Rezension zum Buch Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels

Belletristik

„Die Entdeckung des Himmels“ gilt als Harry Mulischs bestes und vielseitigstes Buch und setzt sich mit vielen „Themen unserer Zeit“ kritisch auseinander.

Der Autor Harry Mulisch in Amsterdam, 9. März 2010.
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Der Autor Harry Mulisch in Amsterdam, 9. März 2010. Foto: Mauritsvink (PD)

23. Mai 2016
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Korrektur
Harry Mulisch, der im Oktober 2010 verstarb, gehörte zu jenen Autoren, die in vielen ihrer Werke auch immer biographische Momente durchblitzen liessen. Freilich liegt dies vielen Schriftsteller_innen nicht fern, aber nur einige haben eine so von Gegensätzen gezeichnete Familiengeschichte, die dazu auch noch die jüngste europäische Geschichte in sich trägt. Er selbst behauptete von sich: „Ich bin der Zweite Weltkrieg.“ (FAZ, 31.10.2010) Gemeint ist damit, dass Mulisch als Ergebnis der Ehe einer jüdischen Bankierstochter aus Frankfurt und eines ehemaligen österreichischen Offiziers 1927 in eine Welt hineingeboren wurde, die schon wenig später die „europäische Katastrophe“ und somit den Konfliktstoff vieler seiner Werke offenbarte.

Als „Arisierer“ jüdischen Vermögens stellte Mulischs Vater die Täterseite während der deutschen Besatzung der Niederlande dar. Auf der anderen Seite konnte er aus seiner privilegierten Stellung dafür sorgen, dass der junge Harry und seine Mutter, von der er sich bereits 1936 scheiden liess, überleben konnten. Diese Ambivalenz und Differenziertheit der Personen spielen in Mulischs Werken eine besondere Rolle. Niemand ist eindimensional und alle entwicklungsfähig.

Besonders bei einem der Hauptprotagonisten, Max, lassen sich diese biographischen Parallelen zum Autor bereits im ersten Teil des Buches erschliessen. Max' Vater war ehemaliger österreichischer Offizier und später verurteilter Kriegsverbrecher, die Mutter Jüdin. Anders als im echten Leben rettete der Vater die Mutter nicht, sondern denunzierte sie bei den Deutschen, so dass sie verhaftet, in ein Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurde. Max beschäftigt sich nur widerwillig mit dem, was zwischen seinen Eltern passiert ist. Er ist innerlich zerrissen und hat Angst vor der Wahrheit. Das ist nur einer - wenn auch wichtiger - der Konflikte, die im Buch stets sehr präsent sind.

„Die Entdeckung des Himmels“ ist, mit seinen fast 900 Seiten, nicht nur Harry Mulischs quantitativ längstes Buch, sondern auch sein detailliertestes und an Wendungen und Schicksalsschlägen reichstes. Die zwei Ebenen der Handlung offenbaren auch Mulischs Interesse für Mystik und religiöse Traditionen. Zwei Engel im Himmel lenken die Geschicke der beiden Freunde Onno Quist und Max Delius, die scheinbar ihr Leben fest in ihren eigenen Händen haben. Das Ziel dieser Engel ist es, den Bund zwischen Menschen und Gott, der durch die Übergabe der Gebotstafeln durch Mose entstanden ist, zu zerstören.

Die Erzählung beginnt mit dem Kennenlernen der beiden Hauptfiguren. Für Onno und Max ändert sich das Leben schlagartig. Sie haben vorher nie jemanden kennengelernt, der den jeweils anderen voll und ganz durchschaut und verstanden hat. Der Grund ihrer „Seelenverwandtschaft“ wird auch schnell im gleichen Tag ihrer beider Zeugung ausgemacht. Auch hier strahlen wieder mystische Elemente des Buches durch, von denen Mulisch oft Gebrauch macht. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wurde er deswegen schon als „mystischer Agnostiker“ bezeichnet. Onno und Max, deren Namen ab ihrem ersten Treffen nur noch in Kombination ausgesprochen wurden, entwickeln eine starke Freundschaft.

Onno, der aus konservativem Hause stammende Linguist und Nonkonformist, der von seinen eigenen Verwandten für verrückt gehalten wird und der sexuell sehr aktive Lebemann und Astronom Max, stellen durch ihre wissenschaftlichen Berufe den Gegensatz zu diesem mystischen Grundton der übergeordneten Geschichte. Die Beziehung der beiden ist nur zu verstehen, sieht man sich ihr Umfeld im Amsterdam der 1960er Jahre an. Beeinflusst von der Provobewegung, die zu dieser Zeit in der Stadt für einige medienwirksame Offenlegungen von Polizeigewalt und staatlicher Unterdrückung sorgen, sind auch ihre gemeinsamen „Auftritte“ in der Öffentlichkeit mehr als nur provokant.

Sie wollen sich nicht zufrieden geben mit der gesellschaftlichen Stagnation in den gesättigten westlichen Ländern Europas. Aber sie erkennen auch schnell die autoritären Anlagen in der aufkommenden Studentenbewegung. Ein Ausflug nach Kuba lässt lange Reflexionen über Gegensätze sowie das Für und Wider zwischen real existierendem Kapitalismus und Sozialismus zu. Ob nun gemässigter Linker, Militanter, oder bewaffnete Kämpferin, alle Personen ziehen ihre Schlüsse aus den Geschehnissen und haben Recht und Unrecht zugleich.

Nicht nur diese Debatten boten nach Erscheinen des Buches viel innerniederländischen Konfliktstoff. Besonders das Kapitel, in dem Ada Brons, eine Freundin von Onno und Max ins Koma fällt, stiess vielen von der damaligen Debatte um Sterbehilfe beeinflussten Menschen vor den Kopf und reflektiert auch dieses Thema ausführlich. Mulisch redet offen und ohne Scheuklappen, sieht dabei auch immer Argument und Gegenargument. Die Handlungen sind vielschichtig und von einer Themenbreite, die hier zu erörtern nicht möglich wäre. Sie reicht von den schon erwähnten religiösen und politischen Anspielungen und Diskussionen über naturwissenschaftliche und geschichtliche Fakten bis hin zur Psychologie sowie ihre Auswirkung auf familiäre Beziehungen und alternative Wege zum Glück. 2007 wurde das Buch von einer Tageszeitung zum besten niederländischen Buch aller Zeiten gewählt. Dem bleibt wohl nichts hinzuzufügen.

Tompa Láska
kritisch-lesen.de

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995. 880 Seiten, ca. 14.00 SFr, ISBN 978-3-499-13476-0

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