Warenfetischismus und Gebrauchswert Nützlichkeit verdummt!

Politik

Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert“ (Marx, 1890, S. 50) schreibt Marx gleich zu Beginn des Kapitals, bevor er den Gebrauchs- mit dem Tauschwert kontrastiert und damit scheint auf den ersten Blick alles geklärt.

Hinsichtlich des Gebrauchswerts stellt sich eine ähnliche Frage wie Judith Butler (hier an der Universität Hamburg, April 2007) sie vor über 25 Jahren mit Blick auf den Begriff „die Frauen“ formuliert hat.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Hinsichtlich des Gebrauchswerts stellt sich eine ähnliche Frage wie Judith Butler (hier an der Universität Hamburg, April 2007) sie vor über 25 Jahren mit Blick auf den Begriff „die Frauen“ formuliert hat. Foto: Jreberleinat English Wikipedia (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

10. August 2017
1
1
8 min.
Drucken
Korrektur
Im Gebrauchswert liegt der „stoffliche Reichtum“ verborgen, verkörpert in konkreten Gegenständen, die durch konkrete Arbeit hergestellt werden. Der Tauschwert ist demgegenüber eine Abstraktion, in der sich abstrakter Reichtum als Resultat abstrakter menschlicher Arbeit ausdrückt. Konkretion und Abstraktion, reales Leben und Entfremdung stehen einander in Gebrauchs- und Tauschwert gegenüber, eine Opposition, die angesichts der für den Kapitalismus kennzeichnenden Dominanz des Tauschwerts zur Entfremdung tendiert und den Menschen von seinen Bedürfnissen trennt, die er mehr im schnöden Mammon des Geldes erblickt als im Genuss der Früchte seiner Arbeit erkennt. Die Aufgabe der Emanzipation ist damit klar vorgezeichnet: Weg mit dem Tauschwert und her mit den Gebrauchswerten, damit endlich die Zeit anbricht, in der es möglich ist, „heute dies und morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren“ (Marx & Engels, 1932, S. 33).

Die Gleichgültigkeit des Rocks

Was so einfach anmutet, erweist sich nach kurzem Weiterlesen jedoch als äusserst kompliziert. Zwischen den beiden Wertarten herrscht keine Komplementarität – was das Problem zumal nicht beseitigen, allenfalls erträglicher gestalten würde. Der Gebrauchswert ist für Marx „stofflicher Träger“ (Marx, 1890, S. 50) des Tauschwerts, wodurch ihm die Funktion zukommt, den Wert der in der Ware gespeicherten abstrakten Arbeitskraft zu realisieren, indem selbige sich in für potenzielle Käufer nützlichen Gegenständen verkörpert. Der Tauschwert hat zum Gebrauchswert ein ausschliesslich instrumentelles Verhältnis und es wäre widersinnig anzunehmen, letzterer könnte angesichts dessen die Reinheit bewahren, die ihm so häufig zugesprochen wird.

Marx selbst weist auf die dem Gebrauchswert eigene Indifferenz hin, wenn er schreibt, bei dessen Betrachtung würde stets seine quantitative Bestimmtheit vorausgesetzt (ebd.). Als Ware ist der Tauschwert aus diesem Grund tief von quantitativen Erwägungen durchzogen. Es ist nicht hinreichend, einen bestimmten Gegenstand für eine bestimmte Tätigkeit nutzen zu können, da zugleich die Frage im Raum steht, in welchem Masse er vorhanden ist. Aus diesem Grund ist es dem Rock Marx zufolge auch gleichgültig, ob er vom Kunden oder Schneider getragen wird, da er in beiden Fällen als Gebrauchswert wirken würde (ebd., S. 57). Mag dies bei einem Rock noch wenig dramatisch sein, kann es – wie Millionen von Menschen nur allzu gut wissen – im Falle von Medikamenten oder Nahrungsmitteln katastrophale Konsequenzen haben.

Zudem hat der Gebrauchswert die unangenehme Eigenschaft, sich in der Bewegung des Kapitals selbst aufzuheben. So kann sich als Folge einer Steigerung der Produktivkraft die Masse des stofflichen Reichtums vergrössern und zugleich der Wert des einzelnen Produkts verringern (ebd., S. 61). Angetrieben wird diese Bewegung durch die Entwicklung der Technik und Verschärfung der Konkurrenz, angesichts derer die Option, Waren billiger verkaufen zu können, um sich Vorteile zu verschaffen, der Schlüssel zur Behauptung auf einem stets umkämpften Markt ist. Diese Widersinnigkeit treibt die Ambivalenz des Gebrauchswerts auf die Spitze. Wo ein Mensch früher einen Rock brauchte, muss ihm nun klargemacht werden, er benötige auf jeden Fall zwei und wo der Markt für Röcke gesättigt ist, müssen neue Produkte hervorgebracht und an Menschen verkauft werden, die bislang gut ohne sie ausgekommen sind. Der Gebrauchswert referiert auf eine ständig breiter werdende Bedürfnispalette, die zu schaffen mittlerweile ein eigener Produktionszweig geworden ist. Dass an die Stelle des sich selbst erschliessenden Gebrauchswerts der Ware ein Gebrauchswertversprechen tritt, das in letzter Konsequenz offen lässt, ob mit dem Gekauften wirklich etwas anzufangen sei, ist die logische Konsequenz dieser Bewegung (Haug, 2009, S. 29). Aufgrund seiner konstitutiven Verwobenheit mit dem Tauschwert, verflüchtigt er sich zu einem blossen Versprechen.

Der Mensch als Bedürfniskraft

Baudrillard hat die in Marx Ausführungen liegende Ambiguität in seinem Aufsatz „Beyond Use Value“ intensiv unter die Lupe genommen. Ihm zufolge ist der Gebrauchswert ebenso ein Teil des Warenfetischismus wie der Tauschwert und aus diesem Grund unter keinen Umständen geeignet, Bezugspunkt einer emanzipierten Gesellschaft zu sein. Die Vorstellung, das Wirtschaftssystem drücke die Bedürfnisse der Menschen aus (die Kasse des Supermarktes als Ort des Politischen) ist ein Resultat der Entfremdung, das die Fetischisierung des Gebrauchswerts verdeckt, dass es umgekehrt die Menschen sind, die mitsamt ihrer Bedürfnisse Ausdruck des Wirtschaftssystems sind.

Mit dem Gebrauchswert geht eine Reduktion der Produkte auf deren Nützlichkeit einher, die zu etwas Allgemeinem wird, hinter dem die vordergründig konkrete Dimension des Gebrauchswertes zurücktritt. Dieser „Nützlichkeit an-sich“ der Ware entspricht auf Seiten des Subjekts dessen Reduktion auf die universelle Eigenschaft, Träger von Bedürfnissen zu sein, wodurch es in seiner Singularität, seiner Einzigartigkeit als Mensch, verschwindet. Der abstrakten Produktivkraft der Arbeit entspricht damit eine nicht weniger abstrakte „Bedürfniskraft“, die wie erstere dem Tauschwert hier dem Gebrauchswert zugrunde liegt (Baudrillard, 1981, S. 132).

Baudrillard geht also deutlich weiter als die etablierte Konsumkritik, der zufolge die Menschen durch „Blödmaschinen“ (Metz/Seesslen, 2011) zu Dummköpfen gemacht werden, die nicht mehr in der Lage sind, von ihrer (verlorenen) Mündigkeit Gebrauch zu machen. Es kann nicht darum gehen, die Oberflächlichkeit der Konsumartikel zu kritisieren, als wäre ein Kapitalismus, in dem die Menschen „Schuld und Sühne“ lesen, erstrebenswerter als einer, in dem sich ihre Lektüre auf „Shades of Grey“ konzentriert. Das Problem liegt vielmehr in der Übersetzung jeder menschlichen Regung in ein Bedürfnis, dem in den meisten Fällen bereits eine Ware korrespondiert oder ihrer Erfindung harrt (ebd., S. 135). Wenn Marx sich in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten fragt, zu welch sinnlichen Genüssen der Mensch wohl jenseits des Kapitalismus fähig sei, hat er genau diese Verstümmelung des menschlichen Begehrens (das niemals in Bedürfnissen aufgeht) vor Augen und weist auf die Reduktion des Geniessens hin, die mit dessen warenförmiger Befriedigung einhergeht (Marx, 1844, S. 541).

An alles die Frage anzulegen, was man denn damit anfangen könne, ist keineswegs Zeichen eines kritischen Pragmatismus, sondern Ausdruck dessen, was Baudrillard mit der zuvor angesprochenen Feststellung auszudrücken versucht, die Menschen und ihre Bedürfnisse würden vom Wirtschaftssystem hervorgebracht. Der Bereich des Nützlichen ist Ausdruck seiner Zeit und wird durch rigorose Abgrenzung gegen den Bereich des Unnützen stabilisiert, in dem sich der gesellschaftliche Ausschluss verkörpert. Wenn die Arbeit, deren Produkt mit keinem Gebrauchswert korrespondiert, unnütze Arbeit ist, wie Marx an zahlreichen Stellen betont (was auf der deskriptiven Ebene vollkommen richtig ist), der Mensch aber durch Arbeit (als Austausch mit der Natur) zum Menschen wird, erstreckt sich die Scheidung des Nützlichen vom Unnützen immer auch auf die Menschen selbst. Wie Zygmunt Bauman eindringlich verdeutlicht hat, gelten viele Menschen heute – vor allem Flüchtlinge – nur noch als „menschlicher Abfall“ und werfen vordringlich die Frage auf, wie sie am effizientesten zu entsorgen sind (Bauman, 2005).

Das mit dem Gebrauchswert einhergehende Nützlichkeitsdenken liegt auch dem Selbstbezug des im Kapitalismus zugerichteten Menschen zugrunde, der zu sich selbst in ein aus Nützlichkeitserwägungen bestehendes Verhältnis tritt, innerhalb dessen ihm seine Fähigkeit, Freude zu empfinden, zur Produktivkraft wird, die es auszuschöpfen gilt (Baudrillard, 1981, S. 136). Die Selbstoptimierungswelle in Form von Schrittzählern, Fitness- und Gesundheitsapps, Coachings und Yogakursen kann als direkte Konsequenz dieses Selbstverhältnisses verstanden werden: Das Subjekt wird sich selbst zum Gebrauchswert und konsumiert sich als Potenzial.

Die Verstümmelung der Vorstellungskraft

Wenn der Warenfetischismus sich auch auf den Gebrauchswert erstreckt und dessen mögliche Manifestationen durch die Kultur des Kapitalismus vorgegeben sind, gilt als nützlich, was sich am Markt behauptet und steckt den Horizont des Möglichen ab. Das Vorstellbare fällt mit dem Nützlichen zusammen und das Normative geht im Faktischen auf. Wie die Rede von der Realpolitik beweist, findet die Intelligibilität der Praxis heute dort ihre Grenze, wo sie sich auf Ziele richtet, die nicht aus dem Bestehenden deduziert werden können, ebenso wie Ideen als irrational gelten, die aus auf Transzendenz verweisenden Fragestellungen herrühren.

Das Resultat besteht in einem eindimensionalen Denken, dem eine eindimensionale Sprache korrespondiert (Marcuse, 1967, S. 212), die nur noch unter grössten Widrigkeiten die Formulierung einer adäquaten Problemstellung zulässt und sich zudem stets dem Vorwurf des Unsinns ausgesetzt sieht. Wenn jede Tat und jeder Gedanke auf seine Praxistauglichkeit in der heutigen Wirklichkeit befragt wird, kulminiert jede Tat und jeder Gedanke in der unkritischen Reproduktion des Bestehenden. Diese Reduktion des Imaginären führt in ein Universum, das von Selbstübereinstimmung und Immanenz reguliert wird und stets sich selbst gebiert.

So stellt sich hinsichtlich des Gebrauchswerts eine ähnliche Frage wie Judith Butler sie vor über 25 Jahren mit Blick auf den Begriff „die Frauen“ formuliert hat (Butler, 1991). Wie der damals etablierte Feminismus unkritisch einen Begriff verwendete („Die Frauen“ als Subjekt feministischer Politik), hinter dem sich bei genauer Analyse jene Ausschlussmechanismen versteckten, die zu beseitigen er ausgezogen war, muss auch die linke Kapitalismuskritik den Begriff des Gebrauchswertes aufgeben, um neue Begriffe an seine Stelle zu setzen. Ein Heilmittel gegen AIDS hat unter kapitalistischen Bedingungen ebenso einen Gebrauchswert wie die Steine und der Mörtel, aus denen Trump die Mauer an der mexikanischen Grenze erbauen lassen möchte. Und allen sollte auffallen, wie wenig Übereinstimmung zwischen dem, was sich am Markt behauptet und dem besteht, was uns im Leben wirklich Freude bereitet.

Lars Distelhorst
streifzuege.org