Marx-Debatte Marx und das Elend der biographischen Mode

Politik

2. Dezember 2020

Wofür steht Marx?“ – so hiess es letztens im Marx-Dossier, wo ein Versuch vorgestellt wurde, die seit dem Marx-Jubiläum 2018 aufgekommene Neubefassung mit dem Urheber der wissenschaftlichen Kapitalismuskritik auf eine sachliche Schiene zu bringen.

Karl Marx Monument (Nischl) in Chemnitz im Winter im Schnee in der Nacht.
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Karl Marx Monument (Nischl) in Chemnitz im Winter im Schnee in der Nacht. Foto: Dirk Liesch (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

2. Dezember 2020
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Dies ist auch deshalb nötig, weil Marx mit dem Jubiläumsrummel zum Opfer einer biographischen Mode geworden ist, die die Auseinandersetzung mit seinen theoretischen Leistungen in eine Begutachtung der Lebensumstände auflöst. Ähnliches wiederholt sich jetzt übrigens im Friedrich-Engels-Jahr. Die Schwächen einer solchen biographischen Fokussierung wurden schon im Marx-Dossier angesprochen, aber mehr in Form von Hinweisen. Im Folgenden wird versucht, die Kritik an dieser zeitlosen Mode ausführlicher zu begründen – vor allem im Blick auf die antikommunistischen Vorwürfe, die sich an Leben und (Nach-)Wirken von Marx und Engels festmachen.

Das Sündenregister von Marx, das der Antikommunismus führt, ist lang. Die Marxsche Theorie und das daraus folgende Programm stehen darin für Totalitarismus, Extremismus, Gewaltherrschaft, Absolutheitsanspruch, Dogmatismus, Utopismus – und natürlich darf dabei das Menschheitsverbrechen des Antisemitismus nicht fehlen. Diese Tradition hat das Online-Magazin Telepolis anlässlich der neuen Vorwürfe des Wirtschaftsjournalisten Wolfram Weimer jüngst wieder zum Thema gemacht.

Solche Anklagen haben Bestand, obwohl sich der Ostblock längst bekehrt und seine Berufungsinstanz entsorgt hat, der Pulverdampf des Kalten Kriegs also endgültig verflogen ist. Und das gilt gerade auch, seitdem die Finanzkrise von 2008 die Siegesgewissheit des Kapitalismus in Zweifel gezogen und die nachfolgende Marx-Renaissance, samt Jubiläumsjahr 2018 (vgl. IVA-Redaktion 2017/18), die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie wieder mit einer gewissen Aufmerksamkeit bedacht hat.

Marx – als Mensch und Unmensch

Schon immer ist in den einschlägigen Würdigungen des Marxismus die Person ins Visier geraten, bot sich doch damit eine Gelegenheit, die Befassung mit der Theorie zu umgehen. So lernte man Marx als gescheiterte bürgerliche Existenz, als unfähigen Familienvorstand, als tyrannischen Vater oder eben als Rassisten, Sexisten, Antisemiten kennen. Der neuere Rekurs, vor allem die Flut der Veröffentlichungen zum 200. Geburtstag von Marx, hat zwar die Theorie nicht ausgeklammert, gelegentlich sogar deren Triftigkeit betont. Eindeutig im Vordergrund stand aber das biographische Interesse, das dann zu aufwändigen Gesamtdarstellungen von Lebenslauf und Zeitumständen führte; sogar der Marxist Michael Heinrich startete eine biographische Publikation, deren erster Band 2018 erschien und deren zweiter Band jetzt für 2021 angekündigt ist.

Auch dann, wenn akademische Studien vorgelegt werden, die die Bedeutung der marxistischen Tradition fürs jeweilige Fach hervorheben, fühlt man sich meist bemüssigt, der Personalisierung Reverenz zu erweisen. Ein Beispiel ist die Einführung für die Sozialwissenschaft von Ingrid Artus und KollegInnen (Artus u.a. 2014 ) – eine Schrift, die Marx theoretische Aktualität bescheinigt und sich explizit „in die Renaissance seiner Kritik der politischen Ökonomie“ einreihen will (ebd., 2). Die Soziologie-Professorin Artus hält es dabei für unabweisbar, auch der Leserschaft den Menschen Marx vorzustellen, und zwar deshalb, weil das „menschliche Denken wesentlich geprägt ist von den materiellen Produktionsbedingungen seiner Zeit“. (Ebd., 7f)

Mit dieser Bemerkung bezieht sich die Autorin auf Marx selbst, der in der „Deutschen Ideologie“ oder im berühmten Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ den Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein thematisiert hatte. Demzufolge müsse man festhalten, so Artus, „dass der Mensch im Wesentlichen durch seine Produktionsbedingungen geprägt sei“ (Artus u.a. 2014, 14). Das gelte auch für den Klassiker der Kapitalismuskritik: „Ein Verständnis seiner Ideen“ sei „ohne Kenntnis der Biographie von Karl Marx und des Zeitgeistes, der ihn beeinflusste, nicht möglich“ (ebd., 8).

Es ist indes gewagt, sich für die Entscheidung zum biographischen Vorgehen auf Marx zu berufen. Marx, der sich mit Adam Smith, David Ricardo und zahllosen anderen Theoretikern aus Ökonomie oder Philosophie auseinandersetzte, verzichtete z.B. darauf, den Leser mit der Lebensgeschichte der Betreffenden zu behelligen. Wenn diese politisch oder sonstwie agierten, kommen die Fakten vor, aber dann sprechen sie für sich und sind nicht der Schlüssel zum Werk; wenn sich aus Letzterem Hinweise auf die Lebensumstände der Urheber ergeben, dann ist das Marx vielleicht eine Fussnote wert.

Es stimmt natürlich, Marx schrieb in dem erwähnten Vorwort: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (MEW 13, 9) Diese Feststellung ist aber keine erkenntnistheoretische Aussage über die soziale Bedingtheit und Begrenztheit des Denkens schlechthin.

Wie sollte auch die Marxsche Theorie Ausdruck seines sozialen Seins, also seiner (kleinbürgerlichen) Einbindung in die neu entstehende kapitalistische Gesellschaftsformation sein, wo doch bei den Zeitgenossen von der „Vulgärökonomie“, die Marx mit Spott bedachte, dasselbe Sein einen ganz anderen, entgegengesetzten theoretischen Ausdruck fand? Marx thematisiert in dem genannten Vorwort nicht die Konstitution von Bewusstseinsprozessen, sondern resümiert seinen eigenen politökonomischen Forschungsprozess und dessen „allgemeines Resultat“: die Einsicht in den Entwicklungsgang von Gesellschaftsformationen, in denen die Menschen ihren ökonomischen Zusammenhang nicht bewusst planen und gestalten, wo ihre Ideen also nicht die Wahrheit ihrer Praxis sind, sondern sich den vorgegebenen Zwängen akkommodieren.

Der Kapitalismus sei die letzte Stufe dieser Reihe; er ermögliche es, die bisher bestehenden „Antagonismen“ abzuschaffen; mit dieser Gesellschaftsformation schliesse „daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“. Demnach wird, wenn die Marxsche Erwartung eines Systemwechsels in Erfüllung geht, die Menschheit ihre Produktionsbedingungen mit Wille und Bewusstsein prägen statt umgekehrt.

In ihrem einleitenden Beitrag zu dem genannten Sammelband bietet Artus ein Porträt von Marx, das Stationen von Leben und Werk Revue passieren lässt und sich auch dem Privat-, z.B. Familienleben des Theoretikers zuwendet. Die Wissenschaftlerin hat dazu keine eigenen Forschungen angestellt, sie bezieht sich u.a. auf Eva Weissweilers Biographie der Lieblingstochter von Marx (Weissweiler 2002) und behandelt dieses Buch als seriöse Auskunftsquelle. Das ist erstaunlich!

Väterliche Übermacht und „wütender Antisemitismus“

Weissweilers (noch vor dem Marx-Jubiläum veröffentlichte, inzwischen aktualisierte) Biographie „Tussy Marx“ ist erkennbar gegen Marx als Person geschrieben. Sie will, so die Ankündigung des Klappentextes, „eine Fülle unbekannter Details aus dem Leben und Wirken von Karl Marx – etwa über seinen wütenden Antisemitismus“ liefern.

Neben der „Judenfrage“ ist die „Frauenfrage“ der zweite grosse Angriffspunkt. Wie der Untertitel vom „Drama der Vatertochter“ bereits erkennen lässt, ist es der Vater, der der Tochter das Leben schwer macht. Ein Glück für Marx, dass die Biographin in Edward Aveling, dem späteren Partner von Eleanor, genannt „Tussy“, einen üblen Kerl gefunden hat, der das Leben von Marxens jüngster Tochter ruinierte und sie in den Selbstmord trieb (vielleicht sogar dabei seine Hand mit im Spiel hatte). So trifft den Vater nicht die volle Schuld, wenn es um das – letztendlich – verpfuschte Leben einer grossartigen Frau geht.

Mit der Entscheidung zur Biographie ist natürlich klargestellt, dass die Marxsche Theorie für sich genommen nicht interessiert. Es interessiert die persönliche Aufführung. Es geht um einen Blick auf die Privatsphäre, auf den Familienmenschen, den „übermächtigen“ Vater – und zwar durch das Porträt der Tochter hindurch, dieser „begabten und unglücklichen Frau“ (Klappentext). Mehr braucht man eigentlich über ein solches Unterfangen nicht zu wissen (Leser unter Zeitdruck können hier also Schluss machen).

Es führt logischer Weise zu Klatsch und Tratsch: Marx war auch nur ein Familienvater aus dem 19. Jahrhundert – mit dem Rattenschwanz von Problemen, die eine verkrachte bürgerliche Existenz mit sich bringt. Aber zur theoretischen Leistung von Marx will das Buch trotzdem noch Einsichten und Einblicke beisteuern. Zur Sprache kommen unter anderem folgende Punkte:

Seine Theorie ist erstens ein hochkomplexes, kaum greifbares Gebilde, was nicht direkt abwertend gemeint ist, sondern auch mit einem gewissen Respekt vorgetragen wird. Thema wird das z.B., als sich Tussy nach dem Tod ihres Vaters daran macht, eine Kurzfassung der Mehrwerttheorie für eine englische Zeitschrift zu verfassen. Der Text sei, so Weissweiler, misslungen, musste misslingen, denn: „Das ganze, hochkomplizierte Marxsche Gedankengebäude, gespeist aus Philosophie, Mathematik, Nationalökonomie, Geschichte und vielen anderen ‚Hilfswissenschaften' lässt sich nicht auf ein paar Zeitungsseiten reduzieren.“ (Weissweiler 2002, 180f) Tussys Versagen wird von der Biographin entschuldigt. Die Schuld für das missglückte Unternehmen liege bei Aveling, der die Marx-Tochter zur Abfassung drängte – und das angesichts der Tatsache, dass sie „keine Theoretikerin, keine Nationalökonomin, sondern eine Frau des lebendigen, erzählenden Wortes“ war.

Die Theorie des Vaters, muss man schlussfolgern, ist keine Sache des lebendigen Wortes. Sie gehört in die Studierstube oder das Seminar, ihre Verbreitung über die Medien ist unmöglich. Worin das spezielle Desaster des Aufsatzes bestehen soll, führt Weissweiler nicht aus. Sie resümiert bloss allgemein, Tussy versuche einen „lockeren Ton anzuschlagen… Doch sie verheddert sich in dem symbolischen Garn, das sie auslegt, verstrickt sich in Widersprüche, vermag nicht zu überzeugen. Am Ende hat der Leser oder die Leserin zwar verstanden, dass der Fabrikherr durch die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Reichtümer ansammelt, aber die Mehrwerttheorie ist immer noch nicht plastisch geworden.“ Seltsam!

Wenn der Aufsatz die moderne Reichtumsvermehrung, also den Sachverhalt der Ausbeutung, verständlich macht – wie Weissweiler behauptet –, dann muss doch in irgendeiner Form die Mehrwerttheorie von Marx im Text ausgeführt worden sein. Wie sollte sonst die Leistung des Verständlich-Machens zustande kommen? Die betreffende Theorie hat ja gerade die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft zum Inhalt. Im Endeffekt bleibt es jedoch bei einer Charakterisierung der Marxschen Ökonomiekritik als weltfremd und abgehoben: Selbst die Tochter und langjährige Assistentin des Urhebers war nicht in der Lage, sie anderen Menschen zu vermitteln...

Zweitens aber und entscheidend: der Antisemitismus. Hier argumentiert die Biographin besonders perfide. Sie weiss, dass sich die Arbeiterbewegung von Anfang an programmatisch für den Internationalismus aussprach und später z.B. gegen den sich neu formierenden, politischen Antisemitismus Stellung bezog. Der Bewegung ging es um Klassen-, nicht um Rassenkampf. Sie folgte zu dieser Zeit (zumindest noch im Programmatischen) der Parole „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“, wie sie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formuliert hatten.

Weissweiler referiert auch entsprechende Beschlüsse, so der Gründungskonferenz der Zweiten Internationale vom Juli 1889, bei der Vertreter der jüdischen Arbeiterbewegung, die aus den USA angereist waren und sich der Versammlung vorstellten, begeistert begrüsst wurden: „‚Bravo!' ruft die Mehrzahl der Delegierten. ‚Bravo!' ruft wahrscheinlich auch Tussy, wenn auch mit leicht melancholischem, nachdenklichem Unterton [!]. Undenkbar [!], dass sie bei diesem Vortrag nicht an die Schrift ihres Vaters ‚Zur Judenfrage' gedacht haben sollte [!], vielleicht auch an das Pamphlet ‚Herr Vogt' mit seinen obszönen Angriffen auf den Chefredakteur des ‚Daily Telegraph', Moses Joseph Levy.“ (Ebd., 264)

Die programmatischen Positionen sollen also durch persönliche Verdächtigungen grundsätzlich in Frage gestellt werden. Die Methode besteht darin, in die Biographie der Marx-Tochter eine Problematik hineinzulesen, nämlich einen tiefgreifenden Vater-Konflikt, der ihr Leben geprägt habe. Durch Zeugnisse aus der damaligen Zeit belegt ist das nicht, genau so wenig wie der „melancholische Unterton“ und das sonstige Gedankenlesen.

Das von Weissweiler referierte Material belegt eher das Gegenteil. Tussys späteres Engagement für die jüdischen Arbeitervereine in London oder für die jüdische Autorin Amy Levy zeigen, dass sich die Tochter nicht von ihrem Vater distanzierte, ihre Arbeit vielmehr in die Marxschen Tradition stellte. „Tussy sah im Juden nur den Verfolgten, den sozial Geächteten, den Vertreter eines Volkes, dessen Erbe ihr Vater in sich auslöschen wollte“, zitiert Weissweiler aus dem zeitgenössischen Porträt des jüdischen Journalisten Max Beer (ebd., 292). Wie die Protagonisten der Arbeiterbewegung fühlte sich Tussy solidarisch mit dem Proletariat, mit den Ausgebeuteten jedweder Nationalität.

Das Schicksal der armen jüdischen Arbeiter ging ihr wohl besonders nahe, weil sie den prekären Status dieser Minorität aus der Familiengeschichte kannte. Sich zum Judentum zu bekennen, war für sie kein ethnisches Anliegen, sondern ein soziales. „Wir Juden haben eine besondere Pflicht, für die Arbeiterklasse zu wirken“, zitiert Weissweiler Tussy (ebd., 289; vgl. Anm. 1). Zum Judentum als nationalreligiöser Bewegung hielt sie, wie die Biographin vermerkt, dagegen Distanz. Die atheistisch-materialistische Position ihres Vaters zu revidieren, kam für sie nicht in Frage.

Tussy übersetzte, ein von Weissweiler ausgiebig zitiertes und strapaziertes Beispiel, den Roman „Ruben Sachs“ von A. Levy ins Deutsche und kümmerte sich um eine Veröffentlichung im sozialdemokratischen Verlagswesen Deutschlands (2). In dem Roman werden, wie Weissweiler referiert, zwei Positionen der jüdischen Intelligenz aus der besseren Gesellschaft einander gegenübergestellt: die sozialistische, also von Marx inspirierte Position eines jungen Mannes, der den Geschäftssinn seiner Familie verachtet, und die des eher tragischen Titelhelden und Politkarrieristen Ruben Sachs, der der jüdischen „Rasse“ die Treue halten will. Letzterer wendet gegen den Sozialisten und dessen Absage an die Verbundenheit mit dem Judentum ein: „Der Jude wird sich immer zum Juden hingezogen fühlen, mit welchem Namen er sich immer nennen mag.“ (Weissweiler 2002, 295)

Hier hat man also das eine Mal den Standpunkt der Klasse bzw. ihrer Solidarität vor sich und das andere Mal eine völkische Position, die die Zugehörigkeit zur eigenen „Rasse“ als das Bestimmende hochhält, von dem man sich nicht lossagen kann. Damit greift der Roman eine Politisierung auf, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts in der jüdischen Bevölkerung Europas anzutreffen war: Die einen gehen den Weg des Internationalismus, des Marxismus, die anderen schlagen den des Nationalismus, des Zionismus ein (den Marx natürlich noch nicht im Blick hatte).

Der erstere ist gerade nicht der Weg des Antisemitismus. Der neu aufkommenden, nicht mehr christlich-religiös, sondern national-rassisch begründeten Gestalt der Judenfeindschaft stellt sich der Internationalismus der Sozialisten konsequent entgegen, er stellt sich aber auch gegen die jüdische Bourgeoisie – die übrigens in dem Roman von A. Levy fast genau so kritisiert wird wie in Marxens berühmtem Text „Zur Judenfrage“ (MEW 1) aus dem Jahr 1844. Die Übereinstimmung muss sogar Weissweiler einräumen (Weissweiler 2002, 297), die das störende Faktum zu einem Problem der Rezeption umdeutet: „Es ist sogar zu befürchten, dass er von vielen, die ihn oberflächlich gelesen haben, als Bestätigung des eigenen ‚sozialistischen Antisemitismus', als weiterer Beleg für die alte Karl-Marx-These, dass Judentum mit ‚Ausbeutung' und ‚Kapital' gleichzusetzen sei, empfunden wurde.“

Der Roman bestätigt also gerade – folgt man dem Referat von Weissweiler –, dass die Behauptung vom „sozialistischen Antisemitismus“ unzutreffend ist, dass vielmehr in jüdischen Kreisen Ende des Jahrhunderts die eigene Bourgeoisie als Zielscheibe der Kritik fungiert, dass junge Intellektuelle sie wie früher Börne oder Marx wegen ihres Schachers, ihrer Heuchelei etc. angreifen und dass einem jüdischen Publikum diese sarkastische Selbstbespiegelung zur literarischen Erbauung angeboten wird (bei der sich Weissweiler übrigens an Woody Allen erinnert fühlt – man sieht, mit welcher Brille die Autorin auf die damaligen Verhältnisse blickt!).

Weissweiler zitiert auch das berühmte Statement von Engels aus dem Jahr 1890 gegen den Antisemitismus: Dieser sei „das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur...“ (ebd., 278). Sie weiss also, dass die Arbeiterbewegung eindeutig Stellung bezog. Aber alles Spätere muss angeblich auf den ursprünglichen Antisemitismus von Marx bezogen werden, der dann nachträglich abgeschwächt, revidiert, unterdrückt etc. worden sei – im Falle Engels' dank Tussys Intervention, so die Unterstellung von Weissweiler (ebd., 278). Das ganze Konstrukt hängt damit an der eingangs getroffenen Behauptung, dass Marxens Aufsatz „Zur Judenfrage“ antisemitisch ist, und an den nachfolgenden Mutmassungen, bei Tussy habe diese Positionierung zu einem inneren, selbstdestruktiven Konflikt geführt.

„Zur Judenfrage“

Die Einführung der Antisemitismus-These begründet Weissweiler mit folgender Interpretation des Marx-Aufsatzes: „In der ‚Judenfrage' kommen nur zwei Typen von Juden vor: der rückständige, einer ‚chimärischen' Religion verbundene ‚Sabbatjude', der, obwohl nicht integrationswillig und im selbstgewählten Ghetto lebend, staatsbürgerliche Gleichberechtigung für sich reklamiert; und der jüdische Ausbeuter, der Kapitalist, der nur einen Gott für sich anerkennt: das Kapital und den Schacher.“ (Ebd., 264)

Weissweiler vermisst in dem Text speziell die Anerkennung jüdischer Kunst und jüdischen Intellekts. Marxens antisemitisches Wüten soll also primär darin bestehen, dass er die Breite und Vielfalt jüdischen Lebens missachtet. Er kenne neben dem frommen Juden nur den Bourgeois, der Rest fehle. Weissweilers Resümee: „Das heisst konkret: das Judentum kann gar keinen Künstler, keinen Historiker, keinen Theoretiker hervorbringen und im Grunde auch keinen echten Sozialisten – mit einer einzigen Ausnahme, Karl Marx, der es aber für sich ablehnt, Jude zu sein [,] und seine Herkunft verdrängt hat.“ (Ebd., 265)

Vom Nicht-Können ist bei Marx freilich an keiner Stelle die Rede, und sein Freund Moses Hess, „der erste Kommunist in Deutschland“ (3), wäre ja schon ein erstes Gegenbeispiel; die Behauptung vom eigenen Ausnahme-Status ist eine schlichte Erfindung der Biographin.

Was entscheidend ist: Marxens Argumentationsgang wird hier in sein Gegenteil verkehrt. Der marxsche Aufsatz will, wie auch aus seinem Rezensions-Charakter – nämlich der Reaktion auf zwei Schriften Bruno Bauers zur Forderung der Judenemanzipation – hervorgeht, gar keine Bestandsaufnahme der jüdischen Lebenssituation zu Beginn des 19. Jahrhunderts liefern. Er ist Kritik an einem politischen Programm, das von Vertretern jüdischer Gemeinden verfolgt wurde und das auf die staatsbürgerliche Anerkennung zielte. Genauer gesagt: Er ist ein Reaktion auf Bauers – ablehnende – Stellung zu diesem Programm und ein Plädoyer dafür, diese Emanzipationsforderung in eine materialistische, internationalistische, antikapitalistische Richtung zu lenken.

Er ist, kurz gesagt und im Blick auf die praktische Konsequenz formuliert, das Plädoyer dafür, dass Juden wie alle anderen Menschen sich dem Internationalismus und Sozialismus anschliessen sollen – so wie es viele aus der jüdischen Intelligenz (z.B. in Marxens Freundeskreis) taten. Und in dem Moment, als in den 1880er Jahren eine eigene jüdische Arbeiterbewegung auf den Plan trat, wurde sie von Tussy, Engels und der Internationale folgerichtig begrüsst.

Weissweiler sind diese Fakten im Grunde bekannt. Sie setzt auch etwas anders an als die übliche Verballhornung des Marx-Aufsatzes von 1844, die ihm die Auslöschung des Judentums als Absicht unterstellt (vgl. die im Zuge der jüngsten Marx-Renaissance wiederholten Vorwürfe bei Brumlik 2014). Weissweiler fährt nach ihrer negativen Charakterisierung des Marx-Textes fort:

„Es gibt viele Stimmen, die diese Schrift anders interpretieren, als nicht antisemitisch, ja sogar als progressiv. Es gibt meterweise Literatur über den ‚sogenannten' Marxschen Antisemitismus, der in Wirklichkeit nur Atheismus und Anti-Kapitalismus sei. Doch es geht hier nicht darum, diese Stimmen zu würdigen und zu zitieren. Es geht um den Eindruck, den die Abhandlung auf Tussy, die Tochter, gemacht hat, und der muss [!] – jenseits aller späteren Theoriebildung – niederschmetternd gewesen sein, einen schweren Loyalitätskonflikt, schlimme Verwirrungen ausgelöst haben. Wie bewältigt sie diese Verwirrungen?

Welche Mittel und Wege findet sie, auf ihre jüdische Herkunft stolz zu sein und den Vater trotzdem zu lieben? Indem sie die Juden zum Sozialismus bekehrt, sie von der ‚Religion' ihres Vaters überzeugt, sich mit jüdischen Proletariern, jüdischen Künstlern anfreundet, mit Menschen, die weder ‚orthodox' noch dem ‚Schacher' verfallen sind. Mit genau denen, die ihr Vater ‚vergessen' hat, vielleicht, weil er es nicht besser wusste, denn die Masseneinwanderung jüdischer Flüchtlinge aus dem Osten begann ja erst in den achtziger Jahren, also nach seinem Tod. Auch ihn hätte dieses Elend nicht unberührt gelassen. Auch er hätte sich auf ihre Seite geschlagen. Diese Entschuldigung muss [müsste?] sie für ihn gelten lassen. Sonst könnte sie ihn nicht mehr lieben. Sonst würde sie verrückt.“ (Weissweiler 2002, 265)

Ja, so muss es gewesen sein, sonst würde die Konstruktion der Biographin in sich zusammenbrechen. Bemerkenswert, dass solche Mutmassungen im Klappentext damit angepriesen werden, hier gäbe es „eine Fülle unbekannter Details aus dem Leben und Wirken“ des alten Antisemiten Marx zu entdecken. Kein einziges der in diesem Kontext vorgestellten Fakten dürfte ein unbekanntes Detail sein. Für den behaupteten Loyalitätskonflikt werden sowieso keine Belege geboten. Aus keinem der mitgeteilten Details geht hervor, dass die Aufnahme der jüdischen Arbeiterbewegung durch die Internationale als Kurswechsel betrieben oder empfunden wurde. Im Gegenteil, sie wurde hoffnungsvoll als Wachsen der Bewegung verzeichnet.

Der Eindruck, den Marxens „Abhandlung auf Tussy gemacht hat, muss niederschmetternd gewesen sein“. Es muss so sein, weil die Biographin es so sehen will. Es ist eine Schlussfolgerung, die nur durch Weissweilers Unterstellung Plausibilität erhält, der frühe Aufsatz sei antisemitisch gewesen und habe die Tochter innerlich belastet. Dass das kein sachlicher Befund ist, deutet Weissweiler übrigens selber an. Es gibt „meterweise Literatur“, wie sie mitteilt, die den Antisemitismusvorwurf zurückweist. Folglich hätten sich – könnte man erwarten – alle Bemühungen auf die Beantwortung der Frage zu konzentrieren, was denn nun stimmt: die Zurückweisung oder der Vorwurf.

Die Biographin tut so, als würde sie sich aus dieser Frage heraushalten, obwohl sie sie vorentschieden hat. Statt eine der Thesen aus der umfangreichen Literatur zu diskutieren, untersucht sie, wie Tussy mit einem persönlichen Problem klar gekommen ist, das ihr – ex post – angetragen wird. So beginnt ja auch schon der Einstieg zu dem Thema (ebd., 264) mit Unterstellungen: von den Bemerkungen über den mutmasslich melancholischen Ton bei Tussys Bravo-Ruf bis zu den unvermeidlichen Erinnerungen, an denen die Tochter gelitten haben „muss“...

Der innere Konflikt, das Drama der jüdischen Vatertochter, ist also eine biographische Konstruktion (4), mit der – von heute aus, nach den Erfahrungen der Judenverfolgung des 20. Jahrhunderts – ein Blick auf diese Family Affair des 19. Jahrhundert geworfen werden soll. Weissweiler konzediert selber, dass die These von der Marxschen Missachtung des jüdischen Proletariats nicht zu halten ist, da Letzteres in nennenswertem Umfang erst nach Marxens Tod in Erscheinung getreten sei. Und Weissweiler dürfte auch wissen, dass Marx mit jüdischen Intellektuellen und Künstlern befreundet war.

Den Freund Heine hat er sogar explizit in seinem Hauptwerk, dem „Kapital“ (vgl. MEW 23, 637), gewürdigt. Die vielen persönlichen Kontakte führten natürlich auch zu vielerlei Reibereien. Dass Marx sich über Freund und Feind – vor allem im Briefwechsel mit Engels – in drastischen Worten ausliess, die der heutigen Political Correctness nicht entsprechen, stimmt. Marx nahm auch bei ethnischen Minderheiten kein Blatt vor den Mund. Er mokierte sich über den „Itzig“ Lassalle oder den „Nigger“ Lafargue etc. Vieles war saloppe Formulierung (5), vieles Klatsch und Tratsch, vieles war auch böse gemeint, nämlich als Angriff auf Personen. In diesem Zusammenhang muss man aber erstens festhalten, dass solche Ausfälle in der privaten Korrespondenz stattfanden, kein öffentliches Statement darstellten; und dass zweitens solche Angriffe in der Öffentlichkeit dann gestartet wurden, wenn Marx in entsprechende Kontroversen verwickelt war und zum Gegenschlag ausholte.

Persönliche Angriffe gab es gegen die Arbeiterbewegung und ihre Protagonisten nämlich zuhauf, speziell als Polemik gegen den Juden Marx und den Kreis seiner Genossen. „Die erste antisemitische Schmähschrift auf Marx veröffentlichte“ 1850 der Journalist Eduard von Müller-Tellering (Silberner 1962, 128): Marx, „der feige, Blutsäure knirschende Jude“, habe ein „rachedurstiges, von der verworfensten Malice durchnadeltes Judenherz“, er und sein Gefährte Engels seien „Schurken und Arbeiterexploiteurs“ (ebd., 322). 20 Jahre später kamen solche wütenden Beschimpfungen z.B. aus der Arbeiterbewegung selber, nämlich von anarchistischer Seite. So beschimpfte Bakunin 1871 Marx und die Clique jüdischer Literaten, Zeitungskorrespondenten etc., die er um sich geschart habe, als kommende Ausbeuter der Arbeiter (Enzensberger 1981, 364): Die „jüdische Welt steht heute zum grossen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung.

Ich bin sicher, dass die Rothschild auf der einen Seite die Verdienste von Marx schätzen und dass Marx auf der anderen Seite instinktive Anziehung und grossen Respekt für die Rothschild empfindet. Dies mag sonderbar erscheinen. Was kann es zwischen dem Kommunismus und der Grossbank gemeinsames geben? Oh! Der Kommunismus von Marx will die mächtige staatliche Zentralisation, und wo es eine solche gibt, muss heutzutage unvermeidlich eine zentrale Staatsbank bestehen, und wo eine solche Bank besteht, wird die parasitische jüdische Nation, die in der Arbeit des Volkes spekuliert, immer ein Mittel zu bestehen finden… Wie immer das sein mag, Tatsache ist, dass der grösste Teil dieser jüdischen Welt, vor allem in Deutschland, Marx zur Verfügung steht.“

„Herr Vogt“

Gegen solche und andere Angriffe setzte sich Marx zur Wehr, z.B. in der Streitschrift „Herr Vogt“ (MEW 14). Es ist schon besonders gehässig von der Biographin Weissweiler, dass sie als zweite zentrale Belegstelle für Marxens Antisemitismus diese Schrift nennt. Mit ihr versuchte Marx seinerzeit, eine Verteidigung seiner persönlichen Ehre gegen eine breite Pressekampagne auf den Weg zu bringen – im Grunde vergeblich. Später wurden die Verleumdungen des Rassisten Carl Vogt vergessen und spielten keine Rolle mehr, es sei denn, man nutzte sie dazu, die Sache umzudrehen und aus Marx den rassistischen Verleumder zu machen (6).

Dass Marx mit der Publikation einem Zerrbild seiner Biographie entgegen treten wollte, dass er also reagierte, wird dabei nicht erwähnt. Zu Marxens polemischem Unterfangen liesse sich vieles sagen, gerade auch Kritisches. Kritik wurde übrigens schon damals geäussert, viele Freunde rieten Marx z.B. von der Abfassung der Streitschrift ab. Weissweiler, die sonst auf persönliche Details scharf ist, unterlässt es, die Behauptung von Marxens „obszönem“ Antisemitismus im Kontext dieser persönlichen Verwicklungen zu explizieren, zu überprüfen oder zu belegen. Mit dem lapidaren Hinweis auf die inkriminierten Stellen, der an der Sache völlig vorbeigeht, ist es für sie getan.

Die Sache besteht aus Folgendem: In „Herr Vogt“ ereifert sich Marx unter anderem über den jüdischen Unternehmer Levy, Herausgeber des Londoner „Daily Telegraph“. Anlass war, wie gesagt, dass Marx in übler Weise verleumdet worden war und Levys „grosse papierne Zentralkloake“ (MEW 14, 599) sich an der Verbreitung der Verleumdungen beteiligt hatte. Das Kolportieren persönlicher Angriffe auf zersetzende oder sonstwie unliebsame (gerade auch jüdische) Intellektuelle scheint dem „Telegraph“-Herausgeber ein Anliegen gewesen zu sein.

Marx verteidigte seine angegriffene Ehre mit einem Gegenangriff auf den Zeitungsmacher. Er wehrte sich gegen Schmähungen, die ihn als Halunken und Mitglied einer erfundenen „Schwefelbande“ darstellten, die für allerlei Gaunereien verantwortlich sein sollte. Er zahlte dem Denunzianten Vogt – einem Agenten im Dienste Louis Napoleons, der verschiedene Pressekanäle nutzte – und seinen Spiessgesellen mit gleicher Münze heim. Das ist persönliche Polemik und hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Der „Daily Telegraph“ war, so weit überliefert, ein Boulevardblatt der übelsten Sorte. Marx bezieht sich in seiner Polemik gegen den Herausgeber darauf, dass das Blatt in der damaligen Öffentlichkeit als eklatanter Fall einer Schmutz-und-Schund-Presse verschrien war, die ja seit Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr von sich reden machte. Karl Kraus zog gegen die Verlotterung der Presse ebenfalls massiv zu Felde; in den USA wurde die Spielart der „Muckracker“, der Schmutzaufwühler, dann zum Ehrentitel investigativer Journalisten...

Marx bringt das Londoner Revolverblatt, das im Schmutz wühlt, in Zusammenhang mit Levys Schnüffelnase, die den Zeitungsmacher stets zum einschlägigen Material führe. Und diese Nase werde vom Londoner Publikum als klassische Judennase bewitzelt, ein Scherz, dem Marx sich anschliesst. Obszön sind die Bemerkungen nicht; höchstens in der Anspielung auf Sternes Roman „Tristram Shandy“ und dessen Hauptperson mit der markanten Nase könnte man eine sexuelle Färbung entdecken. Doch die ist literarisch derart subtil, dass sie schon eher in den Bereich des Feinsinns gehört. Die Anspielungen kann man als geschmacklos oder pueril bezeichnen (von der heutigen Warte aus gesehen sind sie absolut tabu, es sei denn, man wäre ein jüdischer Kabarettist – dann darf man solche ethnischen Klischees hemmungslos ausschlachten und auch ein nicht-jüdisches Publikum damit unterhalten). Aber sie gehören zum Genre der Streitschrift.

Es handelt sich hier ja nicht um eine theoretische Abhandlung, sondern um eine Polemik, die explizit ad hominem (ad „Herrn Vogt“) gerichtet ist. Sie ist von derselben Art, wie sie Heine gegen Graf Platen veröffentlichte, nachdem dieser den poetisierenden Judenbengel angegriffen hatte. Heine verstieg sich hier ebenfalls zu einer wütenden Karikatur seines Angreifers, seines Aussehens, seiner pädophilen Neigungen etc. Vielleicht ist das nicht die feine Art der Kontroverse, aber Heines „Bäder von Lucca“ zählen seitdem zur Weltliteratur.

Nichts anderes hat Marx mit seiner Streitschrift geliefert. Gestreift wird in ihr das Thema Antisemitismus übrigens nur da, wo Marx den Spott der englischen Presse über den Zeitungsmann Levy wegen dessen Versuchs referiert, mit einem Namenswechsel (von Levi zu Levy) seine jüdische Herkunft zu verschleiern; oder wo Marx Levys Bemühungen aufspiesst, sich durch die Diskreditierung anderer Juden (z.B. des Tory-Politikers Disraeli) bei Judenfeinden beliebt zu machen (MEW 14, 601 http://mlwerke.de/me/me14/me14_570.htm). Das ist alles andere als Antisemitismus, es kritisiert eher den opportunistischen Umgang mit ihm.

Weitere Stellen bei Weissweiler zur Frauen- und Judenfrage folgen derselben fragwürdigen Logik. Zur Frauenfrage, die in der Biographie nahe liegender Weise im Vordergrund steht, liesse sich daher Ähnliches ausführen. Auch hier sind die Positionen der Arbeiterbewegung – von den frühen Statements bis zur sozialdemokratischen Politik einer Clara Zetkin, die Weissweiler ausführlicher vorstellt – bekannt.

Es sei nur daran erinnert, dass schon vor dem Kommunistischen Manifest – „Aufhebung der Familie! Noch die Radikalsten ereifern sich über diese schändliche Absicht der Kommunisten“ (MEW 4) – oder den Forderungen von Moses Hess (siehe Anm. 4), am Anfang der Arbeiterbewegung im utopischen Sozialismus des frühen 19. Jahrhunderts, eindeutige Stellungnahmen erfolgten. Franz Mehring (1980, 11) zitiert z.B. in seiner „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ eingangs Charles Fourier.

Dieser „sprach das tiefe Wort: Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Mass der allgemeinen Emanzipation.“ Auch bei diesem Thema zielt Weissweiler auf einen von ihr konstruierten biographischen Konflikt: Die Frauen der Arbeiterbewegung wie die Marx-Tochter oder Clara Zetkin hätten unter dem offiziellen Bekenntnis zur Frauenemanzipation gelitten, da sie sie als Verschleierung und Schönfärbung ihrer persönlichen Lebenssituation erfahren hätten – bzw. eigentlich hätten erfahren müssen, wenn man von heute aus einen Blick in ihr Inneres wirft und es entsprechend zurecht interpretiert...

Johannes Schillo

Anmerkungen:

(1) Weissweiler gibt dafür als Quelle den Aufsatz von Silberner (1977, 270) über Eleanor Marx an. Das Zitat, überliefert vom jiddischen Sozialisten Abraham Cahan, und zwar in dessen Memoiren von 1926 (!), findet sich in der Tat bei Silberner (1977, 280). Es stimmt aber nicht mit Weissweilers Behauptung überein, diese Worte habe Tussy 1891 zu Cahan auf dem zweiten Kongress der Internationale in Brüssel gesprochen. Silberner teilt mit, Tussy habe sie bei einem Treffen jüdischer Sozialisten in London geäussert.

(2) Silberner (1977, 271) bezweifelt, dass die Übersetzung des Romans von Tussy stammt, da sie dafür die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrscht habe. Bei Silberner (wie bei den anderen Einträgen im Internet) heisst der Roman übrigens „Reuben Sachs“, bei Weissweiler durchgängig „Ruben Sachs“.

(3) Vgl. Silberner 1962, 181. Nur zur Information, was Wikipedia-Allgemeinwissen ist: Der 1812 in Bonn geborene Moses Hess, Sprössling einer orthodoxen jüdische Familie, war „mit seinen Werken … einer der frühen Sozialisten in Deutschland. Seine Heilige Geschichte der Menschheit … aus dem Jahre 1837 enthielt das erste dezidiert sozialistische Forderungsprogramm, das in Deutschland erschien... u.a. die Forderung nach Aufhebung der Klassenunterschiede, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, ‚freie Liebe' als Grundlage der Ehe sowie Kindererziehung, Gesundheitssorge und Wohlfahrt als staatliche Aufgaben. Mit dem Verschwinden von Armut und Mangel würden Gewalt und Kriminalität aus der Gesellschaft verschwinden... 1869 ging Hess als Delegierter zum vierten Kongress der ersten Internationale nach Basel... Dort fungierte er neben Wilhelm Liebknecht und Samuel Spier, mit denen er seit Jahren in Briefkontakt stand, als Secrétaire de langue allemande. Das von ihm entwickelte Verständnis von Vergesellschaftung spielte für die spätere Theoriebildung von Karl Marx und Friedrich Engels eine zentrale Rolle. Mit Marx verbanden ihn seine Tätigkeiten für die Rheinische Zeitung, die Deutsche-Brüsseler-Zeitung und die zeitweise gemeinsame Arbeit an Die deutsche Ideologie. Hess hat angeblich sowohl Marx als auch Engels an Sozialismus und Kommunismus herangeführt. Ob Hess in diesem Punkt tatsächlich entscheidenden Einfluss insbesondere auf Marx ausübte, ist jedoch umstritten...“

(4) Das Konstrukt ist übrigens nicht neu, das Modell dazu stammt von Silberner (1962, 1977). Silberner beruft sich im Fall der Tochter ebenfalls auf den Journalisten Beer. Dieser habe in „Eleanors ‚Jüdischkeit' den tieferen Grund ihrer Lebenstragödie“ gesehen (Silberner 1977, 278). Allerdings fügt Silberner hinzu (ebd., 277f), dass Beer leider – aus Aversion gegen Aveling – den Kontakt zu Tussy abgebrochen habe, so dass von ihm keine wirkliche Aufklärung in dieser Angelegenheit und keine klare Aussage zu der genannten These vorlägen. Silberner behilft sich, wie Weissweiler, mit Mutmassungen, ist aber im Unterschied zu der späteren Biographin so ehrlich, dass er dies immer wieder anmerkt und auf die Notwendigkeit weiterer Forschung verweist. Bei Weissweiler werden die Hypothesen als Selbstverständlichkeit präsentiert. Interessant auch, dass Silberner, sozusagen als Hilfskonstruktionen für den behaupteten Vater-Konflikt, zwei zusätzliche Punkte anführt: Erstens das Trauma der Tochter, der die Familie die Wahrheit über den unehelichen Marx-Sohn Freddy verschwiegen habe – als sie sie bei Engels' Tod „erfuhr…, erlitt sie ein wahres Trauma“ (ebd., 262f). Weissweiler weiss, dass dies eine Legende ist, dass Tussy viel früher informiert war, und macht deshalb aus diesem Punkt nicht viel. Zweitens die auffällige „Judennase“ von Tussy (ebd., 260ff), die der Marx-Tochter Probleme bereitet haben soll, da jeder sie als Jüdin erkannt habe. Auch das fällt bei Weissweiler weg – vielleicht weil ihr der Hinweis auf Judennasen (siehe die Bemerkungen zum Zeitungsmann Levy) peinlich ist. Silberner kann sonst wie Weissweiler nur den Verdacht vorbringen, dass Tussy „in den Stunden nervöser und psychischer Krisen wahrscheinlich viel über ihre Abstammung nachgedacht und nachgegrübelt“ haben muss (ebd., 289). Diese Wahrscheinlichkeit kommt nur daher, dass der Autor selber die Abstammungsfrage für zentral hält und bei seelischen Konflikten wie selbstverständlich davon ausgeht, dass diese Frage eine Rolle spielt. Von derselben Art ist die Argumentation in Silberners Schrift „Sozialisten zur Judenfrage“. Dass sich der Vater Marx und sein Sohn Karl vom nationalreligiösen Kollektiv der Juden lossagten, kann einfach nicht konfliktfrei abgelaufen sein: „Dem heranwachsenden Knaben müssen sich wohl auch Fragen über die Bekehrung seiner Familie aufgedrängt haben. Was er als Kind darüber dachte, ist unbekannt...“ (Silberner 1962, 113). Es muss bei Marx einen „jüdischen Selbsthass“ (ebd., 114) gegeben haben. Für einen Autor, dem das Bekenntnis zur hergebrachten Religiosität bzw. Nationalität unausweichlich ist, kann die Ablösung von solchen Einstellungen nur ein problematischer Prozess sein, der eine Art Persönlichkeitsstörung nach sich zieht. Silberner hält die Abwendung des jungen Marx von seiner Herkunft daher auch für das Hauptproblem. Man könne für die späteren Schimpftiraden, die Marx vor allem im Briefwechsel mit Engels von sich gab, keine mildernden Umstände, etwa seine krankheitsbedingte Gereiztheit, gelten lassen. „Er war schon Antisemit, lange bevor seine seit etwa 1849 datierende Leberkrankheit irgendeinen Einfluss auf seine Ausdrucksweise gehabt haben könnte.“ (Ebd., 141) Dass Marx sich seit seiner Knabenzeit nicht zum Judentum bekannte, ist also schon sein ganzer Antisemitismus. So einfach geht das. Alles, was er später geschrieben oder – worauf Silberner besonderen Wert legt – nicht geschrieben hat, sei im Lichte dieser grundsätzlichen Voraussetzung des Judenhasses bzw. „Selbsthasses“ zu lesen.

(5) Oder noch nicht einmal das. Vieles war einfach banaler Sprachgebrauch der Zeit. So erinnert sich z.B. Wilhelm Liebknecht an die höchst angenehmen Sonntagsausflüge mit der Familie Marx in London, wo „gefühlvolle Lieder und … ‚patriotische' aus dem ‚Vaterland'“ gesungen wurden: „Oder die Kinder sangen uns Niggerlieder vor und tanzten auch dazu“ (Marx/Engels, Über Literatur, 1967, I, 27). Für Liebknecht ist es eine liebe Erinnerung – und nicht abwertend gemeint.

(6) Marx wurde von Vogt „als Haupt einer Erpresserbande geschildert, die davon lebe, ‚Leute im Vaterlande' [= in Deutschland] so zu kompromittieren, dass sie das Schweigen der Bande durch Geld erkaufen müssten. Es war die ärgste, aber weitaus nicht die einzige Verleumdung, die Vogt gegen Marx schleuderte. Wie durch und durch verlogen die ganze Darstellung sein mochte, so war sie doch mit allerlei halbwahren Tatsachen aus der Geschichte der Emigration so gemischt, dass sie eine genaue Kenntnis aller Einzelheiten voraussetzte, um nicht auf den ersten Blick zu verblüffen, und diese Kenntnis war am wenigsten bei dem deutschen Philister vorauszusetzen.“ (Mehring 1980, 293) Wenn man die Sache auf den Kopf stellt, kann man natürlich auch heute noch dem streitsüchtigen Menschen Marx einen Strick daraus drehen. Bernhard Wördehoff z.B. würdigt in einem liberalen Blatt 2002 den liberalen 1848er Carl Vogt: „Atheist, Kosmopolit, der witzigste Redner des Parlaments … eben auch ein Vorkämpfer der deutschen Republik, ein engagierter Linksdemokrat“; heute „erinnern sich nur noch die Naturwissenschaftler seiner − als des Geologen und Zoologen ... In Genf, vor der Universität, wo er lehrte, steht sein Denkmal; weit über hundert Titel zählt das Verzeichnis seiner wissenschaftlichen Schriften ... Die Kommunisten hassten ihn wie die Reaktionäre. Für Karl Marx in London ist Vogt bloss ein Vulgärmaterialist und kleinbürgerlicher Demokrat. Noch 1861 schleudert er ihm, den er jetzt für einen Parteigänger Napoleons III. hält, den Bannfluch hinterher: Herr Vogt betitelt er kurz und knapp seine Polemik. Kampfgenosse Friedrich Engels setzt sie 1871 erbittert fort: Abermals ‚Herr Vogt'". (Da hilft nur noch Spott! Reformunfähiges Deutschland − wie der Naturforscher und Politiker Carl Vogt das Parlament in der Paulskirche erlebte. In: Die Zeit, Nr. 13, 2012).

Wie bei Weissweiler kein Wort davon, warum Marx dem Mann etwas entgegenschleuderte. Dass es sich umgekehrt verhielt, dass Marx auf die Dreckschleuder einer ätzenden Denunziation reagierte, dass der Demokrat Vogt für die bonapartistische Autokratie (z.B. in den „Studien zur Lage Europas“ von 1859) eintrat und aus Dank zum Grossritter der französischen Ehrenlegion ernannt wurde, muss da nicht weiter interessieren. Auch nicht, worin die wissenschaftlichen Leistungen dieses Naturforschers bestehen.

Wikipedia informiert z.B. über „Vogts rassistische und sexistische Auffassungen; Vogt argumentierte dabei ‚wissenschaftlich', nämlich anatomisch. Schwarze sah er für minderwertig an, am tiefsten stehend schwarze Frauen; die beiden Endpunkte der Menschheit lagen für den Preussenhasser Vogt in den Negern einerseits und in den Germanen andererseits, eine Summe der Unterschiede, die letztlich grösser ist als diejenige der Unterschiede zwischen zwei Affenarten.“ Interessant, dass noch 150 Jahren nach diesen nun wirklich erledigten Kontroversen ein liberales Weltblatt dem liberalen Rassisten gegen den Dogmatiker Marx die Stange hält!


Literatur

Ingrid Artus u.a. (2014), Marx für SozialwissenschaftlerInnen – Eine Einführung. Wiesbaden.

Micha Brumlik (2014), Karl Marx: Judenfeind der Gesinnung, nicht der Tat War Marx Antisemit? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7, 113-120.

Hans Magnus Enzensberger (Hg.) (1981), Gespräche mit Marx und Engels. Frankfurt/M.

IVA-Redaktion (2017/18), „Marx is back“, IVA, Vol. 1-10, siehe den Start der Reihe: https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#%E2%80%9Emarx_is_back_vol_1.

Franz Mehring (1980), Geschichte der deutschen Sozialdemokratie [1898], Band 1, Berlin.

Edmund Silberner (1962), Sozialisten zur Judenfrage – Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin.

Edmund Silberner (1977), Eleanor Marx, ein Beitrag zu ihrer Biographie und zum Problem der jüdischen Identität, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Band 6, Tel Aviv, S. 259-295.

Eva Weissweiler (2002), Tussy Marx – Das Drama der Vatertochter. Eine Biographie. Köln 2002. (2018 hat die Autorin im Zuge des Marx-Jubiläums eine Neuausgabe des Buchs unter dem Titel „Lady Liberty – Das Leben der jüngsten Marx-Tochter Eleanor“ vorgelegt.)