Produkte werden zu Produktionsmitteln Die Digitalisierung der deutschen Autoindustrie (Teil 2)

Wirtschaft

Beim folgenden Artikel handelt es sich um die gekürzte Einleitung des Buches «Die Digitalisierung der deutschen Autoindustrie» von Peter Schadt. Es erscheint im September 2020 im PapyRossa Verlag und analysiert die Konkurrenz und Kooperation in einer der Schlüsselbranchen in Deutschland.

Auto aus dem Film I Robot
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Auto aus dem Film I Robot Foto: Eirik Newth (CC BY 2.0 cropped)

16. September 2020
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Korrektur

IV.

„‚Wenn ich ein Wort gebrauche' sagte Googelmoggel in recht hochmütigem Ton, ‚dann heisst es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.' ‚Es fragt sich nur', sagte Alice, ‚ob man Wörter einfach etwas anderes heissen lassen kann.' ‚Es fragt sich nur', sagte Googelmoggel, ‚wer der Stärkere ist, weiter nichts' [Carroll 2018: 88].

Die bisherige Debatte ist noch weit entfernt von einer einheitlichen Terminologie. ‚Die Digitalisierung' bzw. die Industrie 4.0 sind dabei nicht die einzigen Begriffe, die regelmässig fallen, um den aktuellen Prozess der Veränderung zu beschreiben.

Alternativ zu diesen Begriffen gibt es auch noch die Beschreibungen von „The second maschine age“ [Brynjolfsson/McAfee 2015], der „dritten industriellen Revolution“ [Rifkin 2014], der „vierten Industrielle Revolution“ [Schwab 2016], dem „digitalen Kapitalismus“ [Staab 2016], dem „Plattform-Kapitalismus“, des „Informationszeitalters“ und viele mehr.

Bei weniger umfassenden Begriffen, die zumeist nur auf die technologische Entwicklung bzw. auf die neuen digitalen Techniken eingehen werden, wird von der „Digitalisierung“, der „zweiten Phase der Digitalisierung“ [Hirsch-Kreinsen 2015:11] gesprochen. Dazu kommen noch polemisch-kritische Bezeichnungen wie der „Robokratie“ [Wagner 2016] oder die „Illusion 4.0“ [Syska/Lievre 2016]. In der vorliegenden Arbeit ist daher die begriffliche Schärfung des in den sozialwissenschaftlichen Publikationen sehr vielseitig und damit oft auch diffus verwendeten Begriffs ‚der Digitalisierung' bzw. der Industrie 4.0 eine Voraussetzung für die Untersuchung der Auswirkungen dieser auf die deutsche Automobilindustrie.

In der vorliegenden Arbeit werden Begriffe teilweise anders verwendet als in der bisherigen Forschung üblich. So wird ‚die Digitalisierung', also die neuen digitalen Techniken als subjektivierte Form in der vorliegenden Arbeit konsequent in Anführungsstriche gesetzt.

Ausnahmen bilden einzig jene Stellen, wo die Digitalisierung als Prozess benannt wird und nicht als tätiger Akteur- Während die Neudefinition vieler gängiger Begriffe ein Ergebnis der Forschung ist, erscheint es in der Darstellung notwendig, diese Begriffe von Anfang an – also auch hier in der Einleitung – bereits kursorisch vorzustellen. Aus den bis hierher skizzierten Überlegungen der Arbeit ergeben sich verschiedene weitere Definitionen, welche die teils eigentümliche Diktion der Arbeit erklären: Neben der Digitalisierung als Expletivum sind die wichtigsten hierbei:
  • Die NEO-Techniken: Bei der Darstellung der einzelnen Techniken wird schnell klar, dass jenes Adjektiv ‚digital' gar nicht auf alle Techniken zutrifft, welche gerade als Innovation in der deutschen Automobilindustrie gehandelt werden: Robotik und modulare Montage können hier als Beispiel dienen – ganz zu schweigen von ‚alternativen' Antriebssträngen. Gleichzeitig sind nicht alle Techniken neu, die jetzt als Innovation gelten, d.h. nicht alle Innovationen sind auch Inventionen.

    Da also weder von den ‚neuen Techniken' noch bruchlos von den ‚digitalen Techniken' gesprochen werden kann, wird in der Arbeit von den NEO-Techniken geschrieben – ein Akronym aus neue digitale, elektronische und robotik-Technik.
  • Dual Use: Unterscheidet der Begriff in seiner klassischen Verwendung die Möglichkeit eine Technik sowohl zivil als auch militärisch zu verwenden, wird er in dieser Arbeit vorgeschlagen für eine bisher kaum untersuchte Veränderung in der Produktion: dass nämlich durch die NEO-Techniken die neuen Autos selbst zu Lieferanten der Daten werden, welche selbst wieder die Grundlage für neue Produkte sind.

    Damit werden einige Produkte als Produkte selbst wieder zu Produktionsmitteln – ein ‚Dual Use' der in seinem Begriff seine ökonomische ‚Sprengkraft' darstellt.
  • Industrie 4.0: wird in der vorliegenden Arbeit nicht einfach als ein Synonym für das Expletivum ‚Digitalisierung' verwendet, sondern wird gefasst als das polit-ökonomische Programm, mit welchem der deutsche Staat nach innen seine Infrastruktur umbaut, um nach aussen die Konkurrenz gegen die USA und China weiter voranzutreiben.

    Es wird die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein zu beweisen, dass jenes Verständnis der Industrie 4.0 als polit-ökonomisches Programm es ermöglicht, einige verschiedene Aspekte in der deutschen Automobilindustrie zu trennen – so z.B. die staatlichen Projekte zum Aufbau einer 5G-Infrastruktur auf der einen, die Entwicklung autonomer Fahrzeuge auf der anderen Seite, die zwar alle in der bisherigen Forschung schon auf die eine oder andere Weise behandelt werden, allerdings oft unter missverständlichen Terminologien, weil die Begriffe nicht klar abgegrenzt wurden.
Zudem müssen allerdings auch die Begriffe der Klasse, der Charaktermaske, der Konkurrenz, der antagonistischen Kooperation, des Staates, sowie einige andere – manchmal auch nur kursorisch – bestimmt oder zumindest ein bestimmter Umgang für sie vorgeschlagen werden. Die vorliegende Arbeit versteht sich daher auch als ein Vorschlag, wie verschiedene Begriffe in der aktuellen Debatte um Industrie 4.0, Digitalisierung, Elektrifizierung und digitale Techniken in der deutschen Automobilindustrie sinnvoll und fruchtbar unterschieden werden können.

V.

„Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer Siegte ausser ihm? Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus?“ [Brecht 1988: 29]

In der Debatte um ‚die Digitalisierung' sind oft Sätze in der ersten Person Plural zu lesen: „Das Rennen um die Produktion von digitalen Technologien in Endgeräten haben wir verloren!“ [Kollmann/Schmidt 2016: 12] – oder auch: „Wir müssen uns daher auf die Entwicklung von kreativen Anwendungen für unsere Gesellschaft und innovativen Geschäftsmodellen und –prozessen für unsere Wirtschaft konzentrieren“ [Kollmann/Schmidt 2016: 12].

Hier ist erneut mit Brecht zu fragen: Wenn ‚wir' gewinnen – wer sind ‚wir' dann? Wer ist es, der die NEO-Techniken einsetzt, um die Arbeit zu verdichten und so ‚innovative Geschäftsmodelle' entwickelt, und wer ist es, der nun die verdichtete Arbeit ableisten muss? Ist man einen Schritt weiter in der Frage, was ‚Digitalisierung' ist, wenn man keine Unterscheidung vornimmt, zwischen denjenigen, welche die Produktion einrichten und denjenigen, welche der variable Teil dieser Produktion sind?

Auf der Grundlage der marxschen Klassenanalyse wird das Feld der deutschen Automobilindustrie als Ort antagonistischer Kooperation gekennzeichnet: Das meint hier das spezifische Verhältnis der Kooperation und Konkurrenz verschiedener Akteure zueinander. So ist das Verhältnis von Arbeit und Kapital nicht nur eines des Widerspruchs zwischen der Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital, sondern auch eines der Kooperation, da beide Klassen aufeinander verwiesen sind.

Auf dieser Grundlage werden die zentralen Akteure im Feld der deutschen Automobilindustrie vorgestellt: Die Original Equipment Manufacturer (OEM), die Zulieferer auf verschiedener Tier. Dabei wird das klassische Bild der deutschen Automobilbranche als ein Feld das von den OEMs und ihrem Verhältnis zu den Zulieferern geprägt wird, nach zwei Seiten hin modifiziert:

Erstens entstehen immer mehr Start-Ups im Feld, welche neben den etablierten Akteuren der OEMs und Zulieferer zu betrachten sind. Die zweite Modifikation kommt direkt aus dem Begriff der Klasse: Wurde im Kapitel zuvor entwickelt, dass die NEO-Techniken nicht zuletzt eingesetzt werden für Ökonomisierungsprozesse der Lohnarbeit – deren ‚Verdichtung' eine dieser Folgen ist -, erscheint es notwendig, auch die Lohnarbeit im Feld zu betrachten: Innerhalb der Unternehmen der Automobilbranche daher die Betriebsräte als vollständig eigenständige Akteure die IG Metall.

VI.

„Was ihr den Geist der Zeiten heisst, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln“ [Goethe 1998b: 29]

Neue technische Entwicklungen werden gerne als Trends gefasst, welche als exogene Faktoren ein Feld verändern. Dadurch werden sie gerade nicht erklärt, sondern einfach gesetzt – und alle Akteure im Feld gleichermassen als Objekte behandelt, die nun mit diesem neuen Trend umzugehen haben.

Der marxologische Analyserahmen soll hier gerade das Gegenteil leisten: die NEO-Techniken aus der politischen Ökonomie heraus zu erklären. Damit kann die Arbeit an einige jüngst erschienene Aufsätze anknüpfen: „Die Entwicklung der Produktivkräfte ist kein exogener Faktor, sondern in das Kapitalverhältnis eingeschrieben, und die Entwicklung neuer Technologien und deren Einsatz ist in hohem Masse von diesem Verhältnis geprägt. Für die Deutung des aktuellen Technologieschubs ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Technikeinsatz im Rahmen der Strategien des Kapitals zu verstehen“ [Butollo/Nuss 2019: 13].

Wenn es also scheinbar ‚die Digitalisierung' und die NEO-Techniken sind, die durch Smartphones die Arbeit flexibilisieren, dann wird hier deutlich, dass dieser angebliche Zeitgeist doch nur der Geist jener Herren ist, die davon profitieren, wenn andere permanent erreichbar sind: Hier spiegeln sich die ökonomischen Interessen der Akteure in den Trends, die angeblich ganz exogen auf die Akteure treffen.

Damit soll natürlich nicht umgekehrt behauptet sein, dass alle NEO-Techniken aus dem Feld der deutschen Automobilindustrie kommen. Dass viele digitale Techniken gerade aus der IKT-Branche heraus entwickelt wurden und das den Unternehmern dieser Branche gerade die Möglichkeit gibt, in das Feld der deutschen Automobilindustrie einzudringen, ist gerade Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung. Der hier entwickelte Analyserahmen schafft es vielmehr darzustellen, mit welchem Interesse OEM, Zulieferer und Start-Ups sich ganz selbstbewusst der NEO-Techniken bedienen, um ihren Interessen nachzugehen. So sind die Unternehmen dann in ihrem Feld auch nicht Betroffene eines exogenen Trends, sondern sie setzten diesen Trend selbst aktiv um und treiben ihn voran.

VII.

„Die Stimme Gottes: Ich habe es nicht gewollt“ [Kraus 1986: 770].

1918 liess Kaiser Wilhelm die Deutschen wissen, dass er den Krieg so nicht gewollt habe. Karl Kraus nahm dieses Diktum auf und legte es in seinem Stück „die letzten Tage der Menschheit“ ausgerechnet Gott in den Mund – so zeigte Kraus den Widersinn auf, wenn sich ausgerechnet diejenigen, welche als Herrscher über das Schicksal Millionen anderer entscheiden, als passive Opfer der Verhältnisse behaupten. Auch heute ist ausgerechnet von Seiten der Politik und der Unternehmen vor allem eines zu lesen: ‚Die Digitalisierung' zwinge sie zu allem Möglichen.

Der marxologoische Analyserahmen setzt dem die Erkenntnis entgegen: Kein exogener Trend nötigt die Akteure, sondern sie bringen selbst mit ihrem ökonomischen Interesse diejenigen NEO-Techniken hervor, deren Folgen sie am Ende nicht gewollt haben wollen: Werden Arbeitnehmer ‚substituiert', die Arbeit ‚verdichtet' und ganze Berufsgruppen überflüssig gemacht, dann stehen diejenigen Akteure am Ende so begriffslos vor ihrem eigenen Werk wie Kaiser Wilhelm 1918 vor den Scherben seines Kaiserreichs.

Um diese ökonomischen Interessen und ihre Widersprüche systematisch zu untersuchen, werden in dem siebten Kapitel die dreizehn verschiedenen Verhältnisse unter drei grosse Kategorien subsumiert:
  • Kapital – Kapital Verhältnis: Hier wird untersucht, mit welchem Interesse OEM, Zulieferer und Start-Ups die NEO-Techniken als ihr Mittel einsetzen, und ihnen dabei die Konkurrenz tatsächlich als praktischer Zwang gegenübertritt – allerdings nicht als eigenständiges Subjekt, sondern als ihr eigenes ökonomisches Interesse, das sie gegen das gleiche Interesse ihrer Konkurrenten behaupten wollen – und dafür tatsächlich die Mittel anwenden müssen, welche die NEO-Techniken ihnen eröffnen. In diesem Kapitel geht es daher um die Untersuchung der tatsächlichen Subjekte, die das in Gang setzen, was dann oft als Auswirkungen ‚der Digitalisierung' besprochen wird.
  • Kapital – Arbeit Verhältnis: Wie sich die ökonomischen Interessen der OEM, der Zulieferer und Start-Ups, welche diese mit den NEO-Techniken durchsetzen wollen, auf die Belegschaften auswirken, ist zentraler Bestandteil der Bildung des Expletivum ;Digitalisierung' – und soll hier positiv bestimmt werden.

    Nur so lässt sich die Plausibilität ‚der Digitalisierung' erklären: In dem der Belegschaft, zumindest in grossen Teilen, die NEO-Techniken tatsächlich als Subjekt gegenübertreten, das ihre Schritte überwacht und ihre Arbeit ‚rationalisiert': „Sie leben im Passiv: Ihre Freizeit und ihre Arbeit werden digitalisiert“ [Kaufmann 2016: 2].

    Dabei antworten natürlich die Gewerkschaft wie der Betriebsrat auf die Interessen der Charaktermaske Kapital und stellen sich so selbst als Subjekte auf – allerdings, wie zu zeigen sein wird, mit dem Inhalt ein ökonomisches Verhältnis aufrecht zu erhalten, in dem die Belegschaft, deren Interessen sie vertreten, weiter Objekt bleibt.
  • Arbeit – Arbeit Verhältnis: Der Blick auf das Verhältnis von Betriebsrat und Gewerkschaft soll auch hier ein Spannungsfeld aufzeigen – zwischen der Perspektive auf die gesamte Branche und derjenigen auf den eigenen Betrieb. So kann die IG Metall darauf verweisen, dass auch in und durch die Elektromobilität neue Arbeitsplätze entstehen – ein Betriebsratsvorsitzender eines Zuliefererbetriebes, der Kolben für Verbrennungsmotoren herstellt, kann der Verweis auf neue Arbeitsplätze in der Batterieherstellung dagegen kaum beruhigen.

    Auch hier gilt der Blick dem Beweisziel: Hier werden Interessen von Akteuren durchgesetzt und nicht Sachnotwendigkeiten ‚der Digitalisierung' verhandelt.
Flankiert wird dieses Kernstück der vorliegenden Untersuchung von den Strategien der IKT-Branche, um sich an der Wertschöpfung in der Automobilindustrie zu beteiligen. Den Abschluss bilden die Strategien der deutschen Automobilindustrie nach aussen – so wie die IKT-Unternehmen versuchen auf das Feld der deutschen Automobilindustrie einzuwirken, gibt es auch eine Bewegung, die genau andersherum geht: Die beiden strategischen Pole um welche sich das Verhältnis der Automobilbranche zur IKT-Branche dreht, sind hier die eigene IKT –Abteilung oder die Fremdnutzung.

Am Ende der Arbeit werden noch die Interessen des deutschen Staats untersucht, mit denen er auf das Feld der deutschen Automobilindustrie zugreift sowie nach aussen in Konkurrenz zu anderen Nationen tritt: Industrie 4.0 als polit-ökonomisches Programm. Diese Darstellung wird ergänzt um die Skizzierung der konkurrierenden Programme der USA mit industrial internet sowie China 2025.

Entgegen der vielgenutzten Phrase von den ‚Chancen', die bei der Digitalisierung genutzt werden sollen und den ‚Risiken', die es zu vermeiden gilt, eröffnet der marxologische Analyserahmen den Blick darauf, dass die ‚Risiken' des einen in der Digitalisierung die ‚Chancen' des anderen sind: Die IKT-Branche versucht die ganze Automobilindustrie zum Zulieferer zu reduzieren und setzt darauf, dass das Entscheidende beim Auto der Zukunft seine Soft- und nicht seine Hardware ist.

Umgekehrt bilden deutsche Autohersteller selbst riesige ITK-Abteilungen. Gleichzeitig wird auch kooperiert: Die Autohersteller nutzten die Server von Microsoft für die Etablierung ihrer IKT-Abteilungen, mit welchen sie sich auf lange Frist von diesen unabhängig machen wollen: Auch hier also antagonistische Kooperation als allgemeiner Begriff von dem, was im Konkreten zu zeigen ist.

Peter Schadt

Vorabdruck aus dem Buch «Zur Digitalisierung der deutschen Autoindustrie» (Papyrossa 2020. 400 Seiten. ca. 40.00 SFr. ISBN: 9783894387457).