Der freie Markt und sein Staat Wer kann sich den Kapitalismus überhaupt noch leisten?

Wirtschaft

Glaubt man den offiziellen Ansagen, dann können grosse Teile der Gesellschaft ihren Lebensunterhalt angesichts der Inflation nicht mehr bestreiten, sind also auf staatliche Nothilfe angewiesen.

Wer kann sich den Kapitalismus überhaupt noch leisten?.
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Wer kann sich den Kapitalismus überhaupt noch leisten?. Foto: Los Paseos (CC BY-SA 2.0 cropped)

14. September 2022
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Kapitalismus heisst hierzulande Marktwirtschaft, gern auch mit dem Zusatz „sozial“, die nach Angabe ihrer Vertreter und Verteidiger für die bestmögliche Versorgung der Menschen mit den benötigten Gütern steht. Zurzeit zeugt diese Wirtschaftsweise allerdings von einer recht mangelhaften Versorgung grosser Teile der Bevölkerung, da die lebensnotwendigen Dinge für viele unbezahlbar geworden sind – und es weiterhin noch werden sollen.

Das liegt nicht daran, dass es diese Güter nicht geben würde. Statistiken der Ökonomen zeigen, dass der Reichtum im Lande immer noch – wenn auch nicht mehr sehr stark – wächst, während die Beschäftigtenzahlen Rekordhöhen aufweisen. Und dennoch können viele, die diesen Reichtum mit erarbeitet haben, sich alles Mögliche nicht leisten und sind auf Unterstützung angewiesen.

Da könnten doch bei so manchem Zweifel aufkommen bezüglich der Qualität dieser Wirtschaftsweise, die als alternativlos gilt, obwohl es Alternativen gibt. Sogar der staatstreue Ökoprotest wartet ja seit einiger Zeit mit der – wissenschaftlich beglaubigten – Erkenntnis auf, dass die Menschheit ohne „system change“ auf den Abgrund zutreibt...

Der alternativlose Kapitalismus

Alternativlos ist der Kapitalismus für viele Bürger im Lande in einem ganz praktischen Sinne: Sie stehen vor der Situation, dass alles Geschäftsmittel, also Eigentum von Händlern und Produzenten, ist und sie damit von dem, was sie zum Leben brauchen, ausgeschlossen sind. Die einzige Alternative, die sie haben, besteht darin, sich selber als Arbeitskraft zu verdingen, um an das Geld zu kommen, das sie zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes brauchen. Ums Geld dreht sich eben alles in dieser wunderbaren Wirtschaftsweise. Alle „müssen es wollen – mit verheerenden Folgen für die Mehrheit“, wie es jüngst in einer Artikelreihe bei Telepolis hiess.

Die Zwangslage vermögensloser Menschen wird von den meisten gar nicht als solche wahrgenommen, gilt sie doch selbstverständlich als die Normalität – und nicht als Armut. Abhängig sind Menschen in dieser Lage von Arbeitgebern, die ihre Arbeitskraft nutzen wollen, weil sie durch deren Anwendung ihren Reichtum mehren können. Diese Abhängigkeit kommt durchaus einem Gewaltakt gleich, wie jüngst ein Sozialmediziner festhielt:

„Mahatma Gandhi hat einmal gesagt: 'Armut ist die schlimmste Form von Gewalt'. Wir haben das Geld, wir sind ein reiches Land.“ (Gerhard Trabert, SZ, 29.8.22)

Mit dem „Wir“ unterstellt der Experte allerdings eine Gemeinsamkeit in dieser Gesellschaft, die es nicht gibt – schliesslich redet er von der existierenden Armut. Wenn sie in einem reichen Land zuhause ist, muss sie sich für jemandem lohnen. Dies ist ja auch die Bedingung, unter der der Einsatz von Arbeitskräften stattfindet.

Der Lohn der Beschäftigten stellt für Arbeitgeber eine Kost dar, die den Gewinn und die Freiheit der Kalkulation mit den Preisen beschränkt. Deshalb orientieren sich die Löhne und Gehälter nicht an dem, was die so Beschäftigten zum Leben brauchen, sondern am Geschäftserfolg. Daher bedarf es auf Seiten der für Lohn Arbeitenden immer einiger Einteilungskünste, um mit dem Geld über die Runden zu kommen. Wenn jetzt staatlicherseits über die Notwendigkeit debattiert wird, Entlastungspakete für Beschäftigte, Rentner, Arbeitslosengeldbezieher, Auszubildende und Familien zu schnüren, dann ist dies die amtliche Bestätigung, dass das Resultat von Lohnarbeit ebenfalls Armut ist.

Die Mehrzahl der Bürger befindet sich in der Marktwirtschaft jedoch in einer doppelten Rolle, als Arbeitnehmer müssen sie billig sein, als König Kunde sollen sie durch Kauf den Produzenten und Händlern dazu verhelfen, das in die Waren investierte Geld mit Gewinn wieder in ihre Kassen fliessen zu lassen. Schliesslich gehört der von den Arbeitnehmern produzierte Reichtum nicht ihnen selbst, sondern ihren Anwendern, und um an Teile dieses Reichtums zu gelangen, müssen sie die Produkte kaufen.

In dieser Rolle erweisen sie sich oft genug als Versager, da sich ihre beschränkte Zahlungsfähigkeit immer wieder als Schranke geltend macht, wenn es darum geht, den Ansprüchen der Wirtschaft in Form hoher Preise zu genügen. Und so kommt es zu Stockungen im Gang des Geschäfts. Dann droht nicht nur ein bisschen Rezession, sondern dann kommt es unter Umständen zu einer regelrechten Krise des Kapitalismus.

Dass regelmässige Krisen zum Gang des marktwirtschaftlichen Geschäfts gehören, ist gewusst und drückt sich in der Besprechung des Konjunkturverlaufs als Abfolge von Aufschwung, Boom, Abschwung, Rezession und Krise aus. Dennoch sollen die Krisen immer einer besonderen Situation geschuldet sein. Mal war es der Ölpreis, dann die Spekulation auf die Techno-Konzerne – die dot.com-Blase – oder die nicht zurückgezahlten Hypotheken der kleinen Häusle-Besitzer, die die Finanzkrise hervorgerufen haben sollen; dem folgte Corona – und jetzt ist Putin an allem schuld, obgleich es sich um eine Krise handelt, die sich, wie viele vor ihr in der Geschichte des Kapitalismus, als folgerichtige Etappe im Konjunkturverlauf abzeichnet.

Schliesslich ist Gas nicht einfach knapp, sondern teuer, ebenso Strom, Lebensmittel und Mieten. Konsumgüter der gehobenen Sorte bleiben in den Regalen, weil die ins Auge gefassten Käufer sie sich nicht leisten können. Produkte finden zunehmend keine Abnahme und der Markt stockt, weil die gesammelte Kaufkraft zu gering ist – und gleichzeitig zu viel da ist.

Es gibt auf der einen Seite zu viel Geld, das keine lohnende Anwendung findet, und auf der anderen Seite massenhaft Menschen, die sich vieles nicht leisten können. Da gibt es Fabriken, die viele nützliche Dinge herstellen könnten, aber weil sich die Produktion nicht lohnt, stillgelegt werden. Da gibt es viele Menschen, die arbeiten wollen und müssen, aber entlassen werden, weil sie nicht lohnend eingesetzt werden können. All dies wird nicht bestritten, sondern offiziell angekündigt, wenn von einer drohenden Rezession die Rede ist, die sich dann in den nächsten Monaten verschärfen soll:

„Die deutsche Wirtschaft wächst im zweiten Quartal dieses Jahres überraschend um 0,1 Prozent. Es könnte jedoch die letzte positive Nachricht vor Beginn einer längeren Talfahrt gewesen sein.“ (SZ, 26.8.22)

Obgleich dies alles bekannt und nicht neu ist, halten sich dennoch die immer gleichen Ideologien über die Wirkungsweisen des Marktes und seine positiven Seiten.

Und seine Ideologien

Damit der Markt seine segensreichen Wirkungen für die Menschen entfalten kann, brauchen die Güter nach dieser Vorstellung Preise, die dafür sorgen sollen, dass sie dorthin gelangen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Demnach werden die Güter immer am dringendsten von denen gebraucht, die über Geld verfügen und sich den Kauf leisten können. Menschen mit kleinem Einkommen oder ohne eigene Mittel haben nach dieser Logik offenbar keine Bedürfnisse – oder haben eben keine Bedürfnisse zu haben.

Wer sich das Heizen nicht leisten kann, kann ja auch einen Pullover anziehen, so die Logik. Man muss eben seine Bedürfnisse dem Geldbeutel anpassen und nicht umgekehrt (was jetzt, in Zeiten einer Energiekrise, auch noch als nationaler Dienst verbrämt wird).

Hohe Preise, wie sie zurzeit allenthalben beklagt werden, wie auch niedrige Preise sollen nicht einfach ein Mittel sein, Marktanteile zu erobern und seinen Gewinn zu realisieren, sondern Anreizcharakter haben, also ganz unabhängig von den Akteuren den Markt steuern. Sind die Preise hoch, werden mehr Güter hergestellt und verbilligen die Ware, sind sie billig und nicht so profitabel, wird weniger hergestellt. Aus Sicht der Ökonomen ist der Preis einerseits das Ergebnis der Marktsituation und andrerseits sein Steuerungsmechanismus. Deshalb ist eigentlich jeder Preis angemessen und damit leben wir immer in der besten aller Welten.

Für diejenigen, die nicht zu den Produzenten oder Händlern gehören bilden die Preise jetzt einen Anreiz, Energie zu sparen und sich einzuschränken. Kalt duschen soll ja erfrischend sein und soll auch noch der Umwelt dienen!

Wenn die hohen Preise oder die Inflation beklagt werden, wird meist unterstellt, dass man hier so etwas wie einen selbsttätigen Marktmechanismus vor sich hat, der sich irgendwie von selbst ergibt. So fallen die Erklärungen für die Inflation in der Regel sehr dürftig bzw. zirkulär aus: „Die Inflation in der Euro-Zone hat sich im August auf dem hohen Niveau weiter beschleunigt und einen Rekordwert erreicht. Gegenüber dem Vorjahresmonat erhöhten sich die Verbraucherpreise um 9,1 Prozent… Getrieben wurde die Teuerung erneut durch den starken Anstieg der Energiepreise. Der Preisauftrieb bei Lebens-und Genussmitteln beschleunigte sich.“ (SZ, 1.9.22)

Interessant: Die Inflation gibt es, weil die Preise für Energie, Mieten und Lebensmittel gestiegen sind. Mit anderen Worten, die Preise steigen, weil sie steigen. Und das gilt hierzulande als ökonomischer Sachverstand! Dabei fallen Preise nicht vom Himmel, sondern werden von Menschen gemacht. Gelegentlich tauchen in den Meldungen dann auch die zuständigen Akteure als Institutionen auf, wenn von Gas-, Strom- oder Nahrungsmittelbörsen die Rede ist:

„Das zeichnet sich an den Terminbörsen ab: Stromkontrakte zur Lieferung im kommenden Januar waren in dieser Woche doppelt so teuer wie noch im Juli und um ein Vielfaches teurer wie im langjährigen Durchschnitt.“ (WAZ, 26.8.22)

An den Börsen handeln Investoren, die sich in grossem Umfang die Verfügung über Gas, Öl, Strom oder Schweinbäuche und Getreide sichern, mit viel Geld in der Erwartung, diese Güter in Zukunft mit Gewinn veräussern zu können. Dazu brauchen sie weder Lagerhäuser, Schiffe oder Tanksäulen. Mit dem Kauf sichern sie sich das Zugriffsrecht auf diese Güter, die zum Zeitpunkt des Handels noch nicht einmal produziert sein müssen.

Solche Akteure schliessen damit alle anderen von der Verfügung über diese Güter aus und können daher anderen die Preise diktieren. Von der Spekulation an den Börsen ist der Gang des Geschäftes der gesamten Gesellschaft abhängig gemacht.

Der freie Markt und sein Staat

Vor allem liberale Politiker betonen immer wieder, wie wichtig das freie Wirken des Marktes ist und wie sehr staatliche Eingriffe in dieses sensible Gebilde stören. Dabei macht die Diskussion um die Energiepreise gerade deutlich, dass es diesen Markt ohne Staat gar nicht gäbe. Schliesslich wurde der Strommarkt durch Beschlüsse der früheren schwarz-gelben Regierung unter Wirtschaftsminister Rexrodt liberalisiert und damit zu einer Geschäftssphäre gemacht, die vorher von halbstaatlichen Monopolisten bestimmt wurde. Nun wird die Neuordnung des Strommarktes gefordert:

„Ursula von der Leyen ist am Montag und Dienstag viel herumgereist – und bei ihren Auftritten verbreitet die Kommissionspräsidentin die Botschaft, dass Brüssel bald etwas gegen die hohen Strompreise tun werde… Daneben müsse die Europäische Union 'eine tiefgreifende, strukturelle Reform des Strommarktes machen.'“ (SZ, 31.8.22)

Welche Massstäbe dort gelten, ist Gegenstand öffentlicher Debatten: „Der Anstieg der Stromnotierungen liegt daran, dass sich an Europas Energiebörsen der Preis an den Kosten des teuersten Kraftwerks orientiert, das zur Deckung der Nachfrage benötigt wird… Zugleich beschert dieser Börsenpreis günstigen Öko-, Atom- und Kohlestromanbietern riesige Gewinne.“ (SZ, 31.8.22) Dort setzt dann die Diskussion um die „Übergewinnsteuer“ an. Ganz so, als ob diese Gewinne nicht das Ergebnis staatlichen Handels wären, sondern ein Resultat des Marktes, auf das der Staat jetzt reagieren müsse.

Zu den Vorstellungen über den Kapitalismus gehört auch die Ideologie, dass der Gewinn das Ergebnis unternehmerischen Risikos sei. Unternehmen riskieren ihr Geld und werden bei Erfolg belohnt, so der Gedanke. Bei Misserfolg droht ihnen der Untergang. Das mag zwar auf den Bäcker an der Ecke zutreffen, nicht jedoch auf Unternehmen, die als relevant für die nationale Ökonomie angesehen werden, wie das Beispiel von Uniper wieder einmal deutlich macht. Uniper hat im grossen Stil Gas aus Russland bezogen und war daher auch in der Lage, Gas als Grossabnehmer billig zu bekommen. Dieses Gas hat Uniper mit Aufschlag an Stadtwerke und Unternehmen weiterverkauft und so sein Geschäft gemacht. Nun bleiben die billigen russischen Gaslieferungen aus und die Rechnung von Uniper geht nicht mehr auf, muss das Unternehmen doch an den Börsen teures Gas einkaufen, um seinen Lieferverpflichtungen gegenüber seinen Kunden nachzukommen. Die anstehende Insolvenz – weil das Geschäft nicht mehr aufgeht – will der Staat aber in Gestalt seines grünen Wirtschaftsministers um jeden Preis verhindern:

„Zu dem insgesamt 15 Milliarden Euro schweren Rettungspaket gehört der Einstieg des Bundes mit 30 Prozent bei dem MDax-Konzern, was die ausserordentliche Hauptversammlung aber erst noch beschliessen muss.“ (WAZ, 30.8.22)

Hat der Staat doch die Versorgung der Nation vom Gelingen dieses Geschäfts abhängig gemacht. Mit der Gasumlage soll nun das Geschäft wieder profitabel gemacht werden, wofür die Verbraucher in Haftung genommen werden. Damit stellt der Wirtschaftsminister mit den Sorgenfalten auf der Stirn klar, worauf es in dieser Gesellschaft ankommt: Das Geschäft muss gelingen, auch wenn die Versorgung der Bürger darunter leidet, weil die sich den Stoff dieses Geschäfts – in diesem Fall Gas – nicht mehr leisten können.

Gewinner versus Verlierer und ihre Betreuer

Dass die hohen Preise nicht nur Haushalte und Betriebe in Schwierigkeiten bringen, sondern sich für einige direkt lohnen, deren Gewinne enorme Zuwächse aufweisen, wird nicht verschwiegen. So melden nicht nur RWE und Steag hohe Gewinne (vgl. WAZ, 24.8.22).

Selbst wenn es zur Abschöpfung dieser Gewinne durch eine Übergewinnsteuer käme, hätte diese Einnahmen zunächst der Staat. Wofür er diese Mittel einzusetzen gedenkt, bleibt dann ganz den Politikern überlassen. Dringliche Vorhaben von Seiten der Politik gibt es ja genug – von der angestrebten Aufrüstung der Bundeswehr über die Sanierung des Haushaltes hin zur schwarzen Null, der stärkeren Unterstützung der Ukraine oder des deutschen (Automobil-)Standorts zur Bewältigung der energiepolitischer Transformation bis hin, zuletzt, zu den Entlastungsprogrammen für bedürftige Untertanen. Vorher steht aber mit der Inflation zumindest der Staat als ein grosser Gewinner fest, dessen Einnahmen mit steigenden Preisen und Löhnen automatisch anwachsen. Schliesslich profitiert er prozentual von jedem Geschäft in Form der Mehrwertsteuer und ebenso von den nominal steigenden Löhnen und Gehältern, auch wenn diese real weniger Kaufkraft darstellen.

Da viele Bürger sich schon jetzt wenig und in Zukunft noch weniger leisten können, gilt ihnen die Anteilnahme aller Seiten. So wird der nächste Winter in den schwärzesten Farben ausgemalt – nicht ohne dem Publikum zu versichern, dass alles getan werde, um die sicher eintretenden Schäden abzumildern. Den Schaden zu beseitigen oder zu beheben, verspricht eigentlich niemand. Von Seiten der Politik wird gleich betont, dass der Staat nicht alle Teuerungen ausgleichen könne.

Mit den Entlastungspaketen soll die Schädigung erträglich gemacht werden für diejenigen, die als besonders Betroffen gelten. Und streng genommen wird ihnen noch nicht einmal das, die Kompensation der Schäden, versprochen, wie es letztens im Magazin der GEW hiess: Kanzler Scholz verspricht ja vor allem Respekt und Anerkennung angesichts der schweren Zeiten – getreu seiner ständig wiederholten Devise „You'll never walk alone“. „Walk on through the rain, though your dreams be tossed and blown“ geht's bekanntlich weiter im Lied. Auf gut Deutsch: Auch wenn alles in die Hose geht – du bist nicht allein! Und die Härten treffen nicht wenige in dieser Gesellschaft: „Weil die Energiepreise explodieren, dringt die SPD auf ein neues Entlastungspaket. Das Kernanliegen ist, den sozial Schwachen gezielt mit Direktzahlungen zu helfen: Rentnerinnen und Rentner, Alg-I-Empfängern, Studierenden, Auszubildenden. Die Auszahlung der Direktzahlungen orientiert sich offenkundig nach der Energiepauschale, die Arbeitgeber demnächst an die Arbeitnehmerinnen auszahlen.“ (WAZ, 30.8.22)

Mit den Entlastungspaketen wird deutlich, dass der grösste Teil der Gesellschaft ohne staatliche Unterstützung die hohen Preise nicht zahlen kann, somit eine Ansammlung von Sozialfällen darstellt. Den Anspruch, die durch die Inflation verursachten Schäden auszugleichen, haben diese Massnahmen nicht, sie sollen, siehe das Kanzler-Motto, hinnehmbar gemacht werden. Sprich: Die Bürger sollen sich die dauerhafte Schädigung durch leichte Milderungsmassnahmen abkaufen lassen. Das scheint auch billig zu haben zu sein:

„Erfolgsmodell 9-Euro-Ticket – Mal günstig an die Ostsee, zur Arbeit oder zu Freunden: Das 9-Euro-Ticket hat in den vergangenen drei Monaten bundesweit 52 Millionen Abonnenten in Busse, Regionalzüge, S-Bahnen und U-Bahnen gelockt.“ (WAZ, 30.8.22)

Offenbar kann ein Grossteil der Bevölkerung eine Reise an die Ostsee, zur Arbeit oder zu Freunden nur schwer finanzieren und ist bereit, einiges an Unannehmlichkeiten wie volle und verspätete Züge etc. in Kauf zu nehmen, um auch mal zur Ostsee zu gelangen. Was da als Erfolgsmodell gefeiert wird, ist zudem keine Dauereinrichtung, sondern als begrenzte Massnahme ein Trostpflaster für all diejenigen, denen die Inflation das Leben schwer macht. Auch die Interessenvertretung der deutschen Arbeitnehmer in Form des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Mitgliedsgewerkschaften betont, dass man zwar einen Ausgleich für die Preissteigerungen anstrebt, wobei die Forderungshöhe bereits signalisiert, dass man bereit sind, auch unterhalb der Inflationsgrenze abzuschliessen.

„IG-Metallchef Hofmann hatte im Vorfeld der Forderungsempfehlung immer wieder klargemacht, dass sich die Auswirkungen der hohen Inflation auf die Beschäftigten nicht allein mit Mitteln der Tarifpolitik ausgleichen liessen. Seine Gewerkschaft fordert deshalb von der Bundesregierung neben einem Gaspreisdeckel eine Senkung des Strompreises und für das kommende Jahr ein zusätzliches Entlastungspaket für die Verbraucher.“

(handelsblatt.com/politik/deutschland/tarifpolitik-bei-hoher-inflation-ig-metall-fordert-wohl-hoeste-lohnerhoehung-seit-14-jahren/28439050.html) Gleich zu Beginn der Metalltarifrunde hat also der oberste Vertreter der IGM, der weltweit grössten organisierten Arbeitnehmervertretung mit 2,26 Millionen Mitgliedern, betont, dass es eine Überforderung der Tarifpolitik sei, einen vollständigen Ausgleich zu schaffen. Auch so kann man zum Ausdruck bringen, dass einem als Gewerkschafter das Wohlergehen der Wirtschaft dringlicher ist als ein Schadensausgleich für die eigenen Mitglieder. Schliesslich sehen die Gewerkschaftsvertreter die Abhängigkeit der Arbeitnehmer vom Gang des Geschäftes längst nicht mehr als einen Mangel, der den Lohnarbeitern immer wieder zum Schaden gereicht, sondern als die positive Geschäftsgrundlage, auf der es zu verhandeln gilt.

Somit war das Ergebnis abzusehen: „Weniger Geld für Arbeitnehmer – Reallöhne sinken wegen der Inflation um 3,6 Prozent.“ (SZ, 24.8.22) Dem abzuhelfen, sehen sich die Gewerkschafter nicht gefordert, sondern verweisen auf die Politik, die gerade die schweren Zeiten ankündigt.

Die Opfer der Inflation können sich auch des Beistands der Kirchen sicher sein, die immer schon den Untertanen empfohlen haben, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Sie stellen ihren Beistand in traditioneller Form unter Beweis:

(Die EKD-Ratsvorsitzende) „Kurschuss kündigte an, dass die evangelische Kirche im kommenden Winter Wärmeräume und Suppenküchen anbieten werde, sollten mehr Menschen angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten in eine Notlage geraten." (WAZ, 25.8.22)

Sicherlich werden die Armen auch ins Gebet eingeschlossen und auf Gottes Hilfe verwiesen, was ja jedem, der's glaubt, den nun wirklich bombensicheren Trost „You'll never walk alone“ verschafft.

Auch die Medien begleiten die sich abzeichnende Notlage ihrer Leser und Zuschauerschaft mit praktischen Spartipps, die sie nicht neu erfinden müssen. Schliesslich tun sich viele Bürger schon seit Jahren schwer, mit ihrem beschränkten Einkommen über die Runden zu kommen. Und so sind die Lüftungs- und Heizungstipps, die Empfehlungen zum billigen Einkauf oder günstigen Tanken (vgl. WAZ, 25.8.22) schon seit Jahren im Umlauf und bekommen nachgerade etwas Kalauerhaftes. Spitzenreiter dürfte wohl Bild sein mit dem heissen Tipp: Statt im Winter zu heizen in Urlaub fahren!

Gewarnt wird allenthalben vor einem sich abzeichnenden Wutwinter: „'Wutwinter', 'heisser Herbst' – in diesen Wochen wird gerne gemutmasst, ob wegen der Energiekrise und den Preissteigerungen bald soziale Unruhen drohen.“ (Benedikt Peters, SZ, 24.8.22)

Womit gemeint ist, dass die Bürger anfangen könnten, sich gegen die ständige Verarmung zu wehren und auf die Strasse zu gehen: „In diesem August hat im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine neue Einheit ihre Arbeit aufgenommen. Eine sogenannte Sonderauswertung soll herausfinden, wie heiss der Herbst auf deutschen Strassen nun wirklich werden wird.“ (SZ, 30.8.22)

Dabei wird immer wieder betont, dass Protest und Demonstration in diesem Staat erlaubt sind. Sie müssen sich aber – Achtung! – im Bereich des Erlaubten bewegen, d.h. nicht darauf berechnet sein, irgendwie die Politik zu etwas zwingen zu wollen.

Wenn nun auch die Linkspartei hervorhebt, dass sie bestrebt ist, den möglichen Protest in demokratische Bahnen zu lenken, dann bedeutet dies, dass alles dafür getan werden soll, dass das Vertrauen in die Politik nicht erschüttert wird. Deshalb hat der Verfassungsschutz auch schon einen neuen Handlungsbereich für sich entdeckt: den der Delegitimierung. Was nichts anderes bedeutet, als dass schon jedes Hinterfragen der herrschenden Politik, das deren Anliegen nicht teilt und die Legitimierung mit den bekannten – alternativlosen – Sachzwängen nicht glaubt, so etwas wie einen Straftatbestand darstellt.

So rüstet sich die Nation für einen Winter, der einigen enorme Gewinne bescheren wird, während andere sehen müssen, wie sie ihren Alltag auf die Reihe kriegen. Eins soll in jedem Fall gesichert werden, dass die Betroffenen dies allenfalls mit ein bisschen Volksgemurmel hinnehmen. Zuerst erschienen bei Telepolis

Suitbert Cechura