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Freihandelsabkommen CETA: Interview mit Axel Flessner

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Freihandelsabkommen CETA Interview mit Axel Flessner

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Wirtschaft

Interview mit Prof. Dr. Axel Flessner, einem emeritierten Professor für deutsches, europäisches und internationales Privatrecht an der Humboldt-Universität in Berlin.

S-Parteivorsitzender Sigmar Gabriel: «CETA ist ein gutes Abkommen. Es wäre falsch, es grundsätzlich infrage zu stellen oder abzubrechen.»
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S-Parteivorsitzender Sigmar Gabriel: «CETA ist ein gutes Abkommen. Es wäre falsch, es grundsätzlich infrage zu stellen oder abzubrechen.» Foto: Amekrümel (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 28. November 2014
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KorrekturKorrektur
Herr Professor Flessner, was sind oder waren Ihre hauptsächlichen Forschungsgebiete?

Flessner: Ich bin heute Professor im Ruhestand und kann mir meine Forschungsfelder frei wählen. Zu meiner Amtszeit war ich Professor für deutsches, europäisches und internationales Privatrecht in Berlin an der Humboldt-Universität. Auch seitdem arbeite ich vorrangig auf diesen Gebieten. Ich beschäftige mich aber auch, gelegentlich notgedrungen, mit verfassungsrechtlichen Fragen. Was mich hier unter anderem interessiert, ist die verfassungsrechtliche Ordnung der Demokratie, namentlich im Hinblick auf direkte Demokratie. Mein Interesse an Investitionsschutzabkommen rührt daher, dass die Meldungen darüber seit etwa einem Jahr mich als Beobachter der politischen Szene irritiert haben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Staaten mit demokratischer Verfassung sich für ihre Gesetze und Regierungsakte qua selbstgeschlossener Verträge in die Rolle von schadensersatzpflichtigen Beklagten gegenüber Privatpersonen und privaten Unternehmen bringen lassen. Das resultierte bei mir in Nachforschungen.

Mit den politischen Irritationen stehen Sie ja nicht allein. Sie sind auch bei vielen NGOs verbreitet. Aber das Besondere an Ihrer Betrachtungsweise scheint mir die Verbindung von rechtlichen Fragen und politischer Irritation zu sein. Speziell bei der Verwunderung darüber, wie Staaten sich freiwillig unter fremde Richter stellen können.

Flessner: Was mich stört, ist der politische und wirtschaftliche Angriff auf die Demokratie und auf die Rechtsstaatlichkeit. Zu diesen Begriffen enthält ja das deutsche Grundgesetz einigermassen klare Aussagen, und die Begriffe des Grundgesetzes sind in Deutschland justiziabel, man kann Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bei den Gerichten einklagen. Und da ich mich verfassungsrechtlich auch mit Fragen des Bürgerlichen Rechts, die zunächst keine verfassungsrechtlichen zu sein schienen, beschäftigt und darüber publiziert habe, habe ich hier einfach einmal weitergedacht. Inwiefern ist das, was hier politisch, also demokratiepolitisch und rechtsstaatpolitisch gegen diese Investitionsschutzabkommen vorgebracht wird, auch juristisch fassbar und einklagbar?

Sie stimmen mir sicher darin zu, dass das Grundgesetz die Bundesrepublik Deutschland zur Offenheit gegenüber dem Völkerrecht und internationaler Zusammenarbeit anhält. Liesse sich nun nicht so argumentieren: Da wir diese Investitionsschutzabkommen schon seit Jahrzehnten haben, hat sich hier nicht Gewohnheitsrecht gebildet, nach dem Private die Staaten vor einer Schiedsstelle verklagen, also die Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS) verlangen können?

Flessner: Ich glaube, dass hier kein Gewohnheitsrecht entstanden ist. Wir müssen hier unterscheiden zwischen dem Völkerrecht und dem deutschen Verfassungsrecht.

Im Völkerrecht kann sich durch die Praxis der Staaten und auch durch Zustimmung in der einschlägigen juristischen Literatur ein Völkerrechtsgewohnheitsrecht bilden. Ich möchte bezweifeln, dass sich zugunsten dieser Abkommen ein solches Gewohnheitsrecht gebildet hat, denn diese Schiedsgerichte werden immerhin eingesetzt auf Grund von völkerrechtlichen Verträgen, die die Staaten oder Staatengruppen wie die Europäische Union mit anderen Staaten schliessen. Das heisst, man vertraut selbst im Völkerrecht oder in der Staatenpraxis nicht auf das Gewohnheitsrecht, sondern man regelt das in Verträgen. Das ist das Völkerrecht. Es sind aber immer Regierungen, die diese Verträge abschliessen, und Parlamente, die die Verträge billigen (so auch in Deutschland). So dass man sich fragen kann, ob durch diese vielen Verträge, die Deutschland mit parlamentarischer Zustimmung abgeschlossen hat, eine Art Verfassungsgewohnheitsrecht entstanden ist, welches sagt: Auch wenn die Verfassung im Übrigen vielleicht manche Verträge nicht gutheissen kann, aber nachdem das nun einmal so lange praktiziert worden ist, haben wir ein Gewohnheitsrecht, das uns erlaubt, diese Verträge abzuschliessen.

Dazu ist zu sagen: Nach überwiegender Meinung in der deutschen Verfassungsrechtslehre gibt es kein Verfassungsgewohnheitsrecht in Konkurrenz oder im Widerspruch zum Grundgesetz. Denn das würde bedeuten, dass das Grundgesetz, das in Artikel 79 genau regelt, auf welchem Wege die Verfassung geändert werden kann, überspielt würde. Man kann also nicht durch eine Staatspraxis den Artikel 79 GG überspielen, der sagt, eine Änderung der Verfassung erfordert eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Das kann nicht sein. Dies wird allerdings von manchen infragegestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat in ganz anderen Zusammenhängen einmal gesagt, dass eine konstante Staatspraxis, wie bestimmte Vorschriften des Grundgesetzes auszulegen sind, für die künftige Auslegung dieser Vorschriften massgeblich sein kann. Man könnte sagen: Wir haben hier eine Art Verfassungsgewohnheitsrecht innerhalb der Verfassung selbst.

Sehr vereinzelt gibt es in der Literatur auch die Auffassung, dass etwas, das aus dem Völkerrecht kommt, bei einem grundsätzlich völkerrechtsfreundlichen Grundgesetz, gerne aufgenommen wird; es gibt ja einen eigenen Artikel in der Verfassung (Art. 25 GG), wonach die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts Bestandteil auch des Bundesrechts sind. Soll daraus herzuleiten sein, dass der Grundsatz, das Völkergewohnheitsrecht könne die Verfassung nicht überspielen, etwas modifiziert werden muss? Das ist nicht die herrschende Auffassung. Selbst diejenigen Autoren in Lehrbüchern und Kommentaren zum Grundgesetz, die der Entstehung von Verfassungsgewohnheitsrecht freundlicher gesonnen sind, erkennen doch an, das dies allenfalls in Frage kommt für die Auslegung der Grundrechte, also etwa Artikel 2 (Freiheit der Persönlichkeit) oder Artikel 12 (Berufsfreiheit) oder Artikel 14 (Schutz des Eigentums). Aber selbst Autoren, die dies vertreten, haben noch nie gesagt, dass das Verfassungsgewohnheitsrecht entgegen den Aussagen der Verfassung über die Befugnisse der Staatsorgane selbst bestimmen könnte.

Wenn es also um die Beeinträchtigung der Souveränität durch Verpflichtungen geht, die in der Verfassung nicht enthalten und auch nicht aus der Verfassung begründbar sind (etwa die Bundesrepublik wegen ihres hoheitlichen Handelns gegenüber ausländischen Investoren fremden Richtern zu unterstellen), wird niemand zu behaupten wagen, die Bundesrepublik habe, weil sie dies mit ihren vielen Investitionsschutzverträgen schon so lange erlaubt habe, ihre vom Grundgesetz vorausgesetzte Souveränität damit verspielt . Ein Gewohnheitsrecht, das sich gegen die vom Grundgesetz eingerichtete deutsche Staatsorganisation bildet, kann es nicht geben.

Wenn man Ihnen bisher folgt, wird es ja immer erstaunlicher, dass praktisch alle Staaten in bilateralen Verträgen ihre Souveränität in dieser Weise zu beschädigen bereit sind. Wie lässt sich denn das erklären?

Flessner: Meines Erachtens geht es hier um Aussenpolitik, also um Machtverhältnisse. Entstanden sind diese Investitionsschutzabkommen aus der Beziehung zwischen den entwickelten Staaten Europas und den Entwicklungsländern, die vielleicht erst kurz zuvor sich von ihren Kolonialherren gelöst und ihre Selbstständigkeit errungen hatten. Denken Sie nur an das weltweit erste Investitionsschutzabkommen überhaupt, das die Bundesrepublik mit Pakistan geschlossen hat: Das war 1959. Dass in solchen Staaten ein starker Bedarf an Kapitalimport bestand und die politischen Verhältnisse – vor allem rechtlich – noch nicht so gefestigt waren, auch keine lange Tradition in der Verteidigung des eigenen Rechtsstaats (es gab ihn auch noch nicht in allen diesen Staaten) und der eigenen Souveränität bestand, macht es verständlich, dass diese Staaten aus aussenpolitischen Rücksichten und um den Kapitalimport in die Wege zu leiten, hier (wenn man so sagen kann) ein Auge zudrückten oder überhaupt nicht auf die Idee kamen, dass bei einem rechtlich gefestigten, seiner selbst sicheren Staatswesen durch solche Abkommen eine ganz unmögliche Situation herbeigeführt würde.

Und doch bleibt dies noch erstaunlich, dass die kapitalexportierenden Länder nicht die naheliegende Überlegung angestellt haben: Was passiert eigentlich, wenn der umgekehrte Fall eintritt und wir selbst auf der Anklagebank sitzen?

Flessner: Da kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich glaube, man hat einfach nach allgemeiner völkerrechtlicher Regel die Rechtsstellung der beiden vertragsschliessenden Staaten gleichhalten müssen. Man kann hier ja nicht hineinschreiben: Pakistan muss sich verklagen lassen, Deutschland aber nicht. Das geht schon deshalb nicht, weil die Staaten auf dem Boden des Völkerrechts als gleiche Souveräne agieren, die nichts über sich dulden müssen, sondern nur das, was sie miteinander vereinbart haben. Es mochte ausserdem aussenpolitisch geboten sein, damit auch der kapitalimportierende Staat sein Gesicht wahren konnte.

Mir scheint völlig klar, dass kein Mensch im deutschen Parlament (dem das Abkommen ja nur zur Zustimmung im Ganzen, nicht wie andere Gesetze zur Beratung aller Einzelheiten vorgelegt wird) jemals gedacht hat, damit könnte Deutschland einmal auf Millionen- und Milliardensummen wegen seiner verfassungsmässigen Gesetze und Behördenentscheidungen verklagt werden. Es gab sicher keine Vorstellung davon, dass aus diesen Entwicklungsländern jemals ein Kapitalexport kommen würde, der dann mit solchen Abkommen zu schützen wäre. Solche Verträge sind allerdings auch dann noch geschlossen worden, als diese Staaten keine kleinen, gerade erst selbstständig gewordene Entwicklungsländer mehr waren, sondern auch grosse Länder wie Indien.

Auch mit China ist erst in jüngster Zeit ein solcher Vertrag mit diesen Klauseln geschlossen worden. Inzwischen müssten Regierungen und Parlamente und die juristischen Stäbe eigentlich merken, worauf sie sich da eingelassen haben. Hier werden, so ist mein Eindruck, die Augen aber bewusst zugedrückt, nicht weil man den anderen Staat besonders höflich behandeln will, sondern auf Druck der eigenen Wirtschaft. In unserm Fall: Die deutsche Wirtschaft hat an der Beseitigung von Handelshemmnissen in den ausländischen Märkten ein grosses Interesse. Und sie ist ohne Weiteres bereit (das liest man immer wieder), dafür auch Einschränkungen der deutschen Souveränität und der deutschen Demokratie hinzunehmen. Die Wirtschaft war noch nie sehr gut darin, um der Demokratie willen auf Vorteile zu verzichten.

Sie haben, meine ich, an anderer Stelle gesagt, dass die EU in den Verhandlungen zum Investitionsschutz und mit der Verpflichtung für die Mitgliedsstaaten, sich einem eventuellen Schiedsspruch zu unterwerfen, eine Art Selbstermächtigung begehe; das sei ein «ausbrechender Rechtsakt». Ist das auch bei CETA der Fall?

Flessner: Wenn man sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anschaut, gewinnt man hier jedenfalls den Boden für eine solche Argumentation.

Man muss sehen, dass die EU mit diesem Abkommen erstens sich selbst, gleichzeitig aber auch die Mitgliedsstaaten bindet. Die EU hat zwar die alleinige Zuständigkeit, Freihandelsabkommen mit anderen Staaten abzuschliessen, aber nicht für die Bereiche, für die sie intern nicht zuständig ist. Der Investitionsschutz nach dem Wortlaut in CETA gilt auch für sogenannte Portfolio-Investitionen, also Investitionen, die gar nicht die Inhaberschaft oder eine Mehrheitsbeteiligung an einem Unternehmen verschaffen sollen, sondern allein den Besitz von Kapitalmarkttiteln zu Rendite- oder Wertanlagezwecken. Die Kompetenz, auch über solche Investitionen Aussenhandelsabkommen abzuschliessen, hat die EU nicht. Denn in den Artikeln, die der EU die Aussenhandelszuständigkeit übertragen, steht: «für ausländische Direktinvestitionen»; darunter werden Investitionen verstanden, die erstens auf Dauer gehalten werden und zweitens dem Investor die Herrschaft über das Unternehmen geben. Das CETA behandelt aber als schützenswerte Investitionen auch die Portfolio-Investitionen und andere Kapitalanlagen, die dem Investor eine solche Herrschaft über das Unternehmen nicht verschaffen (verlangt wird nur eine gewisse Dauerhaftigkeit, «a certain duration»). Genannt werden hier als Investition zum Beispiel auch Darlehensvergaben an Unternehmen. Man stelle sich jetzt vor, dass das deutsche Unternehmen als Darlehensnehmer insolvent wird und der kanadische Gläubiger im deutschen Insolvenzverfahren ausfällt oder eine Kürzung seiner Forderung hinnehmen muss: die Investition ist beschädigt. Soll das nach CETA angreifbar sein?

Noch schlimmer sieht es bei Steuerfragen aus. Die EU hat auf keinen Fall die Zuständigkeit, Steuern zu erheben und die Besteuerung in den Mitgliedstaaten zu regeln. Sie kann auch nicht mit anderen Staaten Steuerabkommen schliessen. Im CETA ist aber ein eigenes Kapitel über «Taxation», also Besteuerung, enthalten, in dem geregelt wird, unter welchen Umständen der Vertragsstaat auf jeden Fall steuerliche Massnahmen ergreifen darf. Er darf zum Beispiel gegen Steuerhinterziehung vorgehen, er darf bestimmte Techniken der Besteuerungen verwenden und anderes mehr.

Eine kurze Zwischenfrage: Ist die EU denn befugt, einem ihrer Mitgliedsstaaten die eben genannten Rechte zuzubilligen?

Flessner: Eben, das genau ist die Frage. Wie kommt die EU überhaupt dazu, den Mitgliedsstaaten zu «erlauben», bestimmte Dinge zu tun, andere aber nicht? Meines Erachtens greift sie hier ganz eindeutig in den Kompetenz- und Gesetzgebungsbereich der Mitgliedsstaaten über.

Ist die manchmal gehörte Behauptung, die Kultur als Ganzes sei beim CETA ausgenommen, zutreffend?

Flessner: Diese Behauptung ist unrichtig. Nur die Kanadier haben sich diese weitgehende Ausnahme gesichert. Alles in allem: Die Regelung in einem Abkommen auf einem Gebiet, für das die EU nach den Europäischen Verträgen intern eindeutig keine Kompetenz hat, ist die Selbstermächtigung, die beim Bundesverfassungsgericht als «ausbrechender Rechtsakt» angegriffen werden kann.

Würde eine deutsche Regierung, die im Rat der EU einem solchen Abkommen wie CETA zustimmen würde, rechtswidrig handeln?

Flessner: Ja: Der deutsche Vertreter im Rat der EU ist natürlich erst einmal Teil eines Unionsorgans und unterliegt in dieser Eigenschaft dem Unionsrecht. Aber es ist völlig anerkannt, dass die Vertreter der Regierungen im Rat auch dort als Vertreter ihres Herkunftslandes agieren; und daraus ist ohne Weiteres zu schliessen, dass der Vertreter eines Mitgliedsstaates im Rat der Union beiden Rechtsordnungen unterliegt, dem Unionsrecht und – im Fall Deutschland – dem deutschen Recht. Wäre es anders, so wären die Regierungsvertreter im Rat in der Lage, das Verfassungsrecht ihres eigenen Mitgliedsstaates auszuhebeln oder zu umgehen.

Trifft eine so deutliche Beurteilung nicht erst recht auf die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu, denen (wie wir hoffen) das Abkommen zur Abstimmung vorgelegt werden wird?

Flessner: Eindeutig noch mehr. Vorausgesetzt, es ist ein «gemischtes Abkommen», also eines, dem auch die einzelnen Mitgliedsstaaten zustimmen müssen. Man muss CETA als «gemischtes Abkommen» betrachten, allein schon wegen der erwähnten Steuer-Regelungen, für die die Union keine Ermächtigung hat, aber auch wegen der Mitregelung der Portfolio-Investitionen, auch (zu Lasten der EU) der Kultur und wegen weiterer Punkte. Es ist aber im Moment nicht klar, inwieweit die Regierungen der Mitgliedstaaten an der Aushandlung von CETA überhaupt beteiligt waren. Ich habe nirgendwo gelesen, dass in den Verhandlungen über das CETA oder TTIP die Mitgliedsstaaten im Team der Verhandlungsführer vertreten waren. Die Kommission war anscheinend der Überzeugung, sie könne das allein machen.

Wenn das CETA jedoch, vielleicht auf Grund einer Intervention im Rat, doch noch als ein «gemischtes Abkommen» behandelt wird, dann gilt auch jeder einzelne Mitgliedstaat als Vertragsstaat und muss das Abkommen nach seinen internen Verfassungsregeln zur Ratifizierung vorlegen. Jetzt komme ich zu Ihrer Frage: Angenommen, die deutschen Bundestagsabgeordneten stimmen dem CETA zu, dann wäre das aus den genannten Gründen verfassungswidrig. Und das kann in Deutschland beim Bundesverfassungsgericht gerügt werden.

Was muss man sich unter einer solchen Rüge vorstellen?

Flessner: Wir hatten den Fall des Lissabon-Vertrags. Dieser Vertrag war vom Bundestag gebilligt worden, und das Zustimmungsgesetz lag dem Bundespräsidenten zur Unterzeichnung und Verkündung im Bundesgesetzblatt vor. Gegen das Zustimmungsgesetz klagten auf dem Weg der Organklage Fraktionen des Bundestages. Auch Verfassungsbeschwerden wurden von einzelnen Bürgern erhoben. Der Bundespräsident hat es damals nicht darauf ankommen lassen, dass ihm die Unterschrift vom Gericht verboten würde, sondern er erklärte von sich aus, er werde vor der Entscheidung aus Karlsruhe nicht unterschreiben. Wir sehen: Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wurde auf jeden Fall ernstgenommen. Ein solcher Antrag setzt aber voraus, dass der Bundestag erst einmal einen Beschluss gefasst hat. Das wird in unserm Fall CETA wohl geschehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die grosse Koalition ihre eigene Regierung, wenn diese das Abkommen haben will, im Stich lässt. Für etwaige Beschwerdeführer kommt es also darauf an, dann schon bereitzustehen, also sofort, nachdem der Zustimmungsbeschluss erfolgt ist, den Antrag beim Bundesverfassungsgericht in den Briefkasten zu werfen.

Es könnte aber noch andere Möglichkeiten geben, sich zu wehren. Was kann der einzelne deutsche Wähler hier tun?

Flessner: Wenn er Verfassungsbeschwerde einlegt, muss auch er am Briefkasten in Karlsruhe bereitstehen. Es ist der gleiche Vorgang, nur ein anderer Absender; es ist der einzelne Bürger. Das Grundgesetz sagt: Jeder Bürger kann gegen Akte der Staatsgewalt Verfassungsbeschwerde einlegen, die ihn in seinen Grundrechten und einigen anderen ausdrücklich genannten Rechten verletzen. Zu diesen anderen Rechten gehört auch der Artikel 38 GG über die Wahl und die Zusammensetzung des Bundestages. Das Wahlrecht der Bürger ist zwar kein Grundrecht (der Grundrechtskatalog gilt nur von Artikel 1 bis 19 GG); aber auch die Verletzung dieses Rechts des einzelnen Bürgers kann mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden, wenn es darum geht, dass der Bundestag entmachtet wird..

Was wäre dann möglicherweise der Spruch des Bundesverfassungsgerichts?

Flessner: Er könnte bei festgestellter Verfassungswidrigkeit dahin lauten, dass – bei einem Gesetz, das zwar beschlossen, aber noch nicht in Kraft ist – dem Bundespräsidenten verboten wird, das Gesetz zu unterzeichnen.

Das sieht nach einer sehr scharfen Waffe aus.

Flessner: Natürlich, und deshalb wird sie auch vom Bundesverfassungsgericht nicht mit leichter Hand ergriffen. Es wird dem Bundespräsidenten nicht ohne sehr gewichtige Gründe befehlen wollen, dies oder das zu tun oder zu unterlassen.

Kann man die Bundesregierung vor das Verfassungsgericht bringen, falls sie – zum Beispiel bei CETA – im Rat der EU einem Abkommen zustimmte, das verfassungswidrig scheint?

Flessner: Ich meine, man kann das. Wenn die deutsche Bundesregierung auch in ihrer Tätigkeit im Rat der EU dem Grundgesetzt unterliegt, ist sie in dieser Funktion ebenso mit einer Verfassungsbeschwerde angreifbar. Wenn man vermuten muss, dass CETA verfassungswidrig wäre und dass die Bundesregierung im Rat der EU dem Abkommen gleichwohl zustimmen werde, dann wird man ihr sicher mit einer Verfassungsbeschwerde in den Arm fallen können. Anerkannt ist, dass auch mit der Verfassungsbeschwerde ein sogenannter vorbeugender Rechtsschutz vom Bundesverfassungsgericht verlangt werden kann. Wenn der drohende Gesetzgebungsakt vom Gericht nämlich nicht mehr korrigiert oder zurückgerufen werden könnte, dann kann es vorbeugenden Rechtsschutz gewähren. Da bestehen noch ein paar weitere Voraussetzungen, aber im Grunde halte ich auch hier die Verfassungsbeschwerde für denkbar.

Wäre es nicht eigentlich – über die politische Diskussion weit hinaus – notwendig, unseren staatlichen Organen zu sagen, auf was für einem möglicherweise verfassungsrechtlich und demokratierechtlich fragwürdigen Weg sie sich hier befinden?

Flessner: Ich kann mir nicht vorstellen, dass in den juristischen Stäben der Regierung und des Bundestages darüber nicht nachgedacht wird. Aber einmal angenommen, es würde darüber nicht nachgedacht, dann wäre das ein Spiegelbild des allgemeinen Beschweigens dieser Problematik in der völkerrechtlichen Literatur. Dort kann man sich offenbar überhaupt nicht vorstellen, dass so etwas wie ISDS verfassungsrechtlich bedenklich sein könnte. Aber nach den vielen Berichten und Kommentaren über das Thema in den Medien in den letzten Monaten wird doch irgendwann in den Ministerien geprüft werden, was an der öffentlichen Kritik rechtlich «dran» ist. Und dann muss doch auch die prozessuale Angreifbarkeit von CETA irgendwann in den Blick kommen. Wenn man also einigermassen auf die Qualität unserer Ministerialverwaltung vertraut, brauchen die Staatsorgane diesen Hinweis nicht.

Aber die Öffentlichkeit braucht ihn, damit sie durch ihre Meinungsäusserungen vor allem den Bundestag zur Besinnung bringen kann.

Das Interview führte Fritz Glunk / Infosperber

Zwei deutsche Organisationen, die sich führend gegen TTIP und CETA zur Wehr setzen, campact.de und attac.de, und eine österreichische Organisation attac.at. Man kann sich auf diesen Plattformen auch am Protest beteiligen.