Zur Kritik an Occupy Flucht in den Antikapitalismus

Politik

Vor zehn Jahren war es die Antiglobalisierungsbewegung, die in der radikalen Linken zwiespältige Gefühle wach rief. Man freute sich darüber, dass sich endlich Massen erhöben. Gleichzeitig missbilligte man, dass die Bewegung eine grundsätzliche Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft vermissen liess.

Occupy-Aktivist in London, 15. Oktober 2011.
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Occupy-Aktivist in London, 15. Oktober 2011. Foto: Pakeha (CC BY 2.0 cropped)

27. Februar 2013
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Korrektur
Aus diesem Zwiespalt folgte der Versuch, die Massen über das Grundübel Kapitalismus aufzuklären. Nur die kommunistischen Antideutschen wollten die »verkürzte Kapitalismuskritik« nicht über sich selbst hinaustreiben, sondern aufgrund ihrer Affinität zum Antisemitismus bekämpfen.

Nachdem die Antiglobalisierungsbewegung schon ein paar Jahre Geschichte war, stieg im letzten Herbst die Occupy-Bewegung wie Phönix aus der Asche. Ihren Anfang nahm sie in New York City. Die Wall Street sollte okkupiert werden, am Ende wurde es nur der Zuccotti Park. Die Bewegung hatte schnell mit dem eigenen Anspruch zu kämpfen. Basisdemokratie mit vielen Beteiligten war gar nicht so leicht. Also wurde auf einer Generalversammlung zumeist darüber diskutiert und entschieden, wie diskutiert und entschieden werden könne. Doch auch das erwies sich als nicht so einfach, denn im Camp hatte sich ein nimmermüder Trommelkreis gebildet.

Die Campleitung bat diesen zu pausieren, dies führte wiederum zu hitzigen Diskussionen. Nach ein paar Tagen dann der Erfolg: »Der Trommelkreis macht ab sofort während der ›General Assembly‹ Pause. Diese Ruhezeit hat die Gelegenheit für einen Joga-Meditationszirkel eröffnet.« Aber auch die täglich verbliebenen zwölf Stunden Getrommel erregten Ärger in den umliegenden Wohnblöcken. Eltern beschwerten sich darüber, dass ihre Kinder keinen Schlaf fänden, ältere Menschen klagten über Kopfschmerzen. Wieder folgten lange Diskussionen. Die Trommelzeit wurde auf zwei Stunden begrenzt. Endlich konnten wichtigere Probleme diskutiert werden: »Als Lennard die These vertrat, die eigentliche Instanz, gegen die die Demonstranten vorgehen sollten, sei nicht der Banksektor oder der Staat, sondern jene foucaultsche Macht, die uns ›kodiere‹ und das neoliberale Dogma unserem eigenen Selbst einschreibe, schnaubte Henwood sie an. Er vermute doch eher, die Leute wollten Jobs, anstatt sich die ›Köpfe recodieren‹ zu lassen.« Eine Frage, die länger hätte ausdiskutiert werden müssen.

Eine Trommlerin jedoch spielte länger als erlaubt: »Zwei Stunden reichen meiner Seele nicht.« Zumindest schwiegen die Trommeln, als Slavoj Žižek ans Mikrofon trat, das heisst ans »menschliche Mikrofon«: ein Mikrofon, das die Polizei nicht beschlagnahmen kann und das darin besteht, dass die ersten Reihen des Publikums als Chor fungieren und jeden Satz lauthals wiederholen. Doch kann ein Theoretiker eine solche Paraliturgie meistern? Ja. »Ich war beeindruckt […], gegen Ende riss Žižek die Menge richtig mit. Es war grossartig, als die Menge zweimal wiederholte: ›George Soros ist ein Abführmittel aus Schokolade‹.«

Antideutscher Alarmismus

Unter Antideutschen fand diese Bewegung alles andere als Anklang, wozu sie auch Anlass bot. In New York schleppten die Demonstrierenden ein goldenes Kalb in die Wall Street, Judith Butler vermeldete, dass diejenigen, »die aus der Wirtschaftskrise Profite schlagen«, ihrer »Gier Einhalt gebieten sollen«, und in Frankfurt hiess es auf Transparenten: »99% – gegen die Gier!« Es war das alte Lied, wonach die Banken sich bescheiden sollen, statt das Volk auszubeuten, und die Politik beginnen soll, das Volk zu repräsentieren, statt sich kaufen zu lassen. Die Antideutschen reagierten entsprechend. Hermann L. Gremliza diagnostizierte in seiner Kolumne in der Zeitschrift Konkret nichts als »Verblödung« und in antideutschen Flugblättern und Blogs wurden die üblichen Klötze aus dem Bausatz antideutscher Ideologiekritik zusammengestapelt: dass die Bewegung »kein wirkliches Interesse« daran habe, »an den kapitalistischen Verhältnissen […] etwas zu ändern«, »die ›99 Prozent‹ den Fetischismus des Kapitalverhältnis« reproduzierten, von »eliminatorischen Sehnsüchten« getrieben seien, eine »antisemitische Mobilisierung im Namen der Arbeit« veranstalteten, von »dieser sich anbahnenden Volksgemeinschaft der 99 Prozent« also »keine Emanzipation, dafür aber Barbarei zu erwarten« sei.

Mag die antideutsche Kritik auf Teile der Bewegung auch zutreffen, ihr Alarmismus wirkt ungebührlich. Nimmt sich Occupy im Resultat doch ziemlich harmlos aus: Gewalt wird abgelehnt und die inhaltliche Diffusion erregt fast schon Mitleid. Wenn dann doch einmal politische Forderungen das Licht der Öffentlichkeit erblicken, so sind diese noch zahmer, als es die von Attac über die Jahre geworden sind, und zumindest in der intellektuellen Führungsriege wird im herrschenden Jargon der Kritik bekundet, keine Klassen oder Personen bekämpfen, geschweige denn vernichten zu wollen, sondern Strukturen, Systeme und Matrizen. Die Antideutschen scheren sich auch nicht um die Gründe, die in Spanien, den USA, Israel und, weniger drastisch, auch in Deutschland zu den Protesten treiben: hohe Mieten, keine Jobs oder schlechte Bezahlung sowie Schulden. Dass sich die Betroffenen als »99 Prozent« stilisieren, ist zwar zunächst ein Appell an den Gemeinsinn der Reichen, aber auch ein egoistisches Plädoyer dafür, mehr vom Kuchen und den immer reicher werdenden Reichen abzubekommen. Sie hoffen, bei diesen liesse sich so viel holen, dass das eigene Leben wieder leichter würde.

Einige linksradikale Gruppen wollen Occupy nicht »vorschnell abschreiben«, sondern intervenieren, sowohl gegen »kurzsichtige Reformvorschläge« als auch gegen »verkürzte Kapitalismuskritik«. Sie fordern die »Vergesellschaftung der Produktionsmittel«, eine »linksradikale Perspektive zur Überwindung der Gesamtscheisse« Es geht ihnen schlichtweg »ums Ganze«, sie sind: »Für den Kommunismus!« Doch hier gilt es inne zu halten: »Sometimes the solution is worse than the problem« (Pet Shop Boys). Die Linksradikalen übersehen, dass ihre Systemalternative diskreditiert ist, dass sie mit Karl Marx die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen haben, sondern erst einmal nachsitzen müssen, ohne dass der Ausgang gewiss wäre.

Nun würden jene linksradikale Gruppen auf den Einwand, dass sich die kommunistische Systemalternative im Realsozialismus diskreditiert habe, wahrscheinlich im Chor mit anderen antworten: »Nein, nein, das war nicht der Kommunismus!« Zur Begründung würden sie eine der folgenden Behauptungen heranziehen: a) Dass das Ausbleiben der Weltrevolution den sozialistischen Ländern das Akkumulationsparadigma des Kapitals aufgehalst habe; b) dass die sozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts Marx nicht verstanden, Staat und Warenform hypostasiert und einem Staatskapitalismus gehuldigt hätten; c) dass der Realsozialismus eine Modernisierungsdiktatur gewesen sei; d) dass die Diktatur des Proletariats durch die missliche internationale Situation zementiert und pervertiert worden sei; e) dass eine Kaste von parvenus die Revolution instrumentalisiert und die Rätedemokratie unterminiert habe. Nicht ausgeschlossen, dass in einigen dieser Behauptungen ein Körnchen Wahrheit steckt. Aufgeblasen dienen sie jedoch vor allem dazu, jede weitere Einsicht zu verdrängen. Insbesondere die, dass die Aufhebung verdinglichter ökonomischer Vermittlung, die Geld und Markt darstellen, schwer ohne die Gefahr auszudenken ist, dass Herrschaft und Verwaltung die Leerstelle ökonomischer Vermittlung ausfüllten.

Fluchtlinien des Antikapitalismus

Karl Marx unterliess zwar detaillierte Aussagen zur Zukunft, der Fluchtlinien aber war er sich sicher: Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, unmittelbare Vergesellschaftung der Arbeit, gemeinschaftliche Bewältigung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, planmässige Kontrolle der Produktion, ihre Ausrichtung zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung, eine den Bedürfnissen und Kapazitäten entsprechende Verteilung der gesellschaftlichen Arbeitskraft auf die verschiedenen Produktionszweige, Buchführung und, solange sich ordinäre Arbeit noch nicht automatisch erledigte, Äquivalenz zwischen Arbeitsleistung und Bedürfnisbefriedigung mittels Arbeitsscheinen sowie die dazu erforderliche nominale Abstraktion der verschiedenen Arbeiten auf ihren gemeinsamen Nenner. Wider den Einwand, Marx habe mit solchen Vorschlägen seine eigene Wertkritik hintertrieben und auch die Utopie einer Ökonomie, der jede Abstraktion ausgetrieben ist, kann mit Theodor W. Adorno darauf hingewiesen werden, dass der »reife Marx […] sein Verhältnis zur Arbeitsteilung, zum Grund von Verdinglichung, geändert« hat, und zwar wohlweislich: »Den Stand der Freiheit unterscheidet er von urtümlicher Unmittelbarkeit. Im Moment des Planens […] ist das dinghaft Fremde aufbewahrt.«

Den Realsozialismus nun hat Marx gewiss nicht gewollt: weder »sozialistisches« Geld und »sozialistische« Waren noch dessen Verbrechen. Wer will die schon? Die Frage aber ist, inwieweit der Realsozialismus die Ziele Marx' umzusetzen trachtete, inwieweit sich die »Warenlosigkeit« jedoch nicht einfach umsetzen liess und der monströse Verwaltungsapparat gerade die Folge des Versuchs war, eine rationale Ökonomie jenseits von Ware und Geld ins Werk zu setzen. Zumeist wird darauf verwiesen, dass der Realsozialismus noch zu viel Kapitalismus gewesen sei. Stalin etwa habe das Wertgesetz nur domestizieren wollen. Das wollte Stalin tatsächlich, allerdings in einer Phase der Resignation.

Sieben Jahre zuvor hatte er grossspurig den Plan verkündet, die Warenform zerschlagen und an ihrer Stelle einen Verteilungsapparat installieren zu wollen, der die Notwendigkeit des Warenverkehrs und Geldes beseitigen könne. Anfang der fünfziger Jahre äusserte er sich wieder ähnlich. Nicht nur der Staat müsse eines Tages absterben, sondern auch das Wertgesetz beseitigt werden: »Wir Marxisten […] gehen von dem bekannten marxistischen Leitsatz aus, dass der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus und das kommunistische Prinzip der Verteilung der Produkte nach den Bedürfnissen jeden Warentausch ausschliessen, folglich auch die Verwandlung der Produkte in Ware und damit ihre Verwandlung in Wert.« Allerdings trägt er diese Position nun, am Ende seiner Laufbahn, mit einer Einschränkung vor. Die Arbeit könne so lange nicht vergesellschaftet und die Warenform folglich nicht aufgehoben werden, wie die Bauern sich dagegen wehrten. Es hat den Anschein, als habe ihn die Einsicht in die Aussichtslosigkeit der Kulakenverfolgung ereilt.

Womit wir bei der schmerzenden Frage wären, ob nicht bestimmte Verbrechen, nämlich die Kulakenverfolgung, die Kulturrevolution und die Erziehung zum Neuen Menschen auch dem zum Wahn verkommenen Versuch der Abschaffung der Warenform geschuldet waren. Wobei nicht unterstellt sei, dass der Versuch logisch notwendig zum Wahn ausschlagen müsse – er kann ja ebenso entschärft werden. Und das wurde er auch, offensichtlich gerade durch Entwicklungen, durch die auch der Staat einstweilen zurückgenommen werden konnte: sei es in der Neuen Ökonomischen Politik Lenins, sei es in der schleichenden Versöhnung mit dem Geld (durch die Ideologie des sozialistischen Kreditgeldes , sei es in der Wirtschaftspolitik Deng Xiaopings.

Auffällig ist ferner, dass sich die genannten Verbrechen dort ereigneten, wo zuvor keine industrielle Revolution stattgefunden hatte; dass sich also der Versuch die verdinglichte ökonomische Vermittlung aufzuheben anscheinend nur dort rechnete, wo diese Vermittlung bisher noch akzidentiell war und der Industrialisierung sowie einer entsprechend produktiven Landwirtschaft auf die Sprünge geholfen werden musste. Häufig wird argumentiert, der Realsozialismus sei nur eine verschleierte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals gewesen. Möglicherweise aber war der Versuch der Aufhebung verdinglichter ökonomischer Vermittlung, wie er zeitweise unter Lenin, Stalin und Mao statthatte, für den Tigersprung in die Moderne schlichtweg prädestiniert. Wenn schon die relativ gemächliche ursprüngliche Akkumulation des Kapitals in Westeuropa eine »ausserökonomische, unmittelbare Gewalt« voraussetzte, dann bedurfte es dieser in unterentwickelten Gesellschaften, die binnen weniger Jahrzehnte den Sprung in die Moderne meistern wollten, umso mehr. Am Etappenziel angelangt aber erwies sich die Suspension verdinglichter Vermittlung als Anachronismus. Der »stumme Zwang ökonomischer Verhältnisse« wurde unvermeidlich. Das Ergebnis, die industrialisierte Gesellschaft, die eigentlich als Sprungbrett in den Kommunismus dienen sollte, erwies sich als so komplex, dass sich Geld und Ware plötzlich nicht mehr aufheben liessen.

Als 1967 eine grenzübergreifende marxistische Diskussion in Frankfurt am Main stattfand, wurde die Frage diskutiert, warum es in der DDR noch sozialistische Waren gebe, obwohl doch das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft worden sei. Ein Marxist aus dem Osten erklärte, dass darauf die Praxis eine klare Antwort erteilt habe: Zwar seien die Betriebe Volkseigentum, sofern sie aber als unabhängige Einheiten und nicht als Teile einer ganzheitlich geplanten Wirtschaft produzierten, koordiniere sich deren Interaktion bis dato nicht anders als über Warenaustausch. Warum nicht eingreifen, hätte die nächste Frage sein können. Aber diese riefe die Gewalt des Staates schon herbei und berechtigte zu der Gegenfrage, was anstelle des Warenverkehrs treten solle. Etwa noch gigantischere Planungsbehörden? Ein sowjetischer Kybernetiker berechnete in den siebziger Jahren, dass, wollte man die Sowjetwirtschaft umfassend rationalisieren, jährlich zehn hoch sechzehn Operationen geplant werden müssten und dafür Milliarden von Fachkräften erforderlich seien. Um die Planungsaufgaben zu bewältigen, müsse ein Computernetzwerk aufgebaut werden, so Gluschkow weiter.

Nun liesse sich einwenden, dass der Zusammenschluss der Ökonomie von oben beziehungsweise durch eine zentrale Planungsbehörde nicht notwendig sei und dass die wirtschaftlichen Einheiten doch ohne Tausch interagieren und sich die notwendigen Produkte gegenseitig bereitstellen könnten. Die Abschaffung des Äquivalenzprinzips ist eine Utopie, mit der auch Adorno liebäugelte, viel vorsichtiger aber, als es in Kreisen radikaler Linker üblich ist. In einem seiner letzten Texte heisst es: »Über das Tauschprinzip hinausgehen heisst zugleich es erfüllen: keiner darf weniger mehr erhalten als das Äquivalent der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeit.« Zwar, so führt er an anderer Stelle aus, walte im »Gleich um Gleich« des Tausches die Rache als »mythisches Urbild«, jenes sei aber auch »die Bedingung möglicher Gerechtigkeit.« Diese abstrakt zu negieren, bedeutete missglückende Verdrängung, gar Ungerechtigkeit. Es drohten Herrschaft und Ausbeutung durch privilegierte Gruppen oder der Zwang durchs Kollektiv.

Wie begründet Adornos Angst ist, beweist Christian Siefkes in seiner visionären Skizze einer Peer-Ökonomie, allerdings ungewollt. Über das Internet, so Siefkes, liessen sich Arbeit und Güterverkehr organisieren, jedes Mitglied liefere seinen Anteil, das Äquivalenzprinzip würde überwunden: »Beitragen statt tauschen«. Je detaillierter Siefkes sein Projekt erörtert, desto stärker allerdings wird er von der Tarantel der Gerechtigkeit gebissen – das Prinzip des Tausches bricht über die Hintertür wieder herein. Schliesslich sollen alle »die gleiche Anzahl gewichteter Stunden beitragen«, sogar ein »Aufwandsausgleich-Effekt« ist mitgedacht. Bloss dass die Gerechtigkeit nicht verdinglicht, vermittels der Warenform hergestellt wird, sondern vermittels des Kollektivs.

Es verhalte sich in der Peer-Ökonomie nämlich so wie auf einem Kochabend: »[D]ie Beteiligten […] erwarten, dass sich alle auf die eine oder andere Weise an den nötigen Vorbereitungen und Aufräumarbeiten beteiligen.« Und wenn jemand doch zu dreist sei auf Kosten der Gruppe zu leben, »dürften die schwersten Formen der Exklusion […] wahrscheinlich immer ausreichend sein, um mit Verstössen gegen Vereinbarungen und Prozesse fertig zu werden«. Exkludiert würde man aus einer der einhundert- bis fünfhunderttausend Mitglieder zählenden »Peer-Gemeinden«. Es sei daran erinnert, wie Marx die urkommunistischen Gemeinden nota bene zu bezeichnen pflegte: als »naturwüchsige Gemeinheiten«. In der computergestützten Peer-Ökonomie kehren sie zurück.

Ums Ganze

Einige radikale Linke, insbesondere jene kommunistischen Antideutschen, die heute kaum noch in Erscheinung treten, kämen nicht wie Siefkes auf die Idee, sich den Zustand jenseits aller Tauschwirtschaft auszumalen. Ihnen gilt das Bilderverbot. Aber wie die Kritik des Äquivalenzprinzips verwandelt sich auch das in ihrer Hand zum Trumpf. Die Gewissheit über den erlösten Zustand nichts zu wissen, wird bei ihnen die Gewissheit: Man könne ihn zwar nicht sehen und dürfe ihn auch nicht ausmalen, aber er befinde sich direkt hinter dem Vorhang des Kapitals. Während die Kunst der Kritischen Theorie darin besteht, auf nichts mehr zu vertrauen und dennoch dem Zustand der Erlösung nicht zu entsagen, hatten besagte kommunistische Antideutsche, als sie noch zu vernehmen waren, zwar den Glauben an das revolutionäre Subjekt und das Volk aufgegeben, das Selbstbewusstsein aber, dass man zumindest theoretisch um die Auflösung des Rätsels der Geschichte wisse, haben sie von Marx gepachtet. Aus dieser Mischung erklärte sich auch ihr politischer Gestus: Eigentlich sei alles ganz einfach, eine befreite Gesellschaft möglich, bloss sei die überwältigende Mehrheit der Menschen einfach zu blöd das Kapital zu durchschauen und mache am Ende alles nur noch schlimmer.

Anders der politische Gestus der Kritischen Theorie: Wenn überhaupt mal praktische Forderungen erhoben werden, so nehmen sich diese zaghaft oder vage, jedenfalls nicht revolutionär aus – so als stünden sie dem philosophischen Impetus der Kritischen Theorie entgegen. Das hat Grund. Während Marx noch überzeugt sein konnte, er liesse sich erreichen, ist der Verein freier Menschen im 20. Jahrhundert der Ordnung des Profanen entrückt – in eine Sphäre, nach der allein die Philosophie ihre Fühler auszustrecken vermag. Sobald aber die Politik, die der Einrichtung des Hier und Jetzt sowie dem Glück der Menschen verpflichtet ist, Glauben machte, ein Quantensprung in diese Sphäre sei möglich, wandelte sie sich in Hybris und affizierte eher noch Gewalt als Fortschritt.

Radikale Linke insistieren weiterhin darauf, es ginge »ums Ganze«. Reformistische politische Forderungen, etwa die nach Umverteilung, werden dabei als Donquichotterie belächelt oder als Staatsfetischismus angefeindet. Variiert wird die alte Parole, wonach alles andere als die Abschaffung des Kapitals Quark sei. Nun war diese Parole bereits in der Zeit, als der Königsweg der »Expropriation der Expropriateure« (Karl Marx) noch gangbar schien, nie frei von dem Verdacht, die Melodie des Kapitals zu transponieren: Akkumulation sei grossartig, alles andere Quark, das heisst Einzelinteressen kraft des Allgemeinen nur Petitessen. Heute ist die Parole nach aussen hin zusätzlich verstockt und garstig geworden. Denn was sollen beispielsweise junge erwerbslose Erwachsene in Spanien, die gezwungen sind im Elternhaus auszuharren, mit dieser Parole anfangen?

Nach innen übertönt die Parole eine grosse Tragik: dass Gesellschaftskritik trotz dessen, dass die Marx'sche Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise bis heute wahr geblieben ist, keinen Ausweg aus sozialer Depravation mehr auszuweisen vermag. Die Chancen dafür, dass sich ein solcher Ausweg demnächst wieder abzeichnet, stehen nicht unbedingt gut. Sie zu ergreifen setzt voraus, keine grossen Töne zu spucken, das historische Dilemma zu registrieren und das Scheitern des Sozialismus nicht nur aus dem Unvermögen damaliger kommunistischer Bewegungen sowie äusseren historischen Zwängen abzuleiten, sondern auch aus den Fluchtlinien, die sich Marx dem Stande der historischen Erfahrung nach aufgedrängt hatten.

Hannes Giessler
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 42
www.phase-zwei.org

Die Fussnoten wurden in diesem Text weggelassen.