Interview mit David Graeber Schulden: Die ersten 5000 Jahre

Wirtschaft

David Graeber hat das letzte Jahrzehnt damit verbracht die Linie zwischen Akademiker und Aktivisten zu übertreten. Während viele Wissenschaftler sich selbst als "Radikale" sehen, ist der Professor für Anthropologie ein aktiver Teilnehmer in anarchistischen und antiautoritären Gruppen und Organisationen.

David Graeber und Brian Kelly am Immigrant Rights Rally in New York.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

David Graeber und Brian Kelly am Immigrant Rights Rally in New York. Foto: Thomas Good (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

3. Juni 2012
0
0
13 min.
Drucken
Korrektur
Graeber hat seine Fähigkeiten als Anthropologe genutzt, um ethnographische Daten über die zeitgenössische anarchistische Bewegung in Nordamerika zu sammeln - weit weg von Hörsaal und Campus. Die Ergebnisse wurden im Jahr 2009 als "Direct Action: An Ethnography" veröffentlicht. David Graeber ist der Autor mehrerer Bücher, darunter "Fragments of an Anarchist Anthropology" und zuletzt "Debt: The First 5000 Years".

Er lehrt derzeit Sozialanthropologie am Goldsmiths College, University of London. Im Folgenden diskutiert Graeber sein neues Buch, das Konzept der Schulden, und wie sein Engagement in der anarchistischen Bewegung sein Interesse an der Geschichte der Schulden weckte.

Alex Bradshaw: Dein jüngstes Buch, Debt: The First 5000 Years, erforscht die Anfänge der Schulden. Was waren die Folgen für Gemeinden und Individuen, als Schulden ein wesentlicher Faktor im Leben der Menschen wurden?

David Graeber: Nun, ein Grund für mich dieses Buch zu schreiben war, dass Verschuldung mittlerweile jeden Aspekt unseres Lebens durchdringt.

In internationalen Beziehungen geht es immer um Schulden, moderne Nationalstaaten laufen auf Defizitfinanzierung und Verbraucherschulden treiben die Wirtschaft an - dennoch hat niemand, meines Wissens, je die Geschichte des Phänomens aufgeschrieben. Obwohl Menschen ja historische Abhandlungen über fast alles, was man sich vorstellen kann, geschrieben haben.

Was ich entdeckte, war, dass all das in gewisser Weise nichts Neues ist. Es ist wahrscheinlich fair zu sagen, dass die meisten Menschen zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben Schuldner gewesen sind. Auch bei den meisten Aufständen, Revolten, politischen Massenmobilisierungen in der Geschichte der Menschheit ging es um Schulden, zum Beispiel erweisen sich die athenische Demokratie oder die römische Republik weitgehend als Wege zur Beilegung einer Schuldenkrise der einen oder anderen Art. In der Regel mussten sich dauerhafte politische Regime letztendlich eine Lösung für die Schuldenfalle einfallen lassen, um zu vermeiden, dass der Grossteil der Bevölkerung effektiv (oder buchstäblich) Sklaven oder Tagelöhner ihrer Gläubiger wurden.

Es gibt in der Regel zwei Arten von Lösungen. Eine davon, typisch für Zeiten des Kreditgeldes - in denen davon ausgegangen wird, dass das Geld selbst sozial geschaffen wird, in Form von Schuldscheinen oder Versprechen - war es, direkte Kontrollmechanismen aufzuerlegen.

Zum Beispiel verkündeten die alten mesopotamischen Könige oft bloss einen Neuanfang, Schwamm drüber über alle Schulden, und die Leute fingen wieder von vorne an. Oder aber das Nehmen von Zinsen wurde verboten, wie es sowohl das Christentum als auch der Islam im Mittelalter taten.

Die andere Lösung, typisch für Zeiten mit tatsächlichem, physischem Geld, wie die Antike oder die letzten 500 Jahre, ist eher die imperiale Methode: Darauf zu bestehen, dass Schulden heilig sind und nicht manipuliert werden dürfen, und dann Geld nach dem Problem zu werfen, stehende Heere zu schaffen und sie zu bezahlen, Wege zu finden um Bargeld direkt unter die Untergebenen zu bringen - oder zumindest Sozialprogramme -, sodass sie am Ende nicht bis über beide Ohren verschuldet enden und ihre Freiheit verlieren.

Dies funktionierte natürlich nur in den imperialen Zentren (in Städten wie Athen und Rom, die buchstäblich Reichtum an ihre Bürger verteilten). Anderswo gab es in der Regel massiv Schuldsklaverei.

Aus dieser Perspektive können wir sehen, dass diese Lösung fehlzuschlagen beginnt, jetzt da wir uns zurück zu einem System des virtuellen Kreditgeldes bewegen. Als Ergebnis werden alle, auch in Ländern wie den USA, effektiv zu Schuldsklaven degradiert. Das grösste soziale Übel der Antike war genau dies: Menschen verschuldeten sich so tief, dass sie am Ende ihre Kinder in die Sklaverei verkauften, auch schliesslich sich selbst. Aber wenn Platon oder Aristoteles irgendwie magisch ins moderne Amerika transportiert würden, würden sie die Lage hier wirklich anders beurteilen?

Sicher, wir verkaufen uns nicht mehr an den Arbeitgeber, wir vermieten uns. Aber für jemanden aus der Antike wäre eine solche Unterscheidung bestenfalls eine juristische Feinheit. Sie würden wahrscheinlich die meisten Amerikaner für Schuldsklaven halten, und hätten sie damit wirklich so unrecht?

Alex Bradshaw: Wenn wir Schulden diskutieren, müssen wir auch das Konzept des Geldes besprechen. Was ist die konventionelle Erklärung, wie Geld entstand, und hat deine Forschung über Schulden ihr widersprochen? In diesem Sinne, was ist der wesentlichen Zusammenhang zwischen Geld und Schulden?

David Graeber: Wenn du in ein wirtschaftliches Lehrbuch reinschaust, wird es dir folgendes erzählen: Es war einmal, (es verdient buchstäblich eine solche Einführung, es ist ein Märchen), da gab es kein Geld, so dass die Leute Tauschhandel betrieben: "Ich gebe dir 20 Hühner für die Kuh", so in der Art. Wenn der Kerl keine Hühner wollte, hattest du Pech, also musstest du Geld erfinden. Nach und nach kommen also anspruchsvolleren finanzielle Formen auf, wie Papiergeld, komplexe Kreditgeschäfte, verbriefte Derivate...

Das Problem ist, wie die Anthropologen seit Jahren wissen, dass das einfach nicht wahr ist. Niemand hat jemals eine auf Tauschhandel basierende Volkswirtschaft gefunden. (Und glaubt mir, sie haben gesucht.) Eigentlich ist es nicht nur falsch, es ist ganz verkehrt: Kreditsysteme gab es zuerst, Münzgeld wird erst mindestens 2000 Jahre später erfunden, und Tauschhandel... nun, wenn er auftritt, dann normalerweise, weil die Leute mit Geld vertraut sind, aber irgendwie die Geldmenge verschwindet, wie es z.B. in Russland mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion passierte.

Wenn aber Kreditsysteme die ursprüngliche Form des Geldes sind, gibt das viel Unterstützung für diejenigen Ökonomen - und unter den Ökonomen sind sie entschieden in der Minderheit - die argumentieren, dass Geld in Wirklichkeit Schulden sind. Oder, vielleicht besser, ein Buchhaltungssystem, das uns erlaubt den Überblick über Kredite und Schulden zu behalten. Diese Erkenntnis hat weitreichende Auswirkungen.

Alex Bradshaw: Der Diskurs über die Finanzmärkte toleriert nur begrenzt Dissens; das häufigste Dogma besagt, dass die Finanzmärkte lediglich ein "natürliches" menschliches Phänomen sind. Untergräbt eine kritische Geschichte der Schulden die Ansicht, dass echte Finanzmärkte ein gutartige, nützliche Tradition haben? Kannst du ausserdem deine Behauptung erklären, dass Märkte auf einer "Logik der Gewalt" basieren?

David Graeber: Ich finde es irgendwie amüsant, dass viele konventionelle Denker, wenn sie mich über antike Schuldenerlasse, Jubeljahre und so weiter sprechen hören, erwidern: "Aber das kann nicht wirklich wahr sein! Es hätte schreckliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Aktivität gehabt." Na ja, vielleicht, aber was sie nicht berücksichtigen ist, dass "wirtschaftliche Aktivität" dieser Art, die auf Bargeld oder genau bezifferten, rechtlich durchgesetzten Darlehen beruhte (statt auf Beziehungen auf der Basis von Ehre und Vertrauen zwischen Menschen mit echten moralischen Beziehungen zueinander)... nun, für den Grossteil der menschlichen Geschichte war das weitgehend ein Nebeneffekt von militärischen Operationen.

Münzgeld wurde erfunden, um Soldaten zu bezahlen, und Märkte, die sie verwendeten, tauchten entlang von Militärlagern auf. Auch das moderne Bankensystem entsteht, um zur Finanzierung europäischer Kriege beizutragen. Die Zentralbanken wiederum institutionalisieren dieses System, da die Schulden, die sie verwalten, im Grunde Kriegsschulden der Regierung sind und es immer gewesen sind. Zumindest seit 1694, als König William II. einigen Londoner Kaufleuten, die ihm ein Darlehen in Höhe von 1,2 Millionen Pfund für einen Krieg in Frankreich gegeben hatten, das Recht anbot sich "The Bank of England" zu nennen.

The-First-5000-Years-price_2.jpg

Bild: The first 5000 Years - David Graeber

Und damit das Geld, was er ihnen schuldete, anderen in Form von Banknoten als Darlehen zu geben, womit sie unser aktuelles Währungssystem ins Leben riefen. Modernes Geld ist immer noch im Grunde Kriegsschulden der Regierung.

Alex Bradshaw: Während dieses Interview geführt wird, ist das heisse Thema in den parteipolitischen Nachrichten in den Vereinigten Staaten die Konfrontation wegen der Erhöhung der "Schuldenobergrenze" - das heisst, die maximale Verschuldung, die die USA eingehen können. Meine Frage ist zweierlei: (1.) Haben Nationalstaaten wirklich echte Schuldengrenzen? Und (2.): Was würde passieren, wenn die USA ihre Schulden morgen tilgen würden - das heisst, ist so etwas überhaupt wünschenswert?

David Graeber: Die USA sind das einzige Land mit einer solchen gesetzlichen Grenze, aber es ist alles eine moralistische Farce. Wie gesagt, unser System der Zentralbanken - in unserem Fall die Federal Reserve -setzt voraus, dass die USA verschuldet sind, weil daher das Geld kommt. Der einzige Präsident, der jemals ernsthaft versuchte die Schulden zu tilgen war Andrew Jackson, und um das zu tun, entledigte er sich auch der damaligen US-Notenbank, aber die Ergebnisse führten zu einer katastrophale Spekulationsblase auf Seiten der lokalen Banken, die das Kreditgeld selbst zur Verfügung stellen mussten, und kein Präsident seitdem hat das Experiment wiederholt.

Alex Bradshaw: Du hast nie gescheut dein Engagement in anarchistischer Politik oder allgemein der sogenannten globalisierungskritischen Bewegung zu diskutieren. Hat dein Engagement in anarchistischen und antikapitalistischen Projekten dein Interesse geweckt die Geschichte des Konzeptes "Schulden" zu erforschen? Wenn ja, warum?

David Graeber: Oh, absolut. Immerhin erwuchs die globalisierungskritische Bewegung aus einer breiten globalen Reaktion auf den Washington-Konsens, der nie irgendeine Art von Konsens war, sondern eine Weltsicht, die dem globalen Süden mit Gewalt durch die Dritte-Welt-Schuldenkrise aufgezwungen wurde. Ich war bei "Drop the Debt"-Kampagnen verschiedener Art seit mindestens 2000 beteiligt.

Was mich an einigen der philosophischen Fragen interessierte, die ich schliesslich im Buch erkunden sollte, war die besondere moralische Kraft des Begriffs der Schulden. So viele ansonsten mitfühlende Menschen, auch wenn man ihnen von den schrecklichen, fast unvorstellbar unmenschlichen Leiden der Menschen im globalen Süden wegen der Verwüstungen durch den IWF erzählte, reagierten gewöhnlich immer noch etwa so: "Nun, das ist schrecklich, dass so viele Kinder eines langsamen und schmerzhaften Todes gestorben sind, aber sicherlich muss man doch seine Schulden bezahlen! Sie haben sich das Geld geliehen!

Du kannst doch unmöglich vorschlagen, dass sie nicht zahlen... " Wie kommt es, dass die Moral der Schulden jede andere erkennbare Form der Moral übertrumpfen kann, und Dinge, mit denen in einem anderen Zusammenhang niemand jemals einverstanden wäre, plötzlich akzeptabel scheinen lässt?

Alex Bradshaw: Anarchismus, wie ich ihn immer verstanden habe, ist eine Kritik sozialer Machtbeziehungen, in denen eine Gruppe oder ein Individuum Macht über eine andere Gruppe oder Individuum hat - nichthierarchische Beziehungen sind von grösster Bedeutung. Sind Finanzmärkte notwendigerweise hierarchisch, und führen zum Wohlstand für wenige, während sich die Mehrheit in Schuldsklaverei begibt? Bevorzugst du als Anarchist "selbstverwaltete" Finanzmärkte, oder bist du eher an Möglichkeiten jenseits des Marktes interessiert, wie Geschenkwirtschaften, die auf Bedürfnissen und Wünschen statt quid-pro-quo-Austausch basieren?

David Graeber: Nun, die ersten Kreditmärkte scheinen sich als Nebeneffekt bürokratischer Verwaltung gebildet zu haben, und die ersten auf Bargeld basierenden Märkte als ein Nebeneffekt von Kriegen. Das ist kein sehr inspirierendes Erbe für ein Anarchisten! Es gab sicherlich Zeiten und Orte wo eine Art populärer freier Markt entstand, wo Märkte unabhängig von Regierungen zu funktionieren begannen, zumindest zu einem gewissen Grad - der mittelalterliche Islam ist ein berühmtes Beispiel, und später Ming-China.

Aber in solchen Fällen neigten sie dazu, auf sehr andere Weise zu funktionieren als die Art von Märkten, die wir jetzt kennen. Es ging weniger um Wettbewerb, viel mehr um die Schaffung und Pflege von zwischenmenschlichen Vertrauensbeziehungen. Oder zum Beispiel um Gewinnbeteiligung anstelle von Zinsen, etc. Ich vermute, dass in einer freien Gesellschaft etwas in der Art möglich sein kann. Aber man könnte so etwas keinen "Finanzmarkt" nennen, wie das mit dem wir vertraut sind.

Es ist nichts, von dem ich glaube, dass ich oder sonst jemand das eine oder das andere vorhersagen kann. Was meiner Meinung nach absolut nicht ohne den Staat oder eine hierarchische Strafverfolgungsbehörde funktionieren kann, sind Institutionen wie verzinsliche Darlehen, was natürlich der Kern der heutigen "Finanzwirtschaft" ist, und vor allem der Lohnarbeit.

Die Geschichte zeigt, dass man im Grunde einen Staat braucht, um eine Situation zu schaffen, in der Menschen bereit sind sich quasi als Mietsklaven anderen Menschen zur Verfügung zu stellen.

Alex Bradshaw: Um am Ende wieder auf aktuelle Ereignisse zurückzukommen: Würdest du argumentieren, dass viele aktuelle Widerstandsbewegungen - und ich denke da an Bewegungen gegen neoliberale Politik in Europa, darunter Sozialkürzungen - sich hauptsächlich auf Schulden zurückführen lassen, oder Schuldenerlass? Würdest du sagen, dass die meisten Aufstände, Revolutionen oder allgemeiner Widerstand Reaktionen auf drakonische Schuldenpolitik sind?

David Graeber: Der grosse Altertumswissenschaftler Moses Finley hat vorgeschlagen, dass es im Grunde nur ein einziges revolutionäres Programm in der gesamten Antike gab: "Abschaffung der Schulden, und Umverteilung des Landes". Das Interessante ist, dass es heute noch viel wahrer ist, als wir uns vorstellen. Man nehme die jüngsten Revolutionen im Nahen Osten. Einer der wichtigsten Faktoren in der ägyptischen Revolution, über den kaum gesprochen wird, waren Mikrokredite. Gamal Mubarak, der mal für die Bank of America gearbeitet hat, entschied, dass er weg vom alten Modell des Wohlfahrtsstaats und hin zu einem auf Mikrokrediten basierenden Entwicklungsmodell wollte.

Da niemand mehr irgendwelche Sicherheiten hatte, die hätten gepfändet werden können, erfüllte die Polizei dann die Rolle der Typen, die auftauchen um dir die Beine zu brechen. Daher die allgemeine Empörung über die Brutalität der Polizei.

Als die Saudis in Panik gerieten, weil die Revolution ihr eigenes Land zu erreichen drohte, was taten sie? Nun, abgesehen vom Aufstocken der Sicherheitskräfte, verkündeten sie Schuldenerlass im mesopotamischen Stil für alle im Königreich. (Sie haben immer noch einen König, sodass sie solche Dinge noch tun können.) Dann gibt es noch die laufenden Revolten in Griechenland und Spanien, wie die ägyptische Revolution im Namen der "wahren Demokratie".

Es gibt einen Grund, denke ich, dass diese Dinge jetzt geschehen. Was wir 2008 gelernt haben ist, dass alles, was sie uns über Märkte erzählt haben, eine Lüge war. Märkte laufen nicht von selbst, und Schulden müssen nicht immer bezahlt werden. Wenn wir über die wirklich grossen Spieler reden, dann gelten andere Regeln, dann kann man sogar 13 Billionen an Spielschulden (nach manchen Schätzungen) einfach verschwinden lassen.

Wir können nicht leugnen, dass Geld im Kern ein politisches Phänomen ist, kein wirtschaftliches - oder zumindest, dass es dazu geworden ist. Aber wenn das der Fall ist, dann gilt: Wenn Demokratie etwas bedeutet, muss sie bedeuten, dass nicht nur die reichsten 1% der Bevölkerung zu entscheiden haben, wer seine Versprechen auf den Buchstaben genau halten muss und wessen Versprechen annulliert oder neu verhandelt werden können... sondern alle.

Das Interview führte Alex Bradshaw für No Borders.
Übersetzung aus dem Englischen: systempunkte