Aus der Arbeitswelt Arbeitsunfälle in Deutschland: Mehr als ein Toter pro Tag

Wirtschaft

Am 17.10. diesen Jahres starb der bulgarische Arbeiter Refat S. unter bisher ungeklärten Umständen im Duisburger Stahlwerk von Thyssenkrupp.

Stahlwerk in Duisburg von Thyssenkrupp.
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Stahlwerk in Duisburg von Thyssenkrupp. Foto: Rob Dammers (CC-BY 2.0 cropped)

21. November 2022
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Er war 26 Jahre alt, es war sein zweiter Arbeitstag. Refat S. wurde im Schlackebecken gefunden, die Polizei ermittelt noch.

In jeder Woche sterben durchschnittlich 10 Arbeiter auf Baustellen, in Stahlwerken, Chemiefabriken, Schlachthöfen. In der Regel sind es Männer. Oft Migranten, die unter besonders hohem Arbeitsdruck in besonders wenig gesicherten Bereichen arbeiten.

Öffentlich interessiert das tägliche Sterben in der BRD nicht gross – jedenfalls deutlich weniger als der natürliche Tod einer uralten Monarchin.

In Duisburg hat es einige durchaus beachtliche Demonstrationen gegeben, in denen Aufklärung und besserer Arbeitsschutz gefordert wurden – davon war in den Blättern der „Funke-Mediengruppe“, die das Ruhrgebiet geistig betreuen, nicht sonderlich viel zu lesen. In die überregionalen Nachrichten der Tagesschau oder des Heute-Journals bringt es ein solcher Protest natürlich erst recht nicht – kein Wunder, er greift ja nicht missliebige Potentaten in Russland, Iran oder China an…

Im Normalfall sind jedenfalls mehr als ein paar Zeilen in der Lokalpresse nicht zu erwarten: „Mann stirbt bei Arbeitsunfall in 30 Meter tiefem Versorgungstunnel“ (22.7.22 Berlin); „Tödlicher Baustellen-Unfall: Arbeiter (47) von Betonbalken erschlagen (21.9.22 München) und so weiter.

Die Statistiker der Gesetzlichen Unfallversicherung zählen selbstverständlich das Gesamtgeschehen in Deutschland penibel mit: „Im Bereich der UV (Unfallversicherung, RD) der gewerblichen Wirtschaft und der UV der öffentlichen Hand ereigneten sich 2021 insgesamt 806.217 meldepflichtige Arbeitsunfälle, die eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen oder den Tod zur Folge hatten, das sind 6,0 % mehr als im Vorjahr. Das Arbeitsunfallrisiko je 1.000 Vollarbeiter ist mit einem Wert von 19,78 um 7,2 % gestiegen.

Im Jahr 2021 waren 12.079 schwere Arbeitsunfälle zu verzeichnen, bei denen es zur Zahlung einer Rente oder eines Sterbegelds gekommen ist. Damit ist das Risiko je 1.000 Vollarbeiter, einen schweren Arbeitsunfall zu erleiden, von 0,321 im Vorjahr auf 0,296 in 2021 um 7,6 % gesunken. Bei den tödlichen Arbeitsunfällen ist gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 111 Fälle auf 510 Todesfälle zu verzeichnen.“

Tragische Einzelfälle? Gehört die Gefahr eines eventuell sogar tödlichen Arbeitsunfalls schlicht zum „normalen Lebensrisiko“? Oder ist mehr zu den Ursachen zu sagen?

Unfallursache Kapitalismus

Unternehmen gehen durchaus robust mit der Gesundheit ihrer Arbeitskräfte um, weil sie den Produktionsprozess zum Zweck der Gewinnerwirtschaftung einsetzen. Das, was die Betriebe mit der gezahlten Lohnsumme an Leistung – extensiv wie intensiv – aus ihren Beschäftigten herausholen können, ist das entscheidende Mittel, die Spanne zwischen investiertem und hergestelltem Eigentum zu vergrössern. Wie sehr es ihnen gelingt, die in ihrem Betrieb geleistete Arbeit produktiv zu machen, ist die Grösse unter all ihren Ausgaben, auf die sie direkten Einfluss haben.

Mit ihrer Direktionsgewalt über den Betriebsablauf machen sie Vorgaben für den Arbeitsprozess und können diese durch Geschwindigkeit, Taktung oder die Menge der erteilten Aufträge objektivieren; so steigern sie kontinuierlich die Anstrengung, die der einzelne Arbeitnehmer an „seinem“ Arbeitsplatz zu erbringen hat.

Arbeitsunfälle, unmittelbare Gefahren und systematische Gesundheitsgefährdungen für die Arbeitskräfte gehören insofern in der Marktwirtschaft ebenso zum Arbeitsalltag wie der systematische körperliche und mentale Verschleiss, der seine Spuren in Form chronischer Krankheiten hinterlässt (dazu Teil 2). Kurz: Unternehmen verschwenden Physis und Psyche ihrer Beschäftigten und sparen an Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz.

Staat muss Arbeitsschutz erzwingen

Arbeitsschutz ist in der kapitalistischen Produktion nichts, worauf ein Unternehmen von sich aus Wert legt. Schutzvorrichtungen bei der Bedienung von Maschinen, Lärmschutz, die Verwendung nicht schädlicher Stoffe, stabil gebaute Arbeitshallen, die nicht einsturzgefährdet sind und in denen der Brandschutz gewährleistet ist – all das verursacht Kosten und wird deshalb, wenn es allein nach dem Willen der Unternehmen geht, nur gemacht, wenn die entsprechenden Schutzmassnahmen im Verhältnis zu den anfallenden Kosten und den zu erwartenden „Betriebsausfällen durch Unfall“ sich lohnen.

Ein Blick in die Geschichte oder in Länder, in denen für den kapitalistischen Weltmarkt produziert wird, ohne dass der Staat entsprechende Vorschriften macht, zeigt, wie brutal mit Leib und Leben der Arbeiter umgegangen wird. Karl Marx berichtet aus den Fabriken seiner Zeit, vom „systematischen Raub an den Lebensbedingungen des Arbeiters während der Arbeit“ und stellt fest: „Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen?“ (Marx 1867: Das Kapital. S. 505)

Die rücksichtslose Praxis seiner Unternehmer hat der deutsche Sozialstaat im Interesse an einer nachhaltigen Benutzbarkeit seiner Arbeitsbevölkerung nach und nach durch Arbeitsschutzgesetze eingeschränkt.1 Heute gehören zum Arbeitsschutz diverse Rechtsverordnungen, u.a. Arbeitsschutzverordnung zu künstlicher optischer Strahlung (OStrV), Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), Baustellenverordnung (BaustellV), Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), Bildschirmarbeitsverordnung (BildscharbV), Biostoffverordnung (BioStoffV), Gefahrstoffverordnung (GefStoffV), Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV), Lastenhandhabungsverordnung (LasthandhabV), PSA-Benutzungsverordnung (PSA-BV), Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV).

Dass dermassen viele staatliche Verordnungen nötig sind, um den modernen Arbeitsprozess für die Arbeitnehmer wenigstens so aushaltbar zu machen, dass sie – zumindest als statistisches Kollektiv – ein Arbeitsleben durchstehen, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Erstens stellt es dem Zweck, um den es in den gesetzlich regulierten Fabriken, Baustellen und Büros geht, kein gutes Zeugnis aus – so etwas Unschuldiges wie „Versorgung der Menschen mit Konsumgütern“ wird es wohl kaum sein. Denn wenn es um diesen Zweck ginge, würde niemand die dafür fällige Arbeit so gefährlich und schädlich organisieren, dass bei der Produktion Physis und Psyche schon so in Mitleidenschaft gezogen werden, dass der Genuss der produzierten Güter gar nicht mehr sorglos zustande kommt.

Wenn zweitens per Rechtsverordnung einige (bisher erlaubte) Praktiken verboten werden – etwa die Überschreitung eines bestimmten Tageslärmpegels oder einer Hand-Arm-Vibration, dann sind damit alle Schädigungen an Ohren, Bandscheiben und Leber unterhalb der gezogenen Grenze bzw. Durchschnittswerte (!) erlaubt. Ganz im Gegensatz zur üblichen Vorstellung vom „Schutz“, legen die staatlich definierten Grenzwerte (das gilt übrigens auch für Lebensmittel u.a.) mit ihrem Verbot eines Übermasses also fest, in welchem Mass die Gesundheit der Betroffenen staatlich erlaubtermassen angegriffen und verschlissen werden darf.

Drittens verpflichtet der Staat sämtliche Unternehmen, in eine gesetzliche Unfallversicherung einzuzahlen. Er unterstellt damit, dass Arbeitsunfälle auch bei Geltung aller gesetzlichen Regelungen passieren, und zwingt die Betriebe als Gesamtheit, die durch Unfälle am Arbeitsplatz (zu denen auch Unfälle auf dem Weg dorthin gerechnet werden) sowie bei anerkannten Berufskrankheiten hervorgerufenen Behandlungs- und Folgekosten zu übernehmen.

Zur Finanzierung der Versicherung werden die Betriebe in „Gefahrklassen“ eingeteilt, was – neben der Anzahl der von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer – unterschiedlich hohe Versicherungsbeiträge begründet. Die Einteilung beinhaltet ein objektives Eingeständnis. Sie macht nämlich deutlich, dass die Beteiligten in Politik und Wirtschaft sehr detailliert zu unterscheiden wissen, wie gefährlich die Produktionszweige ihrer kapitalistischen Marktwirtschaft im Einzelnen sind. Zudem sollen die Beitragskosten die Unternehmen im Idealfall motivieren, die Kosten der Unfallversicherung im Eigeninteresse durch freiwilligen Arbeitsschutz zu senken.

Die Realität dieses Ideals besteht allerdings in einer betriebswirtschaftlichen Abwägung: Sind die entsprechenden Arbeitsschutzmassnahmen teurer als der einzelbetriebliche Anteil an den Versicherungsbeiträgen, dann spricht aus Sicht des Betriebs „leider“ nichts zugunsten der Schutzmassnahmen. Oder anders formuliert: Die Gefährdung und Zerstörung von Gesundheit erhält auf diesem Wege einen Preis und wird damit zum Gegenstand einer Kosten-Nutzenabwägung, die nicht selten die Inkaufnahme vermeidbarer Unfälle und Krankheiten einschliesst.

Das gilt um so mehr, als staatliche Kontrollen bei den Arbeitsschutzmassnahmen sich auf Stichproben beschränken und nur alle Jubeljahre stattfinden, bei Betrieben unter 500 Mitarbeitern heisst das im Klartext: alle 20 Jahre – Resultat davon, dass das Personal bei der Gewerbeaufsicht zwischen 2005 und 2010 drastisch zusammengekürzt wurde.

Das Dilemma der Beschäftigten

Die staatliche Regelung erspart den Arbeitnehmern nicht, dass sie um entsprechende Arbeitsschutzvorrichtungen oft selbst noch kämpfen müssen (z.B. Lärmschutz).

Sie selbst sehen sich – gerade angesichts ständig steigender Leistungsanforderungen im Arbeitsprozess – dem Widerspruch ausgesetzt, dass Vorschriften bzw. Vorrichtungen vielfach zu einer Behinderung ihrer Arbeitsleistung führen, also Lohn oder Zeit kosten. So kommt es zu dem bekannten Phänomen, dass Arbeitnehmer die Schutzvorschriften – gegen ihr eigenes Schutzinteresse! – missachten, Maschinen bei laufendem Betrieb reparieren, Schutzvorrichtungen, weil störend abmontieren usw. usf.

Wenn es zu einem Unfall kommt, taucht deshalb als erstes die Frage auf, ob der betroffene Arbeitnehmer Sicherheitsschuhe oder Helm getragen und die neben dem Erste-Hilfe-Kasten ausgehängten Vorschriften beachtet hat – obwohl vom Chef über den Vor- bis zum Hilfsarbeiter alle wissen, dass die geforderte Leistung meist nicht zu erbringen wäre, wenn sich alle so verhalten würden. So wird versucht, die Verantwortung abzuwälzen: Nicht der auf Profit orientierte Betrieb mit seiner Organisation der Arbeit ist schuld, sondern derjenige, der für sich am Arbeitsplatz „zuviel“ rausholen wollte.

Fazit

Mit seiner Gesetzgebung zum Arbeitsschutz legt der moderne Sozialstaat die Bedingungen dafür fest, wie Benutzung und Verschleiss der Arbeitskräfte so vonstatten gehen, dass das Ganze gewissermassen „nachhaltig“ passieren kann. Das schliesst offenbar – siehe die Statistik der Gesetzlichen Unfallversicherung – nach wie vor eine erkleckliche Zahl an Arbeitsunfällen mit gesundheitlichen Folgen ein und auch ein paar hundert Tote pro Jahr.

Das ist auch kein Wunder, denn am Zweck der Arbeitsplätze in seiner Wirtschaft ändert ein solches Gesetz ja erklärtermassen nichts: Mit der Arbeit der Leute soll Gewinn erwirtschaftet werden – und das bedeutet unter den Bedingungen der globalen Standortkonkurrenz nichts Gutes für die Beschäftigten. Die wiederum müssen sich angesichts des brutalen Unterbietungswettbewerbs, in dem sie „normal“ und erst recht als migrantische Wanderarbeiter stehen, auf alle Bedingungen einlassen und schauen, wie sie damit klarkommen. Für Refat S. ist das nicht aufgegangen.

Es ist schon ein ziemlich robustes Verhältnis zur fremden wie eigenen Gesundheit, wozu die marktwirtschaftliche Konkurrenz ihre Subjekte nötigt…

Renate Dillmann

Lesetipp:
Dillmann,Renate/Schiffer-Nasserie, Arian: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. Ökonomische Grundlagen/Politische Massnahmen/Historische Etappen. VSA-Verlag, Hamburg 2018