Über Sackgassen und Auswege Wie die Welt verändern?

Politik

Die Frage, wie die Welt verändern, steht spätestens seit dem Ende des Kalten Kriegs wieder verstärkt auf der Agenda der Linken. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien der staatssozialistische Weg zur Emanzipation erledigt.

Reusen an einem Strand bei der spanischen Kleinstadt Muros de Noia, A Coruña, Galicien.
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Reusen an einem Strand bei der spanischen Kleinstadt Muros de Noia, A Coruña, Galicien. Foto: Luis Miguel Bugallo Sánchez (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

13. Januar 2015
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Ein ganz anderes Modell gesellschaftlicher Veränderung verkörpern seit Mitte der 1990er Jahre die Zapatisten in Mexiko. Statt auf die Übernahme der Staatsmacht setzen sie auf solidarische Selbstorganisation im Alltag, jenseits staatlicher Strukturen. Das blieb nicht ohne Einfluss auf linke Debatten weltweit. (1) Zumindest solange, bis die staatszentrierte Strategie um die Jahrtausendwende durch Hugo Chavez wieder ins Spiel gebracht wurde. (2)

In Deutschland wird unter Linken, seit Gründung der Linkspartei, wieder verstärkt über die Eroberung der staatlichen Machtzentren nachgedacht. Neuen Zuspruch erhielt diese Strategie kürzlich durch das Erstarken von SYRIZA in Griechenland und PODEMOS in Spanien. Dem konnte selbst der Kurswechsel der PKK – weg von nationaler Befreiung, hin zu einer demokratischen Konföderation „jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ (3) – bisher wenig anhaben.

Die neu entflammte „linke Leidenschaft für den Staat“ (4) ist für uns Grund genug, den Nutzen linker Parteipolitik einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Dazu haben wir uns zunächst noch einmal die allgemeinen Probleme einer parteizentrierten Strategie vergegenwärtigt. Anschliessend wollen wir deutlich machen, wieso dieser Weg in der aktuellen historischen Situation und besonders in Europa und Deutschland zwangsläufig in die Sackgasse führt. Was wir stattdessen vorschlagen ist eine Drei-Ebenen-Strategie, bestehend aus einer neuen linken gesellschaftlichen Vision, Selbstorganisation im Alltag und einer offensiven Auseinandersetzung mit falschen Alternativen von rechts.

Unsichere Zeiten: Weltwirtschaftskrise und Standortterror

Linke Bewegungen müssen sich schon immer mit gesellschaftlichen Voraussetzungen auseinanderzusetzen, die sie nicht selbst hervorgebracht haben. Diese wiederum beeinflussen ihre Erfolgschancen massiv. Während die Stabilität und Starrheit der Verhältnisse manch linke Aktivist*in in der Vergangenheit zu Verzweiflung trieb, sind seit 2008 die Zeiten relativ stabiler kapitalistischer Entwicklung vorbei. Unsichere Zeiten stehen bevor. Dafür sehen wir drei Gründe.

Erstens: Die Verwertungskrise des Kapitals 2008 war erst der Anfang. Eine sich abzeichnende grosse Weltwirtschaftskrise wurde aufgeschoben, die Ursachen beseitigen konnte das Krisenmanagement nicht. Die rasante Entwicklung der Produktivkräfte, aber auch die Massnahmen des Kapitals, das auf die Kämpfe der Arbeiter*innen reagierend, menschliche Arbeit zunehmend durch Maschinen ersetzt, führten schon in den 1970ern zu einer Überakkumulationskrise. Das Kapital reorganisierte sich und die ökonomisch führenden Staaten reagierten mit einer Neuregulierung der Währungs- und Finanzsysteme, sowie einer weltweiten Freihandelsoffensive. Auf der Suche nach lukrativen Anlagemöglichkeiten flossen seitdem Unmengen von Geldkapital in die Finanzmärkte. Zu einem grossen „bereinigenden“ Crash ist es nach wie vor nicht gekommen. Nach sektoralen und regionalen Krisen in den 1990er und 2000er Jahren (new economy-Krise, Asienkrise, Argentinienpleite, …) stand 2008 der Ausbruch einer schweren Weltwirtschaftskrise kurz bevor.

Massive staatliche Interventionen verschafften Staat und Kapital eine Atempause. Diese Interventionen bestanden im Wesentlichen in der Sozialisierung von Bankenschulden, dem Aufkauf von Staatsanleihen, gezielten Subventionierungsprogrammen für bestimmte Industriezweige und vor allem der Niedrigzinspolitik und dem Aufkauf von Wertpapieren durch die Zentralbanken. All diese Massnahmen haben unproduktives Kapital im Interesse der jeweiligen Staaten erhalten, die Blasen an den Finanzmärkten weiter aufgebläht und die Umverteilungsdynamik zugunsten der Reichsten verstärkt. Kurz: Mit den Krisenmassnahmen 2008ff wurde die Grundlage für einen globalen Crash auf höherem Niveau mit noch dramatischeren Folgen gelegt.

Zweitens: Die rasante Entwicklung der Produktivkräfte erzeugt weltweit massenhaft Menschen, die für den Kapitalprozess überflüssig sind. Die in den 1980er Jahren einsetzende mikroelektronische Revolution intensivierte diesen Prozess und führte insbesondere in den kapitalistischen Zentren zur Freisetzung grosser Massen von Lohnabhängigen aus der industriellen Produktion. Diese wurden und werden zum Teil als billige Arbeitskräfte im wachsenden Dienstleistungssektor wieder in den Kapitalprozess eingegliedert. Sie erhöhen, zusammen mit der Reservearmee der Arbeitslosen, den Druck auf die verbliebenen besser gestellten Lohnabhängigen. Gleichzeitig haben weltmarktorientierte Politiken in der Mehrzahl der armen Länder des globalen Südens nicht die versprochene kapitalistische Entwicklung bewirkt. Die Verarmung und Marginalisierung grosser Massen der Bevölkerung, verbunden mit dem Verlust des Glaubens an eine nachholende Modernisierung, war die Grundlage der Aufstände im arabischen Raum ab dem Jahr 2011. Dort, wo der Anschluss an die kapitalistischen Zentren einigermassen zu gelingen scheint, kommt es hingegen vermehrt zu Verteilungskämpfen und Widerstand gegen die Brutalität des kapitalistischen Modernisierungsprozesses – vor allem in China und Indien. Für all diese Menschen erfüllt sich das kapitalistische Glücksversprechen nicht.

Drittens: Der globale Siegeszug des Kapitalismus nach dem Ende der Sowjetunion hat die Welt nicht friedlicher werden lassen, im Gegenteil. Aus der ehemals bipolaren Welt ist eine politisch und ökonomisch multipolare Weltordnung hervorgegangen. Kennzeichnend für diese ist eine global etablierte kapitalistische Konkurrenz der Standorte um Kapital, Märkte und knapper werdende Rohstoffe. Von der Weltmarktkonkurrenz getrieben ordnen die Staaten alle gesellschaftlichen Bereiche den Verwertungsanforderungen des Kapitals unter. Mitbestimmung, demokratische Beteiligung und soziale Sicherheit werden dabei tendenziell als Hindernisse betrachtet und geschliffen. Daraus folgen innergesellschaftliche soziale Auseinandersetzungen, aber auch kriegerische Konflikte in einem Ausmass, wie es die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Die Konkurrenz der Standorte wirkt wie ein Katalysator: Verschlechtert ein Staat die Lebensbedingungen seiner Bevölkerung zugunsten des Kapitals, ziehen anderen nach. Nichts anderes bezweckt der Übertrag der Agenda 2010 auf Europa durch das Wettbewerbsdiktat der Troika.

Zusammengefasst heisst das: Eine zu erwartende Weltwirtschaftskrise, das Anwachsen der sozialen Spaltung in Arm und Reich, sowie eine Verschärfung der Konkurrenzstrategien von Kapital und Standortmanagern. Das wird auch im scheinbar stabilen Nord-Europa, inklusive Deutschland, zu massiven sozialen Verwerfungen und Konflikten führen. Zusätzlich zum bestehenden Leistungsterror, Privatisierungen der Sozialsysteme, zu Hartz IV, zu Leiharbeit und Werkverträgen, wird auch in Deutschland in den nächsten Jahren mit Kriseneinbrüche, Massenentlassungen und einer weiteren Welle sozialer Kürzungen zu rechnen sein. Angesichts der kapitalistischen Krisendynamik gehen wir davon aus, dass die von Gewerkschaften und Sozialdemokraten herbeigesehnte Rückkehr zum „Vorkrisenmodus“ nicht möglich sein wird. Die kurze Phase des relativen (sozialen) Friedens, die es zumindest in den westlichen Zentren für einige Jahrzehnte gab, ist offensichtlich zu Ende.

Chance: Brüche, Erkenntnis, Widerstand

Das klingt dramatisch und das ist es auch. Trotzdem denken wir, dass wir als Linksradikale die oben skizzierten Entwicklungen nicht nur als Gefahr, sondern auch als Chance begreifen sollten. Anders gesagt, wer sich eine Gesellschaft ohne Staat und Kapital wünscht, sollte ihnen nicht nachweinen oder sie stabilisieren wollen, wenn sie in die Krise geraten. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass alle grossen Weltmarktkrisen heftige Streikbewegungen und Jahre/Jahrzehnte heftiger sozialer Auseinandersetzungen nach sich gezogen haben.

Auch 2008ff entstanden rund um den Globus neuen Bewegungen und Aufständen, die sich in Verlaufsform, Zielen und Mitteln ähnelten. Der Krisen-Prozess vereinheitlicht also die Kämpfe in ihrer Tendenz, das Internet vereinfacht eine gegenseitige Bezugnahme. Das ist für einen Internationalisierungsprozess linker Kämpfe eine Chance. Krisen sind Zeiten der Verunsicherung. Mit ihnen geraten nicht nur die Verhältnisse und das Massenbewusstsein in Bewegung. Menschen machen gemeinsame Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen und partizipieren in defensiven Kämpfen, die sich ausweiten und radikalisieren können (Beispiele hierfür finden sich in der deutschen Rätebewegung, aber auch in der jüngeren Geschichte Argentiniens). Individuelle Schuldzuweisungen für Armut verlieren ihre Plausibilität, da sich soziale Situationen vervielfältigen und der strukturelle Charakter der Klassengesellschaft augenscheinlich wird. Etablierte Organisationen und Institutionen – Parteien, Gross-Gewerkschaften usw. – haben keine glaubwürdigen Alternativen anzubieten, ihre Ressourcen schwinden und reformistische Rezepte laufen offensichtlich ins Leere. Zudem bricht mit der stockenden Kapitalakkumulation ihre materielle Grundlage zusammen. Es entstehen Korridore für Selbstorganisation (siehe Griechenland, Spanien). Natürlich führt die Krise des Bestehenden weder zwangsläufig noch plötzlich zur Erleuchtung der Massen. Was aber sehr wohl möglich ist, sind kleine Erkenntnisgewinne vieler und damit eine deutliche Verbesserung der Voraussetzungen für eine grundlegende Revolutionierung der Verhältnisse.

Soziale Kämpfe in Europa und der BRD – wo stehen wir?

In der ersten Welle der Krisenkämpfe seit 2008 kam es in Frankreich, Griechenland, Spanien und Portugal zu einer Vielzahl von Generalstreiks. Die Wirkung blieb aus, die Regierungen blieben hart und führten ihren Standort-Sanierungskurs weiter fort. Auf staatlicher Ebene war durch symbolischen Protest, begrenzte Ausschreitungen und Ausstände also kaum etwas zu erreichen. Dessen ungeachtet wurde die kapitalistische Standortpolitik in Folge der Krise intensiviert. In einer zweiten Welle entstanden vor allem in Griechenland und Spanien viele emanzipatorische selbstorganisierte Basisprojekte: Etwa die Bewegung gegen Zwangsräumungen, selbstorganisierte Projekte im Gesundheitsbereich und soziale Zentren. Ebenso gibt es (z.B. mit viome) Auseinandersetzungen um die kollektive Aneignung von Produktionsmitteln.

Zurzeit beginnt eine dritte Welle der Krisenkämpfe. Anlass sind die Versuche, Arbeitsmarktreformen und soziale Kürzungen, wie sie in Grossbritannien und Deutschland längst durchgesetzt sind und seit 2010 in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland durchgesetzt werden, auf Staaten wie Italien, Frankreich oder Belgien auszuweiten. In Italien mobilisierten die in den letzten Jahren erstarkenden Basisgewerkschaften zu einem landesweiten Aktionstag und Bewegungen diskutieren über soziale Streiks. Belgien wurde am 15. Dezember 2014 vom wahrscheinlich härtesten Generalstreik in einem europäischen Land seit Beginn der Krise völlig lahmgelegt. Ein Problem für all diese Bewegungen ist allerdings die relative Ruhe in Frankreich und insbesondere in der BRD. Denn Deutschland ist nicht nur Profiteur, sondern, gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank, der EU-Kommission und dem Internationalen Währungsfonds, Antreiber der Austeritätspolitik der letzten Jahre.

Die Friedhofsruhe hierzulande erklärt sich einerseits durch die Auslagerung der Krisenkosten, den aufrechterhaltenen Schein stabiler Verhältnisse und das geschickte Krisenmanagement der Herrschenden. Diese protegieren vor allem die exportorientierte Industrie, beziehen aber gewerkschaftlich gut organisierte Segmente der Arbeiterklasse mit ein.

Andererseits hat die momentane Ruhe auch mit der Schwäche der Linken zu tun. Denn Gründe zu kämpfen gibt es auch im Wirtschaftswunderland genug. Die Arbeitslosigkeit in Südeuropa findet ihre Entsprechung hierzulande in Arbeitsverdichtung, burn out und einer Zunahme psychischer Erkrankungen. Outsourcing, Leiharbeit, Werkverträge und Ämterschikane haben den Niedriglohnsektor in Deutschland zwischen 1996 und 2010 von 15 auf 21 Prozent anwachsen lassen. Steigende Mieten führen zur Verdrängung der grösser werdenden Teils der armen Bevölkerung aus den Zentren des Standort Deutschlands. Gerade die Prekarisierten führten in den letzten Jahren auch in der BRD Kämpfe, eine erfolgreiche Teilnahme Linker und eine antikapitalistische Stossrichtung gab es allerdings nur selten.

Die Schwäche der Linken

Zentrale Gründe für die Schwäche der ausserparlamentarischen Linken in Deutschland sind ihre mangelnde Gesellschaftlichkeit, ihre homogene Zusammensetzung und das Verharren in den eigenen Milieus. Anschluss bzw. Verbindung zu Massenbewusstsein ist aber eine entscheidende Voraussetzung, um soziale Kämpfe erkennen und gewinnen zu können. Entsprechend wird die eigene Beteiligung an sozialen Auseinandersetzungen, meist nur als (inhaltliche) Intervention gedacht, statt als kollektiv zu organisierender Kampf für bessere Lebensbedingungen, gegen Staat und Kapital. Das lässt sich an den Protesten gegen Hartz IV illustrieren:

Als die SPD im Bündnis mit den Grünen Anfang der 2000er Jahre endgültig von welfare auf workfare umschaltete, löste sie damit einen in der Geschichte der BRD beispiellosen Prekarisierungsschub aus. Die Arbeitsmarktderegulierungen (Leiharbeit etc.), das Prinzip des „Fördern und Fordern“, ALGII, Bezugskürzungen, Überwachungsmassnahmen, aufgezwungene Schulungsmassnahmen, Annahmepflicht von „zumutbarer“ Arbeit und Ein-Euro-Jobs wurden als das verstanden, was sie waren: Ein grossangelegter Angriff auf die Armen – Massnahmen, um Einkommen und Lebensstand zugunsten des Kapitals senken. Das liess Betroffene und Bedrohte gleichermassen aufbegehren. Das Besondere an dieser Situation: Auch wenn die SPD längst keine Arbeiterpartei mehr war und schon gar nicht links, galt sie bis dahin als alleinige Repräsentantin der Arbeiterklasse im Rheinischen Kapitalismus. Diese machte nun, für alle sichtbar, Politik gegen die „eigene“ Klientel.

Alleingelassen, ohne parlamentarische Repräsentation und ohne Unterstützung durch die DGB-Gewerkschaften, gingen 2003/4 zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Unterklassen auf die Strasse. Aus ihrer Wut entstand eine schnell wachsende Bewegung. Auf ihrem Höhepunkt am 30. August 2004 demonstrierten in über 200 Städten mindestens 200.000 Menschen gegen Hartz IV. Zuvor hatten am 1. November 2003 in Berlin etwa 100.000 gegen die Hartz IV-Gesetze demonstriert. Die Demonstrationen wurden von Betroffenen und gewerkschaftlichen Basisstrukturen an den DGB-Gewerkschaftsspitzen vorbei organisiert. Letztere hatten die Agenda 2010 lediglich als „sozial unausgewogen“ bezeichnet.

Es entstand eine Situation, in der massive gesellschaftliche Wut, eine Repräsentationslücke und eine wachsende Bewegung innerhalb kurzer Zeit zusammenkamen. Es gelang der radikalen Linken jedoch nicht diese Chance zu nutzten. Zwar gab es durchaus gute Aktionen und Kampagnen – wie die Kampagne Agenturschluss oder die Überflüssigen – doch fehlten den meisten Linken ein grundlegendes Verständnis der Bewegung, persönliche Kontakte und eine gemeinsame soziale Sprache. Es wäre durchaus möglich gewesen, gemeinsame Plattformen zu schaffen oder sich in den Arbeitslosengruppen einzubringen, um gegen die Angriffe von Rot-Grün Widerstand zu organisieren. Die Hartz IV-Proteste hätten eine Chance geboten, die eigene Isolation aufzubrechen und Anti-Kapitalismus zu vergesellschaften.

Stattdessen hielten sich die meisten Linken raus oder beschränkten sich darauf, von der Seitenlinie zu kommentieren. Antideutsche mochten im Slogan „Weg mit Hartz IV – das Volk sind wir“ nichts erkennen als die Wiederauferstehung des antisemitischen Volksmobs. Antifas und Autonome Strukturen waren zu sehr auf ihre Spezialthemen (Nazis) bzw. die eigene Subkultur fixiert. Viele schienen nach den eher von Niedergang gezeichneten 1990er Jahren geradezu überfordert mit einem sozialen Kampf, bei dem es nicht um ein neues autonomes Zentrum ging. Die entstandene Repräsentationslücke wurde kurze Zeit später von der Linkspartei geschlossen.

Auf Menschen zugehen, Perspektiven teilen und übernehmen, Koalitionen mit Zusammenhängen aus anderen Milieus eingehen, Szenegewohnheiten in Frage stellen und Widersprüche thematisieren statt sie zu vermeiden: Das sind Aufgaben, denen sich die radikale Linke stellen muss. Das hört sich mühsam an? Vielleicht ist das der Grund weshalb einige Linke derzeit nach Abkürzungen suchen, um, wenn schon nicht die eigene gesellschaftliche Verankerung, so zumindest die eigene gesellschaftliche Wirkmächtigkeit zu erhöhen.

Abkürzung in die Sackgasse

Selbstorganisiert neue Praxen ausprobieren, neue Allianzen schmieden und neue Organisierungsansätze etablieren kann anstrengend sein. Die Forderung nach einer stärkeren Verzahnung von Partei und Bewegung ist unseres Erachtens ein Versuch diesen langwierig erscheinenden Weg zu umgehen. Sei es SYRIZA in Griechenland, PODEMOS in Spanien oder die Linkspartei in Deutschland.

Dass die ersten beiden Wellen der Krisenkämpfe die Austeritätspolitiken nicht zu Fall gebracht haben, bringt beispielsweise Mario Neumann von der Interventionistischen Linken dazu, eine “letztlich folgenlose Dauerbewegung der Bewegungen” zu diagnostizieren (analyse & kritik, Nr. 593). Daraus schliesst er, dass “kein Weg an einer Aktualisierung und Erweiterung der politischen Strategie auf das weitestgehend unerschlossene Terrain der »Hauptquartiere der Macht« vorbei” führt. Neumann folgt dabei Eva Völpel und Mario Candeias, die in ihrem Buch „Plätze sichern!“ (2014) und in der analyse & kritik (Nr. 595) dazu aufrufen, ein “komplexes Beziehungs- und Abstimmungsgeflecht zwischen Partei und Bewegung” aufzubauen.

Die Leichtigkeit, mit der derzeit die Parteipolitik als Abkürzung zur Revolution präsentiert wird, überrascht uns. Sprechen doch alle historischen Erfahrungen und alles, was kritische Theorie über den Staat zu sagen hat, dagegen. Was schief gehen muss, wenn sich Linke des Staates bedienen wollen, lässt sich am Beispiel der SPD und der Grünen studieren. Dass die Linkspartei dabei keine Ausnahme ist, hat sie während ihrer Regierungszeiten in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern tatkräftig unter Beweis gestellt. Weder wird sich so die historisch gewachsene Schwäche der Linken in der BRD beheben lassen, noch höhere Durchsetzungskraft einstellen. Auf die Frage, warum die Abkürzung über den Staat nicht zur Revolutionierung der Verhältnisse führt, kann linke Staatskritik Antwort geben. Oder das Faktenmagazin Titanic…

Die Partei ist eine Partei, weil sie eine Partei ist (Die Partei)

So lustig es die Titanic-Crew formuliert, so sehr trifft sie den Nagel auf den Kopf. Parteien sind keine neutralen Gefässe, die sich nach Belieben mit linken Inhalten füllen lassen. Sie sind Apparate zur Integration der „politischen Willensbildung“ in den Staat. Dafür, dass man sie nicht zweckentfremdet, sorgen in Deutschland das Parteiengesetz, die „FDGO“ und im Zweifel Staatsanwaltschaft und Polizei; vor allem aber der Integrationsdruck des parlamentarisch-repräsentativen Systems. Will eine Partei Veränderungen im Staat festschreiben, so bleibt ihr nur der Weg parlamentarische Mehrheiten zu organisieren und letztlich „Regierungsverantwortung“ zu übernehmen. Beliebtes Gegenargument wäre, dass durch eine starke parlamentarische Opposition Regierungshandeln beeinflusst werden kann.

Was das bedeutet, zeigt eindrücklich der Weg der Grünen, die aus der ausserparlamentarischen Bewegung kommend binnen kurzer Zeit zur staatstragenden Partei der Mitte mutierten. Der Glaube, dass durch die Beteiligung an Parteipolitik der Staat verändert werden könne, verweist auf ein falsches Verständnis vom Staat: „Die rein formale Vorstellung eines klassenneutralen Verfassungsstaats, der sich je nach Kräfteverhältnis der Klassen untereinander und nach dem parteipolitischen-parlamentarischen Machtverhältnis alternativ gebrauchen lässt“ (Agnoli, Staat des Kapitals). Diese Vorstellung hat die kritische Staatstheorie zurecht kritisiert und gezeigt: Wer erfolgreich den Staat gestalten will, findet seine Grenzen nicht nur im bürgerlichen Recht, sondern ist zudem direkt und indirekt auf den Erfolg des Kapitalstandorts angewiesen. Direkt, weil ohne gelingende Kapitalakkumulation Steuereinnahmen und damit Gestaltungsspielräume fehlen. Indirekt, weil eine ökonomische Rezession zu Lohnverzicht, Erwerbslosigkeit und Armut führt und spätestens bei der nächsten Wahl die Quittung dafür folgt. Der Staat ist im Kapitalismus als „ideeller Gesamtkapitalist“ zwangsläufig Klassenstaat, oder wie Agnoli es ausdrückt „Staat des Kapitals“.

Politik im globalen Kampf der Standorte

Erschwerend hinzu kommt, dass sozialpartnerschaftliche Klassenkompromisse, wie sie in der fordistischen Nachkriegsperiode in der BRD üblich waren, unter den Bedingungen der finanzgetriebenen globalen Standortkonkurrenz kaum mehr möglich sind. Dass der Klassenkompromiss in allen kapitalistischen Zentren ab den 1970er Jahren nach und nach aufgekündigt wurde – im Rest der Welt gab es ihn sowieso noch nie – sollte sich mittlerweile rumgesprochen haben. Staatliche Verteilungsspielräume, wie sie in Zeiten steigender Profite in der industriellen Produktion bestanden, existieren in der globalen Weltmarktkonkurrenz kaum mehr. Mit der Finanzialisierung der Ökonomie hat sich die Akkumulationsweise des Kapitals verändert und auch die Regulationsmechanismen, mit denen der Staat seine Funktion als Gesamtkapitalist ausübt. Getrieben von der globalisierten Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte setzen Staaten Massnahmen zur Gewinnmaximierung zunehmend autoritärer und zum Nachteil grosser Teile der Bevölkerung durch. An die Stelle sozialstaatlicher Befriedung (welfare) ist die sozialstaatliche Kontrolle (workfare) und eine repressive Aufstandsbekämpfung getreten. Lange nicht waren die Spielräume für regierende Parteien so klein wie heute.

Die Partei als Dienstleister der Bewegung?

Die Idee, eine Partei vor den Karren der Emanzipation zu spannen, ist alt. Die Voraussetzungen dafür sind heute aber so schlecht wie nie. Einen strategischen Nutzen aus Parteikonstellationen zu ziehen, müsste unseres Erachtens mindestens drei Bedingungen erfüllen: Erstens: Das Verhältnis zur Partei muss ein instrumentelles sein. Eine Integration in und Verschränkung mit einer Partei würde das unmöglich machen. Zweitens: Die radikale Linke muss über eine eigene Machtbasis verfügen, die es ihr erlaubt, die Partei unter Druck zu setzen. Drittens: Es bedarf einer geeigneten Partei und einer geeigneten historischen Konstellation.

SYRIZA: Die neue Hoffnung?

Wenn sich irgendwo in Europa derzeit die Frage überhaupt stellt, wie sich die radikale Linke zu einer linken Partei verhalten soll, dann in Griechenland. Nicht nur besteht die reale Möglichkeit, dass SYRIZA nach der nächsten Wahl die Regierung stellt. Dort existiert eine relativ starke, wenngleich heterogene, ausserparlamentarische Linke, die protesterfahren ist und seit geraumer Zeit mit selbstorganisierten Projekten experimentiert. Für eine linke Basisbewegung könnte in Griechenland mit einer SYRIZA-Regierung tatsächlich ein kurzes Zeitfenster für eine Offensive aufgehen.

Allerdings nur dann, wenn sie sich nicht auf SYRIZA und das Staatsgeschäft fixiert, sondern eigenständig die Besetzung von Häusern, die Schaffung sozialer Zentren, Betriebsübernahmen usw. vorantreibt. Wenn es der heterogenen griechischen Linken und den Basisbewegungen gelingen sollte die Anfangszeit einer Linksregierung zu nutzen, um verstärkt Kämpfe um Produktion und Reproduktion zu führen und sich neue Räume und Institutionen jenseits staatlicher Kontrolle und kapitalistischer Logik anzueignen, dann könnte sie gestärkt aus der wahrscheinlich kurzen Regierungszeit SYRIZAs hervorgehen. Dieses Szenario setzt natürlich voraus, dass SYRIZA zumindest anfangs darauf verzichtet, hart gegen linke Basisinitiativen vorzugehen.

Wer hingegen die Hoffnung hegt, dass es SYRIZA in der Regierung gelingen könnte grundlegende Verbesserungen auf staatlicher Ebene festzuschreiben, der ignoriert die ökonomischen und politischen Kräfte, die auf eine linke Regierung in einer Situation wie der griechischen wirken. Sollte SYRIZA tatsächlich probieren eine „linke Staatspolitik“ zu betreiben, Schulden zu schneiden und Privatisierungen rückgängig zu machen, dann würde Griechenland durch Kapitalabzug und EU-Sanktionen sturmreif geschossen. Mittelfristig wäre es jeder griechischen Regierung unmöglich dem Druck von EU, IWF und Weltmarkt standzuhalten. Spätestens bei der nächsten Wahl müsste SYRIZA die Rechnung für die durch Kapitalabzug und EU-Sanktionen hervorgerufenen sozialen Verwerfungen bezahlen.

Mit der Linkspartei zur Sonne, zur Freiheit?

Ganz anders stellt sich die Situation in der BRD dar. Weder ist die Linkspartei vergleichbar mit ihrer griechischen Partnerin, noch ist die gesellschaftliche Situation oder die Stärke der Linken vergleichbar. Dennoch kann sich die Linkspartei seit ihrer Gründung in regelmässigen Abständen über Zulauf und Zuspruch aus der ausserparlamentarischen Linke freuen. Begründet wird dies in der Regel mit der Schwäche der eigenen Strukturen und der angeblichen Möglichkeit, in der Partei Diskurse und Handeln zu verschieben und konkrete Verbesserungen durchzusetzen. Doch sind die Voraussetzungen für solche Erfolge überhaupt gegeben? Schauen wir uns das anhand der drei Kriterien an:

Erstens: Die notwendige instrumentelle Distanz zur Partei fehlt den Verfechtern der Annäherung an die Parteipolitik offensichtlich. Das wird zum Beispiel am Vorschlag Eva Völpels deutlich, Linke sollten sowohl in der Partei als auch ausserhalb von ihr wirken. Sie suggeriert, dass dies gleichberechtigt nebeneinander möglich wäre, was nach aller Erfahrung stark bezweifelt werden muss. Es bleibt ihr Geheimnis, wie es möglich sein soll, antiparlamentarische und parlamentarische Praxis in einer Person zu vereinen.

Zweitens: Eine eigene Machtbasis der ausserparlamentarischen Linken – die es ihr erlaubte auf Augenhöhe mit der Linkspartei zu agieren – fehlt in Deutschland weitgehend. Blockupy oder ähnliche Strukturen sind nicht mit einer M15-Bewegung in Spanien zu vergleichen. Entsprechend war die ausserparlamentarische Linke in der Vergangenheit eher Dienstleister für die Linkspartei als umgekehrt. Spätestens hier wird klar, dass die Idee des Parteipolitikers, der zusätzlich ausserparlamentarischer Aktivist ist, völlig hanebüchen ist. Welche Seite den Kampf um die entstehenden Widersprüche einer solchen Praxis gewinnt, ist durch die Machtverhältnisse zwischen Partei und Bewegung von vorneherein entschieden.

Drittens: Schliesslich ist weder die gesellschaftliche Lage in Deutschland, noch die Linkspartei selbst geeignet für ein solches Vorgehen. Die Linkspartei ist keine „Partei neuen Typs“, mit der sich die sozialen Verhältnisse zum Tanzen bringen lassen. Sie wird von zwei Fraktionen dominiert: Sozialdemokrat*innen, die sich bis zur Agenda 2010 in der SPD pudelwohl gefühlt haben und denen die Bewahrung der Ordnung schon immer wichtiger war als sozialer Fortschritt sowie reformorientierten Karrierist*innen in Ostdeutschland. Beide sind nicht gerade dafür bekannt, Staat und Kapital auf den Müllhaufen der Geschichte werfen zu wollen.

Nicht nur das Fehlen grundsätzlicher Voraussetzungen legt nahe, dass eine parteipolitische Strategie in Deutschland nicht zur Stärkung der radikalen Linken führen wird. Die Geschichte der Linkspartei ist selbst eng mit dem Scheitern der ausserparlamentarischen Bewegung verbunden: Nachdem die SPD mit der Verkündung der Agenda 2010 offen zur neoliberalen Standortpolitik übergegangen war und die DGB-Gewerkschaften sich weigerten, dagegen in Opposition zu gehen – übrigens ein schönes Beispiel für die Folgen einer Verschränkung von Partei und Bewegung – kam es zum Bruch zwischen Teilen der unteren Funktionär*innen in den Gewerkschaften und der SPD. Diesen fiel jedoch nichts anderes ein, als zusammen mit einigen Sozialdemokrat*innen aus dem Lafontaine-Flügel der SPD eine neue sozialdemokratische Partei zu gründen, die Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), die in einem längeren Prozess bis 2007 mit der PDS zur Linkspartei fusionierte. Nachdem die Demonstrationen abebbten, war die WASG/PDS das einzig verbliebene organisatorische Angebot und spätestens damit das Ende des ausserparlamentarischen Widerstands gegen Hartz IV besiegelt. In der Rückschau hätte wohl kein anderer sozialer Konflikt seit der deutschen Einheit sich besser für die ausserparlamentarische Linke geeignet, um politisch in die Offensive zu kommen und eigene Strukturen aufzubauen. Doch stattdessen entschlossen sich schon während des Fusionsprozess von WASG und PDS einige radikale Linke dazu, sich am Aufbau der neuen Partei zu beteiligen.

Die Bilanz der Linkspartei

Vieles spricht unseres Erachtens dagegen, dass sich die Zusammenarbeit mit der Linkspartei für die radikale Linke gelohnt hat. Abgesehen von der strukturellen Schwächung der ausserparlamentarischen Linken, fällt auch die konkrete Politikbilanz der Linkspartei in den letzten zehn Jahren eher negativ aus: Wo die Linkspartei in der Regierung war – Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg – konnte sie keine nennenswerten Verbesserungen durchsetzen. Teilweise trug sie wie in Berlin sogar weitere soziale Kürzungsmassnahmen mit. Auch gegenüber ausserparlamentarischen Bewegungen verhielt sich die Linkspartei keineswegs immer solidarisch. In Mecklenburg-Vorpommern verschärfte sie vor dem G8-Gipfel 2007 das Polizeigesetz und ermöglichte damit eine noch weitreichendere Repression gegen die Protestierenden. Positiv auf ihrem Konto zu verbuchen sind ihre regelmässigen kleinen Anfragen in den Parlamenten und dass sie sich, im Gegensatz zu den DGB-Gewerkschaften, an Krisenprotesten beteiligt („Wir zahlen nicht für eure Krise“, „Blockupy“). Auch konnte sie sich in den Medien als weitere Stimme gegen Sozialabbau etablieren und die SPD damit von links unter Druck setzen.

Ihr grundlegendes Anliegen, die Rücknahme der Hartz IV-Gesetze, konnte die Linkspartei jedoch nicht einmal in Teilen durchsetzen. Nicht nur, dass in den auf Rot-Grün folgenden Regierungsperioden mit der Gesundheitsreform und der Schuldenbremse weitere soziale Verschärfungen durchgesetzt wurden. Im Bundestag wird derzeit ein Gesetzentwurf verhandelt, der weitere Verschärfungen für Bezieher*innen von Hartz IV vorsieht und der im ersten Quartal 2015 verabschiedet werden soll. Keine gute Bilanz also, wenn man als Massstab das Versprechen nimmt, das an die Erschliessung der Hauptquartiere der Macht als politische Strategie geknüpft wird: Die schnelle Durchsetzung konkreter Verbesserungen.

Dass es der Linkspartei nicht mal in Teilen gelungen ist neoliberale Politiken zurückzudrängen, ist kein Zufall, sondern Ausdruck der postfordistischen Verfasstheit von Staat und Kapital und der aktuellen Schwäche der Linken.

Was tun?

Wenn „realpolitische“ Erfolge auf parlamentarischer Ebene zunehmend unrealistischer und sozialstaatliche Verteilungsspielräume kleiner werden. Wenn die Krise ab 2008 und die Krisenpolitiken von EU und nationalen Regierungen soziale Konflikte verschärfen und nicht nur linke, sondern auch rechte Bewegungen wie die AfD, Chrysi Avgi oder IS befeuern, dann stellt sich für die Linke eine alte Frage neu: Was tun?

Wir schlagen eine drei-Ebenen-Strategie vor. Erstens: Antikapitalistische Agitation und das prozesshafte Herausarbeiten einer linken gesellschaftlichen Vision. Zweitens: Selbstorganisation und kollektive Organisierung, nicht als Nischenpolitik sondern als Breschen gegen den kapitalistischen Alltag. Drittens: Eine offensive Auseinandersetzung mit rechten Krisenakteuren und ihren gesellschaftlichen Ursachen.

Eine Vision: Kommunismus 2.0?

Dies ist die Ebene der Debatte um eine befreite Gesellschaft und der antikapitalistischen Mobilisierung. „Sozialismus oder Barbarei“ war eine der historischen Losungen der Linken und der Arbeiterklasse. Mit ihr machte Rosa Luxemburg den Scheideweg deutlich, an dem die Menschheit stand. Kapitalistisches Hauen und Stechen auf alle Zeit, oder eine sozialistische Gesellschaft, in der der Mensch Zweck, nicht Mittel, ist. Begriffe wie Weltrevolution, sozialistische Weltrepublik oder Kommunismus versprachen ein besseres Leben. Arbeiterselbstverwaltung stand für ein Ende von Lohnsystem, Erniedrigung, Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung. Diese Begriffe waren sowohl mit Hoffnungen verbunden, als auch mit alltäglichen Kampf-, Solidaritäts- und Organisationserfahrungen. Dadurch wurden sie greifbar und mit Inhalt gefüllt.

Die Erfahrungen des Staatssozialismus haben linke Utopie und ihren Begriffsapparat gewaltig in die Bredouille gebracht. Davon sind antiautoritäre Linke, die dem Staatssozialismus schon immer kritisch gegenüber standen nicht minder betroffen. Eine künftige linke Vision wird auf diese historischen Begriffe nicht zurückgreifen können.

Dennoch kommt eine emanzipatorische Bewegung ohne utopischen Überschuss nicht aus. Es braucht kollektive Zielvorstellungen und ein Wissen um mögliche Alternativen gesellschaftlicher Organisierung, um Bewegungen Kraft zu geben. Eckpunkte sind für uns soziale Selbstorganisation, Strukturen der Arbeiterselbstverwaltung, die nicht nur über das Ziel gesellschaftlicher Produktion entscheiden, sondern auch darüber, wie produziert wird sowie die Schaffung von basisdemokratischen Institutionen. Hierüber ist zu diskutieren, breit und jenseits von Szenegrenzen. Zu fragen ist, was hinter linken Phrasen wie Communismus, Commons, Anarchie … steht, stehen könnte und stehen soll. Wenn eine andere Welt möglich ist, wie soll sie aussehen?

Ebenso notwendig ist es, das Bestehende diskursiv und praktisch gnadenlos unter Beschuss zu nehmen. Dafür stehen die Chancen recht gut. Antikapitalistische Agitation findet in den Krisenprozessen leicht konkrete Beispiele. Und der Kapitalismus ist längst nicht mehr in der Lage, ein glaubhaftes Glücksversprechen zu formulieren. Oder wer glaubt heute noch, dass es seinen Kindern mal besser geht? Hier bietet es sich an, den Finger in die Wunde zu legen.

Wenn eine Vision von Links, die anfangs natürlich viele Leerstellen haben wird, als Richtschnur dienen soll, darf sie keine Seifenblase sein. Es braucht konkrete Handlungsoptionen, die kurzfristig umsetzbar sind und in deren Umsetzung sich Stärke, Organisierungserfahrung und Bewusstsein entwickeln. Wie kann das praktisch aussehen?

Selbstorganisation: Breschen statt Nischen

Dies ist die Ebene von Basisorganisierung und Alltagskämpfen, auf der eine Utopie von links Schritt für Schritt mit Leben gefüllt, greifbar gemacht und vorangetrieben wird.

Wenn wir von Breschen statt Nischen sprechen, sprechen wir davon Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, über den kapitalistischen Überlebenskampf hinaus an dessen Überwindung zu arbeiten. Strukturen, die die soziale Reproduktion solidarisch organisieren, statt die Einzelnen damit alleine zu lassen. Strukturen, die kollektiven Widerstand ermöglichen und Schutz gegen staatliche Repression bieten. Wer den Staat überwinden will, kommt nicht umhin, eigene Institutionen zu schaffen, die nicht von ihm abhängig sind und sich kapitalistischer Logik so gut es geht widersetzen.

Uns geht es darum, durch Selbstorganisation im Alltag handlungsmächtig zu werden und Kämpfe zu organisieren. Viele verschiedene Formen solcher Breschen sind denkbar: Kollektive Betriebe, soziale Zentren, Stadtteilversammlungen und -zentren, Aneignung öffentlicher Räume und Solidaritätsnetzwerke zur sozialen Gegenwehr sind einige Schlagwörter.

Alltägliche Selbstorganisierung über Szenegrenzen hinweg ist so wichtig, weil von der abstrakten Vision einer neuen Gesellschaft alleine niemand leben kann und weil es konkrete Erfolge braucht, um zu einer wirkmächtigen Bewegung heranzuwachsen. Die Zapatisten z.B. haben erst das soziale Leben umorganisiert, indem sie basisdemokratische Verwaltungsstrukturen, Bildungseinrichtungen, Kooperativen geschaffen haben, bevor sie die Auseinandersetzung mit dem mexikanischen Staat suchten. (5)

Die Idee ist: Wenn wir Räume, Betriebe, Plätze kollektivieren können, tun wir es. Was wir jenseits kapitalistischer Logik organisieren können, organisieren wir. In der Argentinienkrise gab es zahlreiche Beispiele erfolgreicher Betriebsübernahmen und auch in Griechenland und Spanien finden sich bereits viele Beispiele erfolgreicher Selbstorganisation. Davon scheint Deutschland momentan weit entfernt. Aber auch hier ist die Stabilität, wie 2008 ff deutlich wurde, auf Sand gebaut. Also auf den Crash warten? Nein, wir denken, es bieten sich bereits jetzt zahlreiche Notwendigkeiten und Gelegenheiten, den Angriffen auf unsere Lebensbedingungen durch kollektive Organisierung zu begegnen. Kollektive Kneipen und Betriebe bieten hier ebenso erste Ansatzpunkte wie die Aneignung von Wohnraum oder die Selbstorganisation in Betrieben und in Auseinandersetzungen mit Ämtern. Aus gewerkschaftlichen Organizing-Prozessen lässt sich lernen, dass sich die Erfolgschancen erhöhen, wenn nicht zuerst das spektakulärste Thema angegangen wird, sondern das, das die höchsten Chancen bietet, ein Erfolg zu werden. Der erste Sieg schafft Selbstbewusstsein, bringt mehr Mitstreiter und ist ein gutes Beispiel für den nächsten Schritt.

Sollen diese Prozesse nicht zufällig bleiben, braucht es mittelfristig Institutionen, in denen sie miteinander vermittelt werden und entschieden werden kann, was angegangen wird. Institutionen, in denen die verschiedenen Projekte ihr organisatorisches Dach finden. Zum Beispiel Nachbarschafts- und Stadtteilversammlungen, in denen diskutiert wird, was umgesetzt werden soll. Räume ohne Konsumzwang, eine Alternative zu den entwürdigenden Tafeln, eine Initiative gegen Ämterschikane, Aktionen gegen hohe Mieten… Oder ein Dach der sozialen Stadtteilzentren, in dem darüber entschieden wird, in welchen Stadtteil das nächste Zentrum aufgebaut wird. In diesen kollektiven Strukturen bilden sich eigene Zielvorstellungen der Entwicklung der Nachbarschaft, des Viertels oder der Stadt heraus.

Die Erfahrungen, die sich in diesen Prozessen bilden, können erstens Grundlage für Erfolge in den anstehenden Krisenkämpfen sein.

Zweitens, füllen selbstorganisierte basisdemokratische Strukturen eine Utopie von links mit Leben.

Das klingt müssig? Die Alternative dazu wäre, die nächsten 30 Jahre Antifa-Politik zu betreiben und einmal im Jahr in Frankfurt die EZB zu blockieren oder zum 1. Mai die Weltrevolution auszurufen. Ohne Basisorganisierung und konkrete Schritte wird beides erfolglos bleiben.

Reaktionäre Bewegungen: Falsche Alternativen angreifen

Der kapitalistische Krisenprozess wirkt für Verelendungs- und Marginalisierungsprozesse wie ein Katalysator. Die offensichtliche Ignoranz der ökonomisch und politisch Herrschenden demgegenüber erzeugt Wut bei den Betroffenen und Angst bei denen, die bisher noch davon verschont sind. Nach 2008 hat der Krisenprozess von Indien bis Nordafrika erste Hungerrevolten und Aufstände hervorgebracht, die in der Arabellion auch einen politischen Charakter angenommen haben. Dass Bewegungen, die aus der Wut und Angst über die Verhältnisse entspringen, einen fortschrittlichen Charakter annehmen und dass sie ihn behalten, ist keineswegs vorherbestimmt. Das haben auch die Aufstände im arabischen Raum deutlich gezeigt. Rebellionen und soziale Kämpfe von Links sind eine Folge der Krise, reaktionäre Bewegungen die andere.

Hierzu zählen wir Faschisten wie Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) in Griechenland, Rechtspopulisten, wie aktuell HoGeSa, PEGIDA und die AfD, aber auch Islamisten, wie die Anhänger des Islamischen Staates. Dabei handelt es sich zwar auf den ersten Blick um höchst unterschiedliche Bewegungen, dennoch verbindet sie mehr, als sie trennt. Gemeinsam ist ihnen der Ansatz, soziale Widersprüche autoritär zu unterdrücken. In ihren Gesellschaftsmodellen hat jeder Einzelne die Rolle zu erfüllen, die das religiöse, nationalistische, rassistische oder sexistische Weltbild vorsieht. Sie alle beziehen ihre aktuelle Stärke aus der krisenbedingten kapitalistischen Desintegration und der Fähigkeit, einfache Antworten darauf zu geben, die an Erfahrungswelten und Alltagsverstand anknüpfen.

Schauen wir uns die Angebote der rechten Krisenakteure genauer an: Das Angebot der Nazis von Chrysi Avgi ist klar: Wir schmeissen die Ausländer raus und die korrupte politische Klasse gleich mit und sorgen dafür, dass im Inneren alles seine Ordnung hat. Dann wird's für die Griechen schon reichen. Die AFD in Deutschland setzt an den Abstiegsängsten der Mittelschicht und der Besserverdienenden an und verspricht ihnen auf dem Arbeitsmarkt einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Migrant*innen durch Ausgrenzung. Denen, die schon „abgestiegen“ sind, verspricht sie bessere Aufstiegschancen, wenn „faule Südländer“, „böse EU-Bürokraten“ und „kriminelle Einwanderer“ der Nation nicht mehr auf der Tasche liegen. Islamischer Staat und Konsorten knüpfen an den Ausschluss- und Marginalisierungserfahrung an, die zurzeit global massenhaft gemacht werden. Sie setzen dem kapitalistischen Chaos und individueller Unsicherheit die vermeintliche Ordnung der Scharia und der Weltgemeinschaft der Gläubigen entgegen. Wer dieser Ideologie folgt, sieht sich in einer win-win-Situation: Sieg und Leben im Kalifat, in dem er als Gläubiger anerkannt wird und den Rest unterdrücken darf, oder Tod im Dschihad als schnelles Ticket zum Glück.

Mit der Politik, soziale Widersprüche autoritär zu unterdrücken oder sie rassistisch, religiös, kulturell oder sozialchauvinistisch zu ideologisieren, sind die rechten Bewegungen in der bürgerlichen Gesellschaft keine Aussenseiter, sondern mitten drin. Institutioneller Rassismus, Hartz IV oder die aktuelle Politik gegen refugees sind Schlagworte, die verdeutlichen, dass die bürgerliche Gesellschaft kaum Haltelinien gegen reaktionäre Entwicklungen bietet.

Rechte Krisenakteure und -ideologien konfrontativ anzugehen, ist bitter nötig. Entscheidend ist aber das Wie. Die Antifa-Strategie des Aufklärens, Skandalisierens und Isolierens funktioniert nicht mehr. Nicht nur, weil die wenigsten unter das Klischee „gewaltbereiter Hitlerfan“ fallen. Zum Isolieren sind es auch einfach zu viele, denn rechte Denkweisen sind bis weit in die Mitte der Gesellschaft fest verankert. Auch klassische Bündnispolitik stösst bei PEGIDA und co. hier an ihre Grenzen. Wie soll glaubhaft mit den Grünen und der SPD im breiten Bündnis gegen Rassismus agiert werden, wenn diese gerade Gesetze zur Abschiebung von Sinti und Roma nach Ex-Jugoslawien durchgewunken haben? Wer den rechten das Wasser abgraben will, muss die nationalistischen, sozialchauvinistischen, rassistischen und sexistischen Ideen angreifen, auf denen ihre Gesellschaftsentwürfe fussen und ihnen eigene Ideen, wie es besser sein könnte, entgegen stellen.

Wollen wir rechten Krisenakteuren dauerhaft Räume und Einfluss streitig machen, müssen wir vor allem vor ihnen da sein, bzw. wenn sie auftreten in der Lage sein, ein Angebot von links zu machen. Damit landen wir wieder bei Punkt eins und zwei: Was wir brauchen, ist eine neue linke Vision einer besseren Gesellschaft und den Aufbau selbstorganisierter Basisinitiativen, die diese im Alltag mit Leben füllen und vorantreiben. Alles andere wäre ein Rückzugsgefecht auf verlorenem Posten.

John Mallory & Juan Miranda / lcm

Fussnoten:

(1) In seinem Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ (2002) versuchte John Holloway dem zapatistischen Projekt eine theoretische Fundierung zu geben.

(2) Das Für und Wider des venezolanischen Wegs gegenüber dem zapatistischen wurde in der europäischen Linken breit diskutiert. Nachzulesen etwa in Raul Zeliks Buch „made in venezuela: notizen zur »bolivarianischen revolution« (2004).

(3) Abdullah Öcalan, 2010: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt.

(4) So Joachim Hirsch in seinem Aufsatz „Anmerkungen zur linken Leidenschaft für den Staat“ (2013).

(5) Dass die Linke darauf kein Patent hat, zeigen die Beispiele der Muslimbrüder in Ägypten und der Hamas in Gaza.