Neue Technologien - Produktionsumwälzung, Produktivitätssteigerung und Unterbeschäftigung Standard: Maximalleistung

Wirtschaft

Es wird Zeit, dass wir uns mit einem weiteren Kraftfeld beschäftigen, das den »grossen Zyklus« wesentlich mitbestimmte – dem sogenannten technischen Fortschritt.

Wasserkraftwerk im Südwesten Island.
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Wasserkraftwerk im Südwesten Island. Foto: Richard Bartz (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

22. Oktober 2009
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Mit seinen technologischen, betriebswirtschaftlichen und arbeitsorganisatorischen Umwälzungen entsprach er einerseits den neuen Mentalitäten und schuf durch seine ständigen »Freisetzungseffekte« andererseits die materiellen Voraussetzungen für eine über die Konjunkturschwankungen hinausreichende strukturelle Unterbeschäftigung.

In den vulgären Versionen des Konzepts der langen Wellen werden diese Umschichtungen der technisch-organisatorischen Zusammensetzung des Kapitals als »Basisinnovationen« gepriesen. Ihnen komme die Kraft zu, das in der Krisenperiode aufgehäufte Sparkapital der streikenden Investoren und die auf die Strasse geworfenen Arbeitskräfte wieder einzusammeln und auf jene neuen und hochprofitablen Wirtschaftszweige zu lenken, aus denen neue Produkte hervorgehen. Von diesem Schema haben wir uns bewusst ferngehalten. Indem wir zuerst (zwei Kapitel zuvor – d. Red.) die mit den Generationswechseln verbundenen Veränderungen der Mentalitäten und die dadurch ausgelöste Restrukturierung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse skizzierten, haben wir einen Kontext geschaffen, der die »Basisinnovationen« aus ihren begrenzten technologischen Deutungsmustern herauslöst und in die durch die Klassenkonflikte umrissenen Kraftfelder des Zyklus integriert.

Zusätzlich werden wir in Anlehnung an die bahnbrechende Studie Emil Lederers über den Zusammenhang zwischen technischem Fortschritt und Arbeitslosigkeit aus dem Jahr 1938 gut daran tun, zwischen primären Basisinnovationen und ihren gesamtwirtschaftlichen Folgewirkungen zu unterscheiden:
Zwar gibt es grundlegende »Erfindungen«, deren Produkte einen neuen industriellen Wachstumssektor begründen, weil sie – in wie entfremdeter Form auch immer – zur Befriedigung der neuen Massenbedürfnisse beitragen. Weitaus wichtiger aber sind ihre Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft. Denn sie können in vielen anderen Sektoren mit »sekundären Innovationen« verknüpft werden und lösen dann oft weitreichende arbeits- und kapitalsparende Effekte aus.

Daraus ergeben sich die kumulativen Massenentlassungen, sofern sie nicht durch die Neuverteilung des geschrumpften Arbeitsvolumens bei gleichbleibenden Gesamteinkommen ausgeglichen werden. Dann werden die positiven Beschäftigungseffekte des neuen Wachstumssektors durch die sekundär ausgelösten Entlassungswellen überlagert. Das Resultat ist eine von den Konjunkturschwankungen unabhängige Unterbeschäftigung, die wiederum als arbeitsmarktpolitisches Druckmittel genutzt werden kann. Technologische Umwälzungen und Unterbeschäftigung verstärken sich wechselseitig zum Nachteil der abhängig Erwerbstätigen, und es erscheint deshalb gerechtfertigt, von einer Strategie der technologisch erzwungenen Unterbeschäftigung zu sprechen.

Neue Informationstechnologie

Genau dies war im vergangenen Zyklus der Fall. Als Generator der Basisinnovationen fungierte ein eng miteinander verzahnter Spezialsektor des militärisch-industriellen Komplexes der grossen Nationalökonomien, dessen Existenzberechtigung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Inszenierungen des Kalten Krieges verlängert worden war.

Er war wissenschaftlich zwischen der angewandten Mathematik, der Festkörperphysik und der Elektrotechnik angesiedelt. Seit Zyklusbeginn wurde er als »Informatik« bezeichnet.

Seine Promotoren konzentrierten sich vorrangig auf die Entwicklung neuer Rechner- und Kommunikationstechnologien. Dabei kamen verschiedene Entwicklungsstränge zum Tragen, die sich zunehmend miteinander verzahnten: Erstens die während des Zweiten Weltkrieges entstandenen programmierbaren Rechenmaschinen, zweitens die Erarbeitung multifunktionaler Steuerungsprogramme (Programmiersprachen), drittens die aus der Genealogie der Elektronenröhren, Transistoren und integrierten Schaltkreisen entwickelten Mikroprozessoren, viertens die gegen Ende der 1970er Jahre einsetzende Technologie der Personalcomputer (PC), und fünftens die Bereitstellung weltweiter Vernetzungssysteme (Internet, World Wide Web), die durch die Einführung immer stärker ausdifferenzierter wie vereinfachter Anwendungsmöglichkeiten begleitet war.

Gegen Ende der 1980er Jahre hatte sich die Rechner- und Informationstechnologie als neuer Wirtschaftssektor etabliert. Ihre Produkte avancierten seither für Hunderte Millionen Menschen zu unverzichtbaren Versatzstücken ihres Alltags. Sie generierte nicht nur neue und häufig prekäre Arbeitsverhältnisse, sondern materialisierte auch einen Teil der zu Beginn des Zyklusumschlags entstandenen neuen Kommunikationsbedürfnisse. Aber das war nur die eine Seite der Medaille. Die neuen Rechner- und Informationstechnologien wurden in den 1960er Jahren infolge der Sozialbewegungen kritisch hinterfragt und ein Stück weit aus ihren militärischen Kontexten herausgelöst. Darüber hinaus wurde der »antiautoritäre« Impetus ihrer Aussteiger rasch durch die Verlockungen prestigereicher Unternehmensgründungen und hoher Renditen eingefangen.

Innerhalb eines Jahrzehnts differenzierten sich die wesentlichen Produktlinien der Halbleiter-, Rechner-, Informations- und Telekommunikationstechnologie aus.

Dieser Prozess war von einem ruinösen Preiskampf begleitet. Er führte 2000/2001 zur Krise der Economy. Am Ende blieben ein paar Dutzend Konzernkonglomerate übrig und teilten die Märkte unter sich auf. Ihr Innovationspotential war weitgehend erschöpft, und die steigenden Überkapazitäten demonstrierten endgültig, dass sich die Ära des führenden Innovationsträgers des Zyklus ihrem Ende zuneigte.

Durchdringen aller Industriezweige

Noch stärker als die Basisinnovationen der früheren grossen Zyklen durchdrang die Rechner-, Halbleiter- und Informationstechnologie alle industriellen Sektoren, alle Schaltstellen der Wirtschaftskreisläufe und die diesen zugeordneten Regulationssysteme. Dabei entwickelten sie enorme arbeits- und kapitalsparende Effekte, was die rasante Entwertung von im Verlauf von Jahrzehnten entstandenen Arbeitsfähigkeiten und Kapitalanlagen zur Folge hatte.

Am geringsten fielen sie in jenen benachbarten Sektoren aus, in denen technische Vorstufen nur graduell weiterentwickelt zu werden brauchten, so etwa durch den Einbau von Transistoren und Halbleitern in die Konsumgüter der Elektroindustrie. Härter betroffen waren dagegen solche Industriezweige, in denen es seit längerem qualitativ neuartige technologische Entwicklungslinien gab, die nur noch auf die Mikroprozessoren »warteten«, um wie etwa im graphischen Gewerbe vom Blei- und Linotypesatz zu opto-elektronischen Verfahren der digitalen Satzerstellung (Licht- und Lasersatz) überzugehen: Das bedeutete das Aus für einen der historisch gebildetsten Flügel der Arbeiterbewegung – die Setzer und Drucker.

In der maritimen Logistik waren hingegen mehrere gleichzeitig umsetzbare Sekundärinnovationen erforderlich, um die Seeleute und die berufsstolzen Hafenarbeiter zu entmachten und ihre auf etwa ein Drittel der bisherigen Belegschaftsstärken heruntergedrückten Restkader in eine mechanisierte und routinisierte Ablauforganisation des Güterumschlags einzuspannen: Die Verfeinerung und Komplettierung der seit langem vorhandenen Navigationsverfahren durch den Ausbau der Radartechnologie und den Übergang zur Satellitennavigation sowie die Einführung des Containers, den man wegen seiner Verkettungswirkungen für den gesamten Gütertransport vielleicht sogar als zweite Basisinnovation des vergangenen Zyklus einstufen sollte, zumal er immense Kapitalien anzog und durch seine enormen Verbilligungs- und Beschleunigungseffekte eine gewaltige Ausweitung des Welthandels bewirkte.

Derartige Kopplungseffekte zwischen beschäftigungsaktiven Basisinnovationen und arbeits- und kapitalsparenden Sekundärinnovationen lassen sich inzwischen für alle Sektoren nachweisen, ja, sie gewannen im Verlauf des Zyklus geradezu generalisierenden Charakter.

Dies wurde vor allem durch den multifunktionalen Einsatz der Mikroprozessoren an den verschiedenen Phasen der Produktionsketten möglich, deren Maschinen gleichzeitig für eine multifunktionale Steuerung umgerüstet wurden.

Zu ihrem Kernstück avancierte die numerisch gesteuerte Werkzeugmaschine, die mit computergesteuerten Konstruktionsprogrammen (CAD – Computer Aided Design) rückgekoppelt und in computergesteuerte Anlagengruppen (CAM – Computer Aided Manufacturing) integriert wurde. Hinzu kamen roboterisierte Produktionsinseln, in denen mit Manipulatoren und multifunktionalen Werkzeugen ausgestattete Automaten die repetitiven Teilarbeiten des Fliessbands ersetzten.

Kontrollieren von Arbeitsabläufen

Alle diese Prozesse vollzogen sich im vergangenen Zyklus in atemberaubendem Tempo. Sie griffen in dieser Zeit auch auf den Finanz- und Dienstleistungssektor sowie die Reproduktionssphäre über, wobei sie vor allem das Gesundheitswesen, den Bildungsbereich und die öffentlichen Verwaltungen umpflügten. Die Folge war eine weitgehende Homogenisierung der Arbeitsverhältnisse, die sich auch geographisch in die Peripherie des Weltsystems ausweitete.

Dieser Prozess verlief in zwei aufeinanderfolgenden Etappen, und seine Auswirkungen waren zwiespältig. In den technologisch avancierten Sektoren waren die unmittelbaren Produzenten nicht länger taylorisierte Kettenglieder in den Fertigungsoperationen, sondern übernahmen Steuerungsfunktionen. Aber sie hatten trotz erweiterter Handlungsspielräume und Kompetenzen die Vorgaben aus den Konstruktionsbüros und Managementetagen umzusetzen.
Seit Mitte der 1960er Jahre setzte sich weltweit ein arbeitsorganisatorisches Verdichtungsverfahren durch, das die Zeit- und Bewegungsstudien der tayloristischen Ära zur Ermittlung sogenannter Kleinstzeiten zusammenfasste und als Methods Time Measurement (MTM; Arbeitsablauf-Zeitanalyse – d. Red.) bezeichnet wurde. Dabei wurden die elementaren Hand-, Finger- und Blickfunktionen durchschnittlich geübter Arbeiterinnen und Arbeiter entschlüsselt, mit ihren Körper- und Fussbewegungen korreliert und zu Grundbewegungen verdichtet, die innerhalb bestimmter standardisierter Zeittakte – oftmals nur wenige Sekunden – zu absolvieren waren. Auf diese Weise wurden die abgründigen Errungenschaften der »wissenschaftlichen Betriebsführung« auf die Spitze getrieben und zugleich mit der Absicht verbunden, die ermittelten Grundelemente der manuellen Maschinenbedienung in Programmiersprachen zu übersetzen und als Steuerungssequenzen direkt in die Maschinen einzugeben.

War dies geschehen, dann konnte man dazu übergehen, einen Teil der aus dem unmittelbaren Herstellungsprozess herausgenommenen Maschinenbediener mit Hilfe audiovisueller und kognitiver Trainingsverfahren zu Maschinensteuerern umzuschulen und ihnen die Überwachung möglichst grosser Maschinengruppen zu übertragen. Auf diese Weise liess sich der zunächst kapitalintensive Innovationsumschlag mit einer erheblichen Senkung der Arbeitskosten kombinieren, bevor mit dem Einsatz der Mikroprozessoren auch eine markante Senkung der Kapitalkosten einsetzte.

Das MTM-Verfahren griff im Verlauf der 1980er Jahre auch auf die Schwellenländer über, war aber bis zum Beginn der aktuellen Krise auch in den Wirtschaftsnationen der Triade noch keineswegs obsolet geworden. Neben dem MTM-System stehen inzwischen weitere Verfahren zur Verfügung, um die Arbeiterinnen und Arbeiter für die sich immer rascher ausbreitenden rechnergestützten Hochtechnologiesektoren auszuwählen und auf Maximalleistung zu trimmen. Dabei setzte sich im Verlauf der 1990er Jahre eine Doktrin durch, die aus der japanischen Technologie der »verschlankten« Fabrik hervorging und sich in den entwickelten Zentren des Weltsystems inzwischen als Total Productivity Management (TPM) etabliert hat.

Seine Hauptfunktion besteht erstens darin, die enormen Kapitalkosten der Investitionsperiode durch einen rund um die Uhr organisierten und kontinuierlich »verlustfreien« Fertigungsablauf zu optimieren, indem die Belegschaften auf die unbedingte Vermeidung von sechs elementaren Verlustzeiten (Anlagenausfälle, Einrichtverluste, Vermeiden von Leerlauf, verringerten Taktgeschwindigkeiten, Anlaufschwierigkeiten und Ausschussproduktion) verpflichtet werden.

Ausgehend von diesem Anspruch wird zweitens eine Brücke zur Senkung der Arbeitskosten geschlagen, wobei die bislang getrennten Funktionsbereiche Fertigung, Instandhaltung und Reparatur bei den zumeist aus hochqualifizierten Handwerkern rekrutierten Belegschaften wieder zusammengeführt werden.

Gleichzeitig werden die Schichten planvoll unterbesetzt, so dass die schon durch die Aufhebung der funktionalen Arbeitsteilung bewirkte »Verschlankung« der Gesamtbelegschaft nochmals forciert wird.

Selbstaktivierung in »Basisgruppen«

Wie aber kann es gelingen, die nun aus dem Fertigungsablauf herausgetretenen Arbeiterinnen und Arbeiter dennoch wieder in den Verfahrensprozess einzubinden? Dies scheint vor allem möglich durch die Mobilisierung betriebsgemeinschaftlicher Mentalitäten, die eine ständige Bereitschaft zur Selbstaktivierung hervorbringen.

Zu diesem Zweck werden die Schichtbelegschaften in »Basisgruppen« verwandelt, in denen »alle Mitglieder interaktiv den kontinuierlichen Verbesserungsprozess optimal fördern. (…) Wirklich erfolgreich arbeitet die Gruppe nur dann, wenn die individuellen Energien der einzelnen Gruppenmitglieder in die Lösung der gemeinsamen Aufgabe einfliessen; (…) TPM funktioniert nur dann, wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Teams sich voll mit ihrer Arbeit identifizieren.

Im Idealfall verhalten sie sich so, als ob der Betrieb – zumindest ihr Arbeitsbereich – ihr Eigentum wäre.«2 Und damit diese »Basisgruppen« die ständig anhand der Verlustzeiten durchgeführten und mit anderen Konzernbelegschaften weltweit verglichenen Leistungsmessungen als richtig akzeptieren, sei es am besten, »wenn das Team seine Leistung selbst misst«. Wie weit haben diese und andere Konzepte tatsächlich gegriffen, bevor die aktuelle Krise die Belegschaften wieder daran erinnerte, dass sie keine Betriebsgemeinschaften waren, sondern in vielfältige Lohn- und Beschäftigungskategorien zersplitterte Erwerbsabhängige, deren am wenigsten geschützte Segmente – die Zeit- und Leiharbeiter – nun als erste auf die Strasse gesetzt werden?

Bei einer Betriebsbesichtigung rechtfertigten Betriebsräte ihre uneingeschränkte Unterstützung des TPM-Konzepts mit dem Argument, sie möchten dadurch gesicherte und hochwertige Arbeitsplätze für ihre Kinder vorhalten.

Zwei Jahre später sahen sie sich eines Besseren belehrt. Aber Mentalitäten sind zäh und lassen sich durch die Wirklichkeit nicht ohne weiteres korrigieren. Hinzu kommt, dass vor Krisenbeginn ganze Heerscharen von Beratungsunternehmen dabei waren, das Konzept des totalen Produktivitätsmanagements auch auf die Ballungszentren auszuweiten, um auch die Mussezeiten der Konzernbelegschaften unter Kontrolle zu bringen.

Strategische Unterbeschäftigung

Doch zurück zur makroökonomischen Betrachtungsweise. Die wechselseitigen Verflechtungen der beiden Basisinnovationen in der Informationstechnologie und im Transportwesen mit vielfältigen Sekundärinnovationen in den übrigen Wirtschaftssektoren haben die von den abhängig Beschäftigten innerhalb eines bestimmten Zeitstandards erzeugten Güter und Dienstleistungen – die sogenannte Arbeitsproduktivität – im vergangenen Zyklus erheblich gesteigert.

Dabei können wir wohl für die Jahre 1966/1967 bis 2006/2007 von einer Erhöhung um das Zweieinhalbfache ausgehen, wobei vor allem die ostasiatischen Wirtschaftsnationen die Führung übernahmen, während die Regionen der Triade Zuwachsraten zwischen 70 und 100 Prozent auswiesen.

Da sich das weltweite Sozialprodukt gleichzeitig in etwa verdoppelte, wurden die arbeitssparenden Effekte der technischen Innovationen zu einem erheblichen Teil durch das Wirtschaftswachstum und die damit einhergehende Zunahme der Beschäftigungszahlen ausgeglichen.

Trotzdem kam es zu einer erheblichen strukturell bedingten Unterbeschäftigung, die auch in der letzten Boomphase nicht ausgeglichen wurde. Von den weltweit offiziell registrierten Erwerbstätigen waren durchschnittlich immer sechs bis sieben Prozent als Arbeitssuchende registriert; zu Krisenbeginn waren es 190 Millionen Menschen.

Die faktische Erwerbslosenquote lag jedoch wesentlich höher, denn in den vergangenen Jahrzehnten wurden immer grössere Erwerbslosengruppen aus dem Erfassungs- und Versorgungssystem der Arbeitslosenversicherungen entfernt. Eine globale Schätzziffer von durchschnittlich zehn Prozent erscheint deshalb durchaus angemessen, so dass wir auf der Basis der ILO-Statistik auf 300 Millionen Erwerbslose kommen.

Ein gänzlich anderes Bild ergibt sich darüber hinaus auf der Grundlage der neuesten OECD-Daten, wonach nur noch 1,2 Milliarden Erwerbsabhängige als Angehörige der Kernbelegschaften und des prekären Sektors über Arbeitskontrakte verfügen und infolgedessen im Fall ihrer Erwerbslosigkeit registriert werden.

Hier beläuft sich die Erwerbslosenquote dann »nur« auf 120 Millionen Menschen – hinzu kommen aber weitere 1,8 Milliarden, die in den informellen Sektoren der Weltökonomie unter den Bedingungen absoluter Arbeitsarmut ausgebeutet werden, weil für sie die Erwerbslosigkeit dem Hungertod gleichkäme.

Über den Beitrag dieser Lazarus-Mehrheit des globalen Proletariats zur Entwicklung der globalen Arbeitsproduktivität wissen wir nichts.

Wir können nur festhalten, dass während der vergangenen langen Welle durch die rasante und weltweite Umsetzung der technischen Innovationen eine Situation geschaffen wurde, die einerseits eine Konstellation der strategischen Unterbeschäftigung herbeiführte und andererseits keinerlei Möglichkeiten eröffnete, die durch die Kapitalexpansion vorangetriebene Zerstörung der Subsistenzökonomien des Südens zu kompensieren und den aus ihnen herausgeworfenen Menschen Beschäftigungsmöglichkeiten innerhalb der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionssphäre anzubieten.

Karl Heinz Roth

Interview mit Karl Heinz Roth:
www.wildcat-www.de/aktuell/a075_roth_interview.htm