Gedanken zum Zitat von Wilhelm Weitling Das richtige Schuhwerk für die Krisen auf der langen Wanderung

Politik

Wilhelm Weitlings Gedanken nötigen mir einen gewissen Respekt ab, weil er sich getraut hat, über die bestehende Ordnung hinaus zu denken und davon auszugehen, wie die Gesellschaft in einem libertär-sozialistischen Sinne eingerichtet werden müsste.

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Porträtfoto von Wilhelm Weitling. Foto: Unknown author (PD)

23. April 2020
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„Wenn ein kleines Kind einen Gegenstand verlangt, den man ihm nicht geben will, so macht man es auf irgend einen anderen Gegenstand aufmerksam, um es von seiner Forderung abzulenken. Ebenso machen es unsere Bedrücker mit dem Volke in den Tagen der Krisis. Nach den dreissiger Jahren bediente man sich dazu der Kriegsgerüchte und der Furcht vor der Cholera. Diese letztere wurde besonders unter der Leitung der Regierungen ein kräftiges Mittel, alle revolutionären Tendenzen einzuschüchtern.

Erinnert ihr euch noch alle der Quarantäne-Anstalten vor beinahe jeder grossen Stadt, der Absperrungen von Dörfern, Städten, Provinzen und Ländern, des Verbots des Reisens, der Räucherungen des Geldes und der Briefe usw. Was mich anbetrifft, so kann ich diese Krankheit nicht leugnen, muss aber gestehen, dass ich damals nie an ihre wirkliche, fürchterliche Existenz geglaubt habe. Ich dachte mir eben, das ist eine Epidemie wie jede andere, die man aber absichtlich so grell herausmalt, um sie dadurch zum Schreckbild gegen die revolutionären Bewegungen zu gebrauchen.

O, sie sind klug wie die Schlangen und wir sind einfältig wie die Tauben; man hätte damals mit unsern Schädeln Mauern einrennen können, so hätten wir doch nichts gemerkt.“


aus: Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit [1838/39], herausgegeben von Franz Mehring, Berlin 1908: Vorwärts-Verlag, S. 251. / bzw. Stuttgart 1974: Reclam, S. 272.

Wie beginnen, mit einem Text, der sich mit einem historischen Zitat beschäftigt, dessen Aussage doch im Wesentlichen ganz für sich spricht, weswegen eigentlich nichts Entscheidendes zu ergänzen bleibt? Sollte ich eine Anspielung machen, die theatralisch aufgeladen daherkommt und mit der Phrase beginnt, das sich „alle welthistorischen Tatsachen … dreimal ereignen; ergänzend dazu: einmal als Tragödie (Cholera), dann als Farce (Spanische Grippe), schliesslich als … ja als was eigentlich?“. Doch nein, das wäre billig, nicht zielführend und nur zwei Arten von Linken wären damit zu beeindrucken: Erstens diejenigen, die erst seit kurzer Zeit mit Eifer dabei sind und nach Zitaten suchen, die ihre Dogmen bestätigen sollen, an welche sie sich auf ihrer Identitätssuche klammern.

Was sich manche Leute an linker Geschichte, Grundverständnissen, Sprachkenntnissen und Verhaltensweisen draufschaffen können innerhalb von einzweidrei Jahre, ist schon erstaunlich. Nicht immer allerdings kommen sie über dieses Niveau hinaus oder bleiben wenigstens dabei, indem sie feststellen, dass der radical chic der Szene auch was mit ihrem Leben zu tun hat. Und mit dessen Veränderung. Zur zweiten Gruppen gehören diejenigen, die schon lange dabei sind und daher nach Bestätigungen suchen, mit welchen sie ihren gelebten Idealen auch rückwirkend Sinn zu verleihen im Stande sind. Immerhin haben's die meisten Linken ja nicht mit einer wertschätzenden Haltung in Hinblick auf jahrelangen, kontinuierlichen Graswurzelaktivismus, weswegen jenen, denen die Flucht in bürgerliche Leben nicht gelang oder der Aufbau eines solchen verwehrt wurde, wohl nicht viel mehr bleibt, als die dogmatische Verkitschung des Althergebrachten.

Beide Bedürfnisse verstehe ich. Mit beiden habe ich derzeit wenig zu schaffen, worum ich froh bin, weil ich mir stattdessen eine radikale Haltung leisten kann. Doch die Haltung ist das eine und ja selbst wiederum Teil eines romantisierten Verständnisses von Rebellion. Zu dieser beizutragen und ihr eine emanzipatorische Ausrichtung zu geben, ist hingegen leider doch etwas ganz anderes. Dabei möchte ich doch das Kämpfen auch mal sein lassen, auch mal aufhören mit dem Gerangel und Geraune und Begeistern und Zersetzen. Momente gibt es, da möchte ich mich nicht mehr bewegen und andere nicht mehr bewegen wollen müssen. Weil ich es Leid bin. Und weil ich nur dieses eine Leben habe, was ich so schwer geniessen kann, wenn andere leiden auf dieser Welt. Daher kann ich nur schreiben: Nein, diese Gedanken sind nichts für Frischmissionierte und nichts für Hängengebliebene. Auf der Suche nach der Wahrheit will ich bleiben. Wenn ich ihr ein Stück näher kommen würde, würde ich sagen können, dass sich die Mühen und ungewollten Entbehrungen gelohnt haben.

Wie schlage ich jetzt die Brücke zu Weitling, abgesehen davon, dass er wohl auch so ein Wahrheitssucher war? Sollte ich sein Christentum rauslassen, um schon mal den Gegenstand einzugrenzen? Aber das wäre nicht lauter. Da wäre ja schon ein Drittel oder die Hälfte weg vom Weitling. Vielleicht will ich nur rüber bringen, dass ich ein Faible habe für die Wenigen, die das Herz am richtigen Fleck haben – wie man sagt – und ihrer Sache ganz ergeben sind. Ich meine jene, welche die Wahrheit sagen – und nicht irgend so einen Querfront-mässigen, pseudo-radikalen Schwachsinn, mit seiner verkürzten Kapitalismuskritik und seinem tendenziellen Antisemitismus. Mit solchen „Wahrheiten“ und alternativen Fakten möchte ich nichts zu tun haben.

Nun gut, fairerweise muss ich zugeben, dass Weitling in Hinblick auf sein Verständnis vom Kapitalismus möglicherweise auch hätte weiterkommen können. Seine Vorstellungen von rechtschaffener Arbeit, vom Zins und Geld, in welchen sich die wesentlichen gesellschaftlichen Probleme verkörperten oder überhaupt das ganze technokratische Verwaltungssystem mit seinen abzurechnenden und abzustempelnden „Kommerzstunden“, seinen „Meisterkomapagnien“ und „Schularmeen“, die er in Garantien der Harmonie und Freiheit beschreibt – das will doch heute alles keiner mehr haben.

Und dennoch nötigen mir Weitlings Gedanken einen gewissen Respekt ab, weil er sich immerhin getraut hat, über die bestehende Ordnung hinaus zu denken und davon auszugehen, wie die Gesellschaft in einem libertär-sozialistischen Sinne eingerichtet werden müsste. Und dies ist es, wovon emanzipatorische Kräfte heute so meilenweit entfernt sind. Deswegen wiederholt sich die Geschichte auch nicht, egal, auf welche Weise. Nein, sie verändert sich kontinuierlich und hier und da auch abrupt. Abgesehen davon gibt es viele Geschichten und diese bilden keine Einheit. Gleichwohl können wir sie zusammenführen und unseren Verstand benutzen. Der sagt uns: Die bestehende Ordnung ist unhaltbar, ja wirklich, sie bröckelt und reisst. Und was da schon aufscheint, das sind zum einen – ja – der Faschismus in seiner widerlichen Fratze und andererseits der libertäre Sozialismus, der als Gesellschaftsform kaum je Gelegenheit hatte, sich durchzusetzen – ohne deswegen zu leugnen, dass er phasenweise und in bestimmten Kontexten durchaus Macht entfalten konnte.

Was das Zitat von Weitling angehen, möchte ich ihn sofort in Schutz nehmen. Als Entwurzeltem waren ihm seine Grosseltern in der Risikogruppe wohl relativ egal. Oh Moment. Das ist wohl keine richtige Entschuldigung, eher noch eine Bestätigung für seine ignorante, unsolidarische und relativierende Einstellung – wenn man aus der heutigen Perspektive Worte sucht, um ihn zu beschreiben. Als energetischer Dreissigjähiger kann er ja locker mal sagen, dass er vor Jahren die Cholera für eine Epidemie wie jede andere gehalten hatte. Die Virologen seiner Zeit hätten ihm anderes gesagt. Da sollten wohl auch die revolutionären Unruhen mal ruhen für eine Weile, bis sich die Seuche gelegt hat, auf unbestimmte Zeit also. Dabei sind die Rebellischen ja in der Regel durchaus keine dummen Arschlöcher, sondern zeigen sich auf kluge Weise solidarisch. Ja selbstverständlich! Plündern geht auch mit Mundschutz.

Aber genug der blöden Sprüche. Was am Zitat aus Weitlings Hauptwerk irritiert und erschrickt, ist die augenfällige Aktualität seiner Worte. Immerhin scheinen sie auf die heutige Situation zu passen, wie „Infektion“ zu „Quarantäne“ oder wie „Krise“ zu „Wirtschaftsrettungspaket“. Einen entscheidenden Unterschied gibt es da freilich: Aktuell gibt es kaum sozial-revolutionäre Bewegungen, auf jeden Fall nicht im saturierten deutschsprachigen Raum. Damit will ich keineswegs bloss meckern, wie es in linken Zeitungen Land auf und Land ab geschieht, in denen wir kontinuierlich lesen: „Die Linke tut dies nicht, die Linke tut das nicht, die Linke hat wieder mal verpasst irgendwas zu tun, versagt hat sie ja sowieso“ und dergleichen. Manchmal erscheint es mir, auf eine Person, die sich in radikaler Politik betätigt, kommen drei, die darüber berichten und zwanzig, die ihr Handeln altklug bewerten.

Sozial-revolutionär zu werden bedeutet dagegen, sich in Basisgruppen zusammen zu finden, die auf einer Vertrauensgrundlage beruhen und sich danach ausrichten, kontinuierliche und wirksame Aktivitäten hervor zu bringen. Ferner bedeutet es, sich als antagonistisch zu verstehen, Aktion, Reflexion und Kommunikation in ein gutes Verhältnis zu bringen, sich über die eigenen Grundsätze und Zielsetzungen zu verständigen und die Zusammenarbeit mit anderen zu suchen, wann immer es sinnvoll erscheint. In gewisser Weise meine ich, sich sozial-revolutionär zu organisieren verlangt auch den gelebten Glauben daran, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich - zumindest nach dem, was in unserer Macht steht -, mitgestalten und in unserem Sinne verändern lassen. Von einem „Glauben“ ist deswegen sinnvollerweise zu sprechen, weil sich die tief wurzelnden Überzeugung an die prinzipielle Gleichheit und soziale Freiheit aller Menschen sowie die Sehnsucht nach grundlegenden Veränderungen, letztendlich kaum rational begründen lassen.

In diesem Zusammenhang komme ich dann wieder auf Weitling zurück. Die Herangehensweise, die er verkörperte und formulierte, ist mir deswegen sympathisch, weil seine teils trotzig-jähzornige, teils gutgelaunt-verständnisvolle kämpferische Haltung Mut macht. Wenn wir von den revolutionären Bewegungen seinerzeit sprechen, handelt es sich dabei ja nicht um Millionen von Leuten, sondern ebenfalls um kleine Kreise von radikalen Sozialist*innen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sollte ich meine eigene Aussage wieder hinterfragen: Vielleicht gibt es sie ja doch Hier und Jetzt, die Sozial-Revolutionär*innen?

Vielleicht gibt es sie sowohl in der Breite als auch in die Tiefe. Im ersten Fall, in dem ich beispielsweise annehme, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung, die Frauen*streik-Bewegung oder Mietrechtsbewegung durchaus eine Macht darstellen und an den richtigen Stellen ansetzen. Im zweiten, wenn ich unterstelle, dass zumindest einige radikale Gruppen sich nicht vorrangig um die Behauptung ihrer dogmatischen Standpunkte kreisen. Dass sie nicht allein einem kopflosen Aktionismus oder der handlosen Theoriearbeit frönen, zu Sekten oder Partycrews degenerieren oder trotz radikaler Phrasen nicht über ihren bornierten Tellerrand hinaus schauen, sondern sich ganz realistisch mit den Fragen konfrontieren: Wer sind wir? Was wollen wir? Was können wir tun?

Marx bezeichnete das theoretische Werk von Weitling in einem Artikel von 1844 als „riesenhafte Kinderschuhe des Proletariats“ im Vergleich zur Zwergenhaftigkeit der politischen Theorien des deutschen Bürgertums. In zu grossen und zu kleinen Schuhe läuft es sich schlecht, das stimmt. Die müssen schon an die jeweiligen Füsse angepasst sein.

Radikale Linke in der BRD in unserer schnelllebigen, erlebnisorientierten Selbstverwirklichungsgesellschaft heute, rennen mit ihren zu engen New Balance, Nike und Adidas scheinbar lieber fortwährend gegen Windmühlen an, statt sich auf eine lange Wandertour durch unwegsames Gelände einzurichten. Im Laufe der Jahre werden auf diese Weise durch die Abnutzung vielen die Schuhe kleiner bzw. ziehen sie sich eben schnell an, was so herumsteht. Ich tendiere da mittlerweile eher zu grösseren Nummern. Aber kann natürlich sein, dass ich mich darin entweder gar nicht mehr viel bewege oder wie ein utopistischer Clown erscheine...

Wie auch immer, wir können viele verschiedene Wege einschlagen und gerade deswegen ist es wichtig, die Ein-Themen-Politik aufs Ganze hin zu erweitern. Es fehlt die Vision der konkreten Utopie einer libertär-sozialistischen Gesellschaft, wie auch ein adäquates Verständnis von sozialer Revolution unter den vorgefundenen historischen Bedingungen. Vor allem mangelt es jedoch an Organisationen, die Ziele und Wege ermitteln, in dem sie aufbrechen und sich auf die Suche danach begeben.

Neue Einsichten lassen sich dabei gewiss nicht in Parteibüros, selbstbezüglicher Szene-Politik, populistischer Flachheit oder dogmatischen Gedankengebäuden gewinnen. Sie ergeben sich aus Auseinandersetzungen, die von den Standpunkten der Veränderungswilligen und -bedürftigen aus geführt werden. Wären diese heute weiter entwickelt, würde es uns leichter fallen, die Corona-Pandemie ernst zu nehmen und zu verstehen, wie sie durch die Regierung genutzt wird, neue Herrschaftstechnologien einzuführen, jeder sozial-revolutionären Tendenz in emanzipatorischen sozialen Bewegungen vorzubeugen, die bestehende Herrschaftsordnung zu re-institutionalisieren, die Bevölkerung verstärkt materiell und emotional an sie zu binden und sich schlussendlich noch als Weltmeister im Humanismus darzustellen.

Jonathan