UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Pastoralismus: Karges Land und reicher Nutzen | Untergrund-Blättle

6215

Der wichtigste intraregionale Wirtschaftsfaktor in Westafrika und der Sahelzone Pastoralismus: Karges Land und reicher Nutzen

Wirtschaft

Mobile Hirtenvölker ziehen mit ihren Nutztieren noch über die abgelegensten Weiden. Diese Wirtschaftsform, der Pastoralismus, ist ökonomisch bedeutend und klimafreundlich, aber auch stark bedroht.

Ziegenverkäufer in Lagos, Nigeria.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Ziegenverkäufer in Lagos, Nigeria. Foto: ISeeAfrica (CC BY-SA 4.0 cropped)

27. Januar 2021
2
0
4 min.
Drucken
Korrektur
Die Anfänge des Pastoralismus lassen sich über mehr als zehn Jahrtausende zurückverfolgen. Er entstand am Rande der frühesten festen Siedlungen im Nahen

Osten. Vermutlich waren es Frauen, die zuerst Ziegen und Schafe domestizierten, indem sie mutterlose Jungtiere aufzogen. Später begannen Teile der Bevölkerung, den Herden zu saisonalen Weidegebieten in der Wüste zu folgen. Sie bildeten den Ursprung zahlreicher Hirtenkulturen, die seither mit ihren Nutztieren Produkte wie Fleisch, Milch, Wolle, Häute, Dünger und Brennstoff erzeugen.

Der Begriff Pastoralismus beschreibt eine ökonomische Tätigkeit und eine kulturelle Identität. Gemeint ist die häufig mobile und extensive Haltung von lokal angepassten Tieren auf natürlich gewachsenem Busch- und Grasland. Auf jedem Kontinent der Welt – vor allem in den trockensten, steilsten, kältesten und heissesten Gebieten – gibt es Hirtenvölker, die mit Herden von Alpakas, Kamelen, Rentieren, Rindern, Schafen, Wasserbüffeln, Yaks und Ziegen die Gebiete der Erde bewirtschaften, die kaum anders genutzt werden können. Es handelt sich um mehr als 26 Millionen Quadratkilometer, das ist mehr als die gemeinsame Fläche der USA, Chinas und der EU.

Trotz der häufig marginalen Produktionsflächen spielt Pastoralismus in vielen Ländern auch ökonomisch eine zentrale Rolle. In Burkina Faso werden mehr als 70 Prozent der Tiere in pastoralen Systemen gehalten, in Niger und im Tschad mehr als 80 Prozent, und im Sudan, in Tansania und Somalia sogar über 90 Prozent. In Indien, dem Land mit der grössten Zahl armer Nutztierhalterinnen und -halter, stammen mehr als die Hälfte der Milch und mehr als 70 Prozent des Fleisches aus pastoralen Systemen.

Geschätzt leben weltweit mehr als 200 Millionen Menschen als Pastoralistinnen und Pastoralisten. Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) geht davon aus, dass etwa eine Milliarde Tiere in pastoralen Gesellschaften leben. In den ganzjährig trockenen und den von jährlichen Trockenzeiten geprägten Gebieten Afrikas und Asiens, aber auch in den Anden Südamerikas und der Arktis sind sie für die Ernährung und das Einkommen vieler Menschen von grosser Bedeutung. Beides, Ernährung und Einkommen, ist bei den pastoralistisch Wirtschaftenden im nördlichen Sahel sicherer als bei den sesshaften Bäuerinnen und Bauern derselben Region.

Viele Pastoralistinnen und Pastoralisten nehmen für das Wohlergehen der Herden grosse Mühen und eine mobile Lebensweise mit wenigen materiellen Besitztümern auf sich. Entscheidungen über die Weideflächen und Wege basieren auf traditionellem Wissen und Erfahrungen mit Tierverhalten, Wetterverhältnissen und dem Nährwert der Vegetation. Wichtig sind auch soziale Netzwerke, die über viele Generationen aufgebaut wurden und Zugang zu bestimmten Weidegebieten ermöglichen.

Pastoralismus ist auch ökologisch von besonderer Bedeutung. So spielt der von Weidetieren in der Landschaft verteilte Dünger eine wichtige Rolle. Er erhält Insekten, die wiederum die Nahrung für Vögel, Amphibien und Reptilien sind. Ausserdem ist das beweidete Grasland eine wichtige Kohlenstoffsenke.

Bedroht wird die pastorale Lebensweise vor allem durch die zunehmende Fragmentierung ihrer Weidegründe. Mit steigender Nachfrage nach Agrarprodukten wurde seit etwa 2005 auf den wertvollsten Weideflächen viel in die industrielle Landwirtschaft investiert. In den seltensten Fällen haben Pastoralistinnen und Pastoralisten selbst ein Mitspracherecht, was mit ihren über viele Generationen genutzten Weideflächen passiert. Häufig reklamiert der Staat den Besitz der Ländereien für sich und entscheidet über Investitionen und Nutzung.

Dabei bräuchten die pastoralistisch Wirtschaftenden in Zeiten des Klimawandels möglichst vielfältige und zusätzliche Möglichkeiten, ihre Mobilität und ihre Weidekonzepte den sich verändernden Futter-, Wasser- und Wetterbedingungen anzupassen. Einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gehen davon aus, dass Pastoralistinnen und Pastoralisten zu den Bevölkerungsgruppen der Welt gehören, die am meisten durch den Klimawandel bedroht sind.

Neue Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse verändern Futter und Wasservorräte, sie beeinflussen das Aufkommen von Krankheiten und die Reproduktionsleistung der Tiere und damit letztlich die Herdengrösse. Der Rückgang der Tierzahlen wiederum wirkt sich auf die Ernährungssicherheit und das Einkommen der Menschen aus. Andere Fachleute halten ihre mobile Wirtschafts- und Lebensweise für besonders geeignet, auf die Folgen des Klimawandels zu reagieren

Pastoralismus erhält sowohl vonseiten der Wissenschaft als auch von UN-Organisationen wie der FAO immer mehr Zuspruch. Doch die politischen Rahmenbedingungen sind in vielen Ländern der Welt unzulänglich. Wenige Länder erkennen pastoralistisch genutzte Weidegründe formell an und integrieren sie in ihre Politik zur ländlichen Entwicklung.

Für Pastoralistinnen und Pastoralisten aber wären Landrechte, die eine gemeinschaftliche Nutzung stärken, und eine Förderung des Wissensaustausches zwischen den Beteiligten die besten Rezepte, um in Zeiten des Klimawandels weiter nachhaltig leben zu können.

Ilse Köhler-Rollefson
Fleischatlas 2021

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY 4.0) Lizenz.

Mehr zum Thema...
Wasser: Der unsichtbare Durst der Tiere - und ihres Futters.
Futterproduktion und FleischverzehrWasser: Der unsichtbare Durst der Tiere - und ihres Futters

07.04.2021

- In allen tierischen Produkten steckt auch ein Wasserfussabdruck. Dabei ist nicht die Gesamtmenge zu betrachten, sondern nach Wasserkategorien zu unterscheiden. Grünes Wasser gibt es genug – auf möglichst wenig blaues und graues Wasser kommt es an.

mehr...
Städtischer Schlachthof in Zürich-Aussersihl.
Massentierhaltung von TierenVeganismus

24.10.2012

- Eine gerechtere Verteilung und die Abschaffung des Kapitalismus würde zwar einige der Ursachen von Hunger beheben, der enormen Verschwendung von Ressourcen und der Ruinierung des Klimas und der Umwelt kann jedoch der Veganismus in viel grösserem Ausmass

mehr...
Europäisches Milchpulver zu Dumpingpreisen für den Weltmarkt.
Bauern in Burkina Faso bangen um ihre ExistenzEU-Milchschwemme schadet Bauern in Afrika

18.05.2016

- In Europa gibt es viel zu viel Milch. Überschüsse landen als Milchpulver in Afrika, wo die Billig-Ware lokale Betriebe zerstört.

mehr...
Mehr Verständnis für den Wolf

01.12.2016 - Die Rückkehr der Wölfe in unsere Gefilde ist irgendwie spektakulär. Ein Wesen, dass die Menschen hier nur noch als Märchenwesen oder aus dem Zoo kannten.

Vortrag von Christian Koeder: Veganismus – für die Befreiung der Tiere

18.07.2019 - Der Ernährungswissenschaftler Christian Koeder stellte am 6. Juli 2019 in Mannheim auf der Veranstaltung "Vegan im Quadrat" sein Buch vor, das den Titel "Veganismus" trägt.

Dossier: Indien
A.Savin (Wikimedia Commons ·WikiPhotoSpace) (Licence Art Libre)
Propaganda
Retour à la normale

Aktueller Termin in Berlin

Solicafé Schlürf // Regenbogencafé

Hallo, heute wieder Kaffee und Kuchen (und/oder Sandwiches) im Schlürf gegen Spende, 12-18 Uhr.

Dienstag, 30. Mai 2023 - 12:00 Uhr

Regenbogencafe, Lausitzer Str. 22a, 10999 Berlin

Event in Düsseldorf

Schumann goes Hip-Hop: Rap-Workshop

Dienstag, 30. Mai 2023
- 17:30 -

Zakk

Fichtenstraße 40

40233 Düsseldorf

Mehr auf UB online...

Gespräch mit Ulrike Guérot im Volkshaus Zürich.
Vorheriger Artikel

Ein Gespräch über die Verengungen des gesellschaftlichen Diskurses

Zürich: Ulrike Guérot zu Gast bei Linksbündig

Ein explizit queeres Datingformat ist die Produktion „Princess Charming“. Deutscher Fernsehpreis 2021 für die Macher:innen Kirsten Petersen, Irina Schlauch, Nina Klink.
Nächster Artikel

Den Traumprinz in 10 Folgen finden?

Trash TV – harmlose Unterhaltung oder pure Ideologie?

Untergrund-Blättle