Textilproduktion und Modekonzerne Existenzlohn

Wirtschaft

Die meisten Modekonzerne arbeiten heute nach demselben Modell: Sie lagern arbeits– und umweltintensive Produktionsschritte in Billiglohnländer aus, um die Kosten möglichst tief zu halten. Dann setzen sie die Produkte auf lukrativen Konsummärkten ab.

Textilfabrik in Indonesien.
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Textilfabrik in Indonesien. Foto: ILO in Asia and the Pacific (CC BY-NC-ND 2.0)

4. Juli 2016
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Weltweit arbeiten rund 60 Mio. Menschen in der Schuh-, Bekleidungs- und Textilindustrie. Dass den meisten von ihnen ein Existenzlohn vorenthalten wird, kommt einer groben Menschenrechtsverletzung gleich. Auch die Schweiz beheimatet zahlreiche grosse Modefirmen, die von hier aus ihre weltweiten Geschäftstätigkeiten organisieren. Der grösste Teil dieser Firmen bekennt sich nicht zu Existenzlöhnen und profitiert dreifach: Von billigsten Einkaufpreisen bei den Fabriken, von lukrativen Absatzmärkten in der Schweiz und von niedrigen Steuersätzen.

Was sind Existenzlöhne?

Die Definition orientiert sich an den ILO-Konvention, an den ILO-Empfehlungen 131 und 135 und an der allgemeinen Menschenrechtserklärung (Artikel 23) und beschreibt einen Existenzlohn wie folgt: «Löhne und Lohnzulagen für eine Standardarbeitswoche entsprechen zumindest dem gesetzlichen Mindestlohn, respektive dem industrieüblichen Lohn, decken in jedem Fall die Grundbedürfnisse der ArbeiterIn und ihrer Familie und lassen darüber hinaus ein frei verfügbares Einkommen.»

Spezifischer definiert die CCC, dass ein Existenzlohn
  • für alle ArbeiterInnen gilt und es somit keinen tieferen Lohn als den Existenzlohn gibt,
  • in einer Standardarbeitswoche von max. 48 Stunden erwirtschaftet wird,
  • dem Netto-Grundlohn für eine Standardarbeitswoche entspricht, d.h. keine Lohnzuschläge oder Spesenvergütungen beinhaltet,
  • die Grundbedürfnisse einer Familie in der Grösse von zwei Erwachsenen und zwei Kindern decken kann,
  • darüber hinaus ein frei verfügbares Einkommen übriglässt, das mindestens 10% des Geldbedarfs zur Deckung der Grundbedürfnisse entspricht.

Löhne im freien Fall

Die gesetzlichen Mindestlöhne für TextilarbeiterInnen in Asien, Lateinamerika, Afrika und Osteuropa liegen in der Regel deutlich unter einem existenzsichernden Niveau und decken meist nur zwischen 15-60% der täglichen Ausgaben einer vierköpfigen Familie.

Die Länder, in denen unsere Kleider hergestellt werden, stehen untereinander in einem harten Konkurrenzkampf. Die lokale Industrie ist zu einem grossen Teil von den Investitionen reicher Länder abhängig; in Ländern wie Bangladesch oder Kambodscha machen Textilien etwa 80% der Exporte aus. Aufgrund dieser Abhängigkeit gestalten die nationalen Regierungen ihre Arbeitsgesetze besonders investitionsfreundlich. Dazu gehört neben tiefen Mindestlöhnen auch, dass Gewerkschaften entweder ganz verboten, nur eingeschränkt zugelassen oder eingeschüchtert werden.

Die Folgen sind klar: Um sich und ihre Familien über die Runden zu bringen, müssen die NäherInnen unzählige Überstunden leisten. Lebenskosten steigen - der Mindestlohn stagniert

Oft entwickelt sich der Mindestlohn über Jahre hinweg nur wenig. Den ArbeiterInnen wird so, trotz teils hoher Inflation, ein Teuerungsausgleich verwehrt. So blieb in Bangladesch der Mindestlohn zwischen 1995 und 2006 unverändert bei 950 Taka (ca. 11 CHF) pro Monat. 2006 erfolgte eine Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns auf 1162 Taka, also rund 20 CHF pro Monat, doch der Preis von Reis, einem Grundnahrungsmittel, stieg in der Zwischenzeit stark an. So profitierten die Angestellten nicht von der Anpassung. Nach massiven Lohnprotesten im Sommer 2010 wurde der bangladeschische Mindestlohn per 1.11.2010 um sagenhafte 80% erhöht.

Doch auch der neue Mindestlohn von 3000 Taka (35 CHF) deckt nur einen kleinen Teil der täglichen Ausgaben einer vierköpfigen Familie und verlor bei einer durchschnittlichen Inflation von 7-11% seit 2010 konstant an Wert. Gleichzeitig erleben Arbeits- und MenschenrechtlerInnen eine Welle der Repression: Nach den Lohnprotesten wurden spezielle Polizei-Einheiten namens „Industrial Police“ eingerichtet, die neue Aufstände in Fabriken im Keim ersticken sollen. Nach dem Rana Plaza Fabrikeinsturz 2013, bei dem 1138 Menschen starben und über 2000 verletzt wurden, gingen die ArbeiterInnen erneut zu Tausenden auf die Strasse und forderten sicherere Arbeitsplätze und bessere Bezahlung. Der gesetzliche Mindestlohn wurde Ende 2013 auf 5300 Taka angeboben (60 CHF) – doch auch das reicht nicht aus. Die Asia Floor Wage Allianz hat berechnet, dass ein Existenzlohn in Bangladesch rund 350 CHF betragen müsste.

Was in Bangladesch passiert, wiederholt sich in Varianten in anderen Produktionsländern: Die gesetzlichen Mindestlöhne sind zu tief, um davon anständig zu leben. ArbeiterInnen, die sich für ihre Rechte einsetzen, werden unterdrückt und bedroht. Beide Faktoren gehören heute zu den internationalen Standortvorteilen, die Produktionsländer ihren InvestorInnen bieten.

Existenzlöhne sind nötig - und möglich

Das Recht auf einen Existenzlohn ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Artikel 23/3 verbrieft:

„Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmassnahmen.“

Zusätzlich bekräftigt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der UNO in verschiedenen Konventionen das Recht auf einen Existenzlohn, und zwar in der:
  • Konvention 131 und 156 und Empfehlung 131 und 135,
  • Gründungs-Verfassung der ILO von 1919
  • und in der Philadelphia-Deklaration von 1944.
  • Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung von 2008,
Strukturell gesehen verfügen internationale Markenfirmen über eine hohe politische und ökonomische Durchsetzungskraft. Sie können Standards setzen bezüglich Preisstruktur und Arbeitsbedingungen. In erster Linie können daher Markenfirmen die Umsetzung von Existenzlöhnen beeinflussen. Viele Unternehmen bekennen sich heute tatsächlich zu mehr Verantwortung und unterstreichen in der Öffentlichkeit ihr Engagement für mehr Nachhaltigkeit in der Produktion. Ohne ein klares Bekenntnis zu Existenzlöhnen fehlt diesem Engagement jedoch das Fundament. Leider verpflichten sich 99% der Markenfirmen nicht zu Existenzlöhnen. Modellhafte Existenzlöhne: Asia Floor Wage Campaign

Mit der Asia Floor Wage Campaign (AFW) gibt es seit 2009 eine breite, asiatisch angeführte Allianz von rund 70 NGOs, Gewerkschaften und WissenschaftlerInnen, die gemeinsam ein Berechnungsmodell für einen Existenzlohn erarbeitet und sich auf einen gemeinsame Lohnforderung geeinigt haben. Sie reagieren damit auf die Behauptung von Markenfirmen, Existenzlöhne seien nicht umsetzbar.

Die AFW ist als regionale Allianz aufgebaut und setzt sich zum Ziel, das Lohnniveau in der Bekleidungsindustrie für ganz Asien anzuheben und das Modell auch anderen Produktionsregionen (Lateinamerika, Afrika, Osteuropa) zugänglich zu machen. Damit soll verhindert werden, dass Markenfirmen nach einer Lohnanpassung ihre Produktion in günstigere Nachbarländer verlagern und damit den Preis- und Wettbewerbsdruck noch anheizen. Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen aus Asien hat die Clean Clothes Campaign den Aufbau der Asia Floor Wage Alliance unterstützt.

Die AFW engagiert sich lokal, bildet ArbeiterInnen weiter und unterstützt die gewerkschaftliche Organisierung vor Ort. Zudem tritt die AFW als regionale Verhandlungspartnerin für globale Markenfirmen auf.

10 Schritte auf dem Weg zu einem Existenzlohn

Um einen Existenzlohn auf Fabrikebene umzusetzen, hat die Asia Floor Wage–Kampagne zehn Schritte definiert. Die einzelnen Bereiche bedingen sich gegenseitig. Um Fortschritte in der Umsetzung von Existenzlöhnen zu erzielen, müssen daher alle 10 Schritte parallel entwickelt werden.

Das Unternehmen:

1. verpflichtet sich (im Verhaltenskodex) zur Bezahlung eines Existenzlohnes,

2. bekennt sich zu Gewerkschaftsfreiheit in der ganzen Produktionskette und fördert die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften in Produktionsländern aktiv, damit die ArbeiterInnen sich ungehindert organisieren und ihre Rechte vertreten und einfordern können,

3. tritt in den direkten Dialog mit Gewerkschaften und Arbeitsrechts-NGO,

4. bekennt sich öffentlich zu einem Benchmark für einen minimalen Existenzlohn,

5. passt die eigene Einkaufspraxis (inkl. Preis-Strukturen) an, um einen Existenzlohn zu ermöglichen,

6. führt Pilotprogramme zur Erhöhung der Löhne durch, die Zulieferer, Gewerkschaften und Arbeitsrechtsgruppen mit einbeziehen,

7. unterstützt öffentlich die Forderung von ArbeiterInnen, Gewerkschaften und NGOs nach einem Anstieg des Mindestlohnes auf einen minimalen Existenzlohn, bekennt sich gegenüber Regierungen von Produktionsländern klar zu einem Existenzlohn, inkl. Garantie, dass es zu keiner Verlagerung der Produktion kommt bei einem Lohnanstieg auf Existenzlohn-Niveau,

8. berichtet transparent und öffentlich über die Geschäftstätigkeit und die Produktionskette, sowie über Fortschritte auf dem Weg zu einem Existenzlohn,

9. arbeitet zusammen mit anderen Firmen, Gewerkschaften und NGOs an der Umsetzung eines Existenzlohnes (z.B. im Rahmen einer Mitgliedschaft einer glaubwürdigen Multi-Stakeholder-Verifizierungsinitiative),

10. erarbeitet und veröffentlicht einen Umsetzungsplan für die Bezahlung eines Existenzlohnes (inkl. Meilensteinen und Zeitplan).

Existenzlöhne sind keine Frage des Preises, sondern des politischen Willens der Markenfirmen. Nur wenige Rappen mehr für die Produzierenden machen den Unterschied aus.

evb