Was hat Russland in der Ukraine vor? Annexion, Teilung, Föderation – gar ein Einmarsch?

Politik

Russland hat im März dieses Jahres die Krim heim ins Reich geholt. Das hat einen Sturm der Entrüstung in den westlichen Medien hervorgerufen, die seinerzeit nichts dabei fanden, als sich die Ukraine von der Sowjetunion abspaltete und die Krim dabei mitnahm.

Metro von Kiew.
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Metro von Kiew. Foto: Serhiy Koshelyev (PD)

26. Mai 2014
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Um die Krim und deren Bewohner kann es also nicht gehen. Es ist einfach alles, was Russland nützt oder Russland Vorteile bringt, ein einziger völkerrechtlicher Skandal.

Seither wird der russischen Regierung nachgesagt, sie wolle sich die ganze Ukraine einverleiben, die Ukraine teilen, oder zumindest einen Teil der Ukraine einkassieren. Der Hunger des russischen Bären sei unersättlich, wird der westlichen Öffentlichkeit suggeriert. Putin ante portas! Vor allem in Polen und im Baltikum werden alte Ängste wieder erweckt und geschürt. Und dafür, um diesen unersättlichen Landhunger zu stillen, würde Putin beinahe im Alleingang irgendwelche Agenten im Osten und Süden der Ukraine fernsteuern.

1. Russland und die ostukrainischen Aufständischen

Es ist eine interessante Unterscheidung zwischen den Bewohnern der Ukraine, die hier vorgenommen wird: Während einige Tausend vom Westen unterstützte Krawallmacher eine Regierung stürzen dürfen und dabei als Repräsentanten des ukrainischen Volkes gehandelt werden, so, als hätten sie damit den Willen der Bevölkerung exekutiert – währenddessen sind ebensolche Aufständischen im Osten, die sich gegen die solchermassen in Kiew eingesetzten Hampelmänner stellen, Separatisten, Agenten einer auswärtigen Macht, womöglich aus Russland eingeschleust. Auf keinen Fall repräsentieren sie jedenfalls Volkes Willen.

Dass die „Separatisten“ überhaupt zu solchen geworden sind, hat sowohl mit der Haltung des Westens als derjenigen Russlands zu tun.

Russlands Position ist seit Wochen, dass die Ukraine als einheitlicher Staat – allerdings ohne Krim – weiterbestehen soll, aber sich eine im Unterschied zur derzeitigen zentralistischen Verfassung eine föderalistische geben soll. Die Ukraine sollte sich nach dem Vorbild von zweifelsohne demokratischen Staaten wie der BRD, Österreichs oder der Schweiz organisieren, mit Regionalwahlen und eigenen Landesparlamenten. Diese Position wird aber von niemandem ernsthaft diskutiert, weder von den Kiewer Hampelmännern, noch von deren Gönnern in USA und EU. Eine solche Verfassung würde nämlich die imperialistische Benützung der Ukraine verunmöglichen, da es nicht mehr möglich wäre, mit der Zentralregierung Verträge auszuhandeln und dann auf diese Druck auszuüben, damit sie die unerfreulichen Bedingungen derselben landesweit durchsetzt.

Diejenigen Bewohner der Ukraine, die sich mit Autonomie begnügt hätten, wurden also von Kiew her schroff abgewiesen.

Russland hingegen will von einem (weiteren) Anschluss von ukrainischen Gebieten nichts wissen. Es hat alle Hände voll zu tun, um die Krim administrativ und ökonomisch einzugliedern und legt keinen Wert auf weitere Gebiete. Das wurde den Bewohnern der Ostukraine auch klar mitgeteilt.

Denjenigen Unzufriedenen, die die Kiewer Putschisten, die „Junta“ nicht als rechtmässige Regierung anerkennen wollen, blieb also praktisch kein anderer Weg als der der Eigenstaatlichkeit, weshalb auf die ominösen Abstimmungszettel auch nur mehr diese Variante Eingang fand.

Die Kiewer Regierung und ihre mediale weltweite Unterstützung betreiben weiterhin die Denunziation der ostukrainischen Aufständischen als fremde Elemente – von Russland unterstützt, von Russland eingeschleust, – um den verfassungswidrigen Einsatz des ukrainischen Militärs gegen die eigene Bevölkerung zu rechtfertigen. Obendrein werden sie als „Terroristen“ bezeichnet, also als Leute, die keinen politischen Zweck verfolgen, sondern nur den negativen, die bestehende Ordnung zu stören.

Wobei von einer Ordnung im Sinne eines staatlichen Gefüges in der Ukraine eigentlich keine Rede sein kann …

2. Russlands Pläne und Vorgehen

Die Website des Kaukasus-Emirates veröffentlichte vor einigen Wochen angebliche Pläne Russlands für einen militärischen Einmarsch in die Ukraine. Der Bericht war etwas zu detailliert, um der blossen Einbildungskraft eines Dschihadistengehirns entsprungen zu sein: der mit der Planung beauftragte General wurde genannt, und auch einige Details, welche Truppen wie eingesetzt würden. Solche Pläne gibt es sicherlich, und sie werden von der russischen und militärischen Führung ebenso sicher erwogen wie auch wieder verworfen. Erstens ist die politische und militärische Reaktion des Westens nicht absehbar. Die NATO könnte eine Besatzung der Ukraine durch Russland als Anlass für einen Dritten Weltkrieg nehmen. Zweitens ist auch die rein militärische Durchführbarkeit fraglich. Ein endloser Partisanenkrieg vor den Toren Russlands könnte drohen. Afghanistan lässt grüssen, von Tschetschenien und anderen Kaukasus-Unruheherden ganz zu schweigen.

Russlands Interesse an der Ukraine ist ebenso stark wie unentschieden. Strategisch ist die Ukraine ein unverzichtbarer Bestandteil der russischen Grenzsicherung, ein Gebiet, in dem es auf keinen Fall NATO-Truppen sehen will. Ökonomisch bezieht Russland noch immer einen Haufen von Produkten aus der Ukraine, auf die die russische Führung nicht verzichten will. Neben Erzeugnissen der Schwerindustrie gehören dazu auch Bauteile für militärisches Gerät, die Russland bis heute nicht auf dem eigenen Hoheitsgebiet herstellen kann. Schliesslich kann sich Russland auch keinen Bürgerkrieg in der Ukraine leisten, der gigantische Flüchtlingsströme nach Russland verursachen würde. Schon heute wurden in den angrenzenden Gebieten Russlands Anlaufstellen eingerichtet für den seit Jahresanfang stetigen Zustrom von Umsiedlern, die sich in Russland sicherer fühlen als in der Ukraine.

Natürlich unterstützt Russland die Aufständischen in der Ostukraine mit Waffen und Beratern, vor allem von der und über die Krim. Natürlich hält es Truppen in Grenznähe in Bereitschaft. Ein tatsächlicher Einmarsch wäre aber nicht im Sinne Russland, weil die Konsequenzen eines solchen Schrittes nicht berechenbar sind.

3. Der Kampf der Oligarchen und Russland

Die ukrainischen Oligarchen haben sich die Reichtumsquellen der Ukraine in hartem Kampf unter sich aufgeteilt. Dieser Kampf ist natürlich nie zu Ende. Kaum zeigt sich bei einem Konkurrenten eine Schwäche, so versuchen andere, auf sein Terrain vorzudringen. Julia Timoschenkos Gefängnisaufenthalt hat sie z.B. aus der Gas-Transit-Branche hinausgedrängt und sie wird es wahrscheinlich nicht mehr schaffen, ihre frühere Position wiederzuerobern.

Jeder der Oligarchen hat eine „Sicherheitsdienst“ genannte private Schlägertruppe, die gegebenenfalls mit Fussballfans und Angestellten zu einer kleinen Privatarmee aufgestockt werden kann. Ihre Macht kann jedoch das in der Ukraine fehlende Gewaltmonopol nicht ersetzen. Jeder trachtet danach, notfalls in Koalition mit anderen, möglichst nahe an die politische Macht zu gelangen, Parteien zu gründen oder für sich zu kaufen, um die politischen Entscheidungen in seinem Sinne beeinflussen zu können.

Dieses labile Gleichgewicht ist durch die Ereignisse in Zypern sehr durcheinander gebracht worden. Alle ukrainischen Oligarchen machen den Grossteil ihrer Geschäfte mit Russland und anderen Staaten des ehemaligen COMECON, bzw. mit Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens. Parken tun sie ihre Barvermögen, ihren „Reservefonds“ jedoch mehrheitlich in der EU. Da mussten sie schon in Zypern Federn lassen. Die lockere Art, mit der sich in Zypern ukrainisches und russisches Vermögen einkassieren liess, hat womöglich die EU-Politiker erst so richtig wagemutig und frech werden lassen, der Ukraine diesen Assoziationsvertrag unbedingt aufs Aug drücken zu wollen.

Jetzt, rund um die Ereignisse des Maidan, hat die EU wiederum Druck ausgeübt: Wer nicht mit uns ist, wird als Verbrecher, Geldwäscher behandelt und sein Geld ist futsch! Und deshalb haben sich die meisten Oligarchen auf die Seite der EU bzw. der USA gestellt. Nicht so der grösste Oligarch der Ukraine, Rinat Achmetov. Achmetov kontrolliert wie kein anderer den Osten der Ukraine. Wenn er heute seine Arbeiter in verschiedenen Städten patrouillieren lässt, so handelt er im Einklang und in Absprache mit Russland, und übrigens auch mit einem guten Teil der „Separatisten“ wider Willen, zumindest mit deren Führung.

Mit ihm wird sich auch Poroschenko einigen müssen, sollte er es irgendwie schaffen, diese Wahl-Farce als einen Sieg darzustellen und versuchen, die Ukraine zu regieren. Alle Versuche der Rivalen, Achmetov zu diskreditieren und zu entthronen, sind zum Scheitern verurteilt, eben weil er die Rückendeckung Russlands hat. Er, nicht sein Hampelmann Janukowitsch, war und ist der eigentliche „Namestnik“, Statthalter Russlands.

Auch Poroschenko muss sich mit Russland arrangieren. Vermutlich hat er bereits Schritte in diese Richtung getan. Ohne den russischen Markt kann ein guter Teil seiner Unternehmen zusperren. Ohne Russlands Zustimmung kann er die Ukraine nicht regieren.

4. Perspektiven

Es fragt sich allerdings, ob er es selbst mit Russlands Rückendeckung schaffen wird. Denn die Karten für die Einflussnahme auf die Ukraine sind ja schon verteilt. IWF, EU und USA warten, um ihre miteinander, mit den Interessen der Ukraine und mit denen Russlands unvereinbaren Ansprüche zu präsentieren.

Nicht zu vergessen ein Haufen bewaffneter Ukrainer, deren jeder die jeweils andere Fraktion als den ersten Feind betrachtet …

Amelie Lanier