfamilie Pilates. Realistisch und facettenreich entstehen konkrete Bilder vor dem geistigen Auge. Widergegebene Gedanken und Entscheidungen der Charaktere - so äussert sich der Autor an einer Stelle über die in lebensbedrohliche Ereignisse hineingerissene Lenuta: „Es war dieser erwachte Kampfeswille in ihr, der verhinderte, dass sie sich aufgab und von der Trauer zur Passivität verdammen liess“ - wirken nach.
Martin Veith hat einen beeindruckenden, tiefsinnigen und gut lesbaren Roman vorgelegt, der zu keinem Zeitpunkt langweilig wird. Im Gegenteil konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Wenn der Inhalt auch teils erschütternd ist, weht ein Geist von Freiheit, Anarchie und Widerstand durch ihn und verheisst die Möglichkeit auf ein besseres Leben. Nichts muss so bleiben wie es ist.
Catalina Fonaghi
Martin Veith: NOPTESCH – Noapteș. Vom Leben und Sterben in Rumänien. Erzählungen aus dem Alltag. Verlag Edition AV, 2025. 420 Seiten. ca. 24.00 SFr. ISBN 978-3-86841-145-4.


