Dimensionen der Herrschaftsordnung Für eine neue anarchistische Theorie (Teil II)

Politik

Im ersten Teil des Textes habe ich erläutert, inwiefern im Anarchismus ethische Werte, organisatorische Prinzipien und theoretische Grundsätze zusammengehören und kontinuierlich aufeinander bezogen werden.

Für eine neue anarchistische Theorie (Teil II).
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Für eine neue anarchistische Theorie (Teil II). Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

6. November 2020
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Darauf aufbauend wurden Grundüberlegungen der anarchistischen Theorie zu Pluralität, Kooperation, sozialer Singularität, freier Vereinbarung und Selbstorganisation dargestellt. Es ging darum, Herausforderungen für eine anarchistische Theoriebildung zu benennen, weil diese nicht einfach irgendwie betrieben werden kann. Anschliessend an die Erkenntnis, dass es verschiedene Herrschaftsverhältnisse gibt, die miteinander verwoben sind, wird hier nun weiter auf Beschreibungsmöglichkeiten von Herrschaft eingegangen, werden Umrisse einer anarchistischen Subjekt- und Hegemonietheorie und eines anarchistischen Politikverständnisses dargestellt um abschliessend zu diskutieren, welchen Beitrag eine anarchistische Theoriebildung leisten kann.

Dimensionen der Herrschaftsordnung

Staat, Kapitalismus, Patriarchat, Nation und Mitweltunterwerfung wurden als bedeutendste, miteinander verwobene Herrschaftsverhältnisse benannt. Sie manifestieren sich in verschiedenen Dimensionen und zwar (mindestens) in jenen von herrschenden Klassen, Herrschaftsinstitutionen, Herrschaftspersonal, Herrschaftsideologien und Herrschaftssubjekten.

Mit herrschenden Klassen sind keineswegs vorrangig wichtige Politiker*innen gemeint, sondern soziale Klassen, von denen die meisten Menschen nur aus der Zeitung hören. Wir stossen aber auch auf sie, wenn wir nachforschen, wem das Unternehmen unseres Arbeitgebers eigentlich gehört, wer die Nahrungs-, Chemie-, Öl-, Rüstungs- und Technologiekonzerne besitzt und wer hinter dieser oder jener Immobilienfirma steckt.

Materielles Vermögen, juristische und politische Macht und sozialer Status greifen hierbei erstaunlich deutlich ineinander. Einer Studie zu folge, besassen im Jahr 2000 1% der Weltbevölkerung allein 40% des weltweiten globalen Vermögens und die reichsten 10% zusammen 85,2%. Die ärmsten 50% der Weltbevölkerung verfügten dagegen zusammen lediglich über 1% des weltweiten Vermögens. Dies ist vergleichbar damit, dass von 100 Personen eine einzige 90% besitzt, während sich 99 Personen die restlichen 10% aufteilen müssen.

Diese Vermögensverteilung beinhaltet ebenfalls eine Ahnung davon, wer den gesellschaftlichen Reichtum eigentlich für welchen Lohn produziert und wohin er wandert. Keine Sklavenhalter-Gesellschaft der Mensch-heitsgeschichte konnte die Ausbeutung menschlicher Arbeit und der Mitwelt sowie die Reichtumsverteilung an eine winzige Elite je so umfassend, nachhaltig und stabil organisieren, wie der neoliberale Kapitalismus seit den 1970er Jahren.

Diese ökonomische Elite, die zugleich soziale, geschlechtliche und kulturelle Normen massgeblich mitbeeinflusst und einen gigantischen Einfluss auf die Politik der Nationalstaaten hat, tut alles daran, um ihre angemassten Privilegien auf die Ewigkeit militärisch und juristisch zu zementieren und Normalsterbliche von sich fern zu halten. Unbegreiflich, dass viele proletarisierte Menschen dennoch an das Märchen von der fleissigen Erarbeitung eines sozial relativ abgesicherten Zustandes glauben, anstatt sich zu nehmen, was ihnen zusteht!

Als Herrschaftsinstitutionen fallen zunächst alle staatlichen Institutionen ins Auge, da es die Besonderheit des politischen Herrschaftsverhältnisses ist, die anderen Herrschaftsverhältnisse zu strukturieren. Die bekannten Formen staatlicher Institutionen beziehen sich auf die Funktionen der Legislative, Exekutive und Judikative.

Der moderne Staat unterhält eine Vielzahl von Institutionen um in so gut wie alle gesellschaftliche Bereiche und individuelle Lebensverhältnisse eingreifen zu können. Anhand staatlicher Ministerien, ihrer Referate und ihres jeweiligen Finanzbedarfs lässt sich gut nachvollziehen, in welche Bereiche staatliche Institutionen eingreifen. Dazu monopolisiert der Staat das Recht auf die Anwendung von Gewalt und ihre Mittel – nach innen in Form der Polizei, nach aussen in Form des Militärs. Der historisch überlebte Staat gilt als ein Zusammenschluss von bürokratischen, militärischen, politischen und religiösen Institutionen.

Allein ihre schiere Grösse bringt es mit sich, dass in staatlichen Institutionen die Interessen unterschiedlicher sozialer Klassen und Gruppierungen vertreten sind, die teilweise auch in Konflikte zueinander treten. Verbunden werden sie allerdings in ihrer direkten Herrschaft über Arme, Ausgegrenzte und Nicht-Bürger*innen und dem Anspruch, „rational“ zu herrschen. Doch auch die anderen Herrschaftsverhältnisse sind teilweise institutionalisiert. Die Golfclubs der Reichen sind eine Institution für wenige. Die patriarchale Kleinfamilie ist eine gesellschaftliche Institution für sehr viele.

Auch in Hinblick auf das Herrschaftspersonal ist es naheliegend zunächst an die Beamt*innen in staatlichen Institutionen zu denken. Eine ungeheure Anzahl von Menschen ist mit der Verwaltung von anderen Menschen beschäftigt, damit diese lohnarbeiten können, ihre Steuern bezahlen, sich sozial verträglich verhalten und alles in allem konforme Staatsbürger*innen bleiben.

Darüber hinaus können auch viele Journalist*innen und Kulturschaffende als Teil des Herrschaftspersonals gelten, auch wenn sie zu sehr unterschiedlichen Graden mit diesem verbunden sind. Historisch nahmen auch viele Schichten des Klerus Funktionen des Herrschaftspersonals wahr. Das Herrschaftspersonal befindet sich in hierarchisch-en Institutionen, in denen es Gehorsam leistet und Loyalitätsnetzwerke pflegt um darin aufzusteigen. In der Regel wird dadurch ein reibungsloser Ablauf der gesellschaftlichen Maschine ermöglicht.

Da Herrschaft nicht naturgegeben ist, sondern von Menschen entwickelt und anderen Menschen aufgezwungen wurde, entstanden seit ihren Anfängen Ideologien, um sie zu legitimieren, sie als gut und alternativenlos zu behaupten. Eine der grundlegendsten Ideologien ist jene, dass Menschen ohne Herrschaft gar keine Gesellschaft bilden könnten, sondern sich gegenseitig umbringen würden. Ideologien sind erforderlich um die angebliche Ungleichwertigkeit der Menschen, sei es in einer sexistischen, rassistischen oder klassistischen Hinsicht zu begründen und zu rechtfertigen.

Ideologien führen dazu, dass ein grosser Teil der Bevölkerung morgens auf Arbeit geht und sich moralisch schlecht fühlt, seinen Urlaubsanspruch einzufordern oder krank zu machen. Überhaupt ist das moralische Gewissen weitgehend von Norm- und Wertvorstellungen geprägt, die dazu dienen, die bestehende Herrschaftsordnung aufrechtzuerhalten und die privilegierten Klassen in ihren Machtpositionen zu festigen. Traditionell spielten Religionen in diesem Zusammenhang eine grosse Rolle – und tun es heute, wenn auch in gewandelter Form, oftmals immer noch.

In modernen westlichen Gesellschaften wurde jedoch auch der Individualismus zu einer Ideologie. Und Ideologien sind erforderlich, um eine Kompensation für die erfahrene Zurücksetz-ung und eine Erklärung für soziales und psychisches Elend zu finden, indem die Schuld an der eigenen Lebenssituation oder gesellschaftlichen Problemen entweder bei einen selbst oder bei stigmatisierten Gruppen gesucht wird. Anhand des Antisemitismus' lässt sich insbesondere nachvollziehen, wie gravierend der ideologisch kanalisierte Vernichtungsdrang von Menschen werden kann, als auch, wie eng Ideologie und Wahn ineinandergreifen.

Subjekte von Herrschaft sind wir alle. Alle Menschen in herrschaftsförmigen Gesellschaften werden von dieser direkt oder vermittelt unterworfen und geformt (s.u.). Daher sind Vorstellungen davon, wie wir ohne Herrschaft geworden wäre, reine Spekulationen, denn auch im Widerstand gegen Herrschaft, formen wir uns in Auseinandersetzung, Abgrenzung und Bezug auf diese. Eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann nicht primär über die Veränderung der Subjekte gelingen, da ihre Formung materielle und soziale Grundlagen hat, die zunächst verändert werden müssten.

Gleichzeitig sind wir nicht einfach Produkte von Herrschaft, sondern haben (zu sehr unterschiedlichen Graden) Einfluss darauf, wie wir uns formen lassen und wie wir damit umgehen. Aus diesem Grund ist es eine sehr schwierige Frage, in welcher Hinsicht wir Menschen als verantwortlich für ihre Handlungen und ihre Seinsweise machen können und innerhalb welchen Rahmens sie sich emanzipatorisch verändern können. Subjektivierung kann je nach sozialer Klasse, Milieu und Geschlecht sehr verschieden aussehen. Sie geschieht unter widersprüchlichen Anforderungen, sodass auch Aspekte, die zeitweise dienlich zur Funktionsweise der Herrschafts-ordnung waren, sie unter anderen Umständen blockieren können.

Die Parallelität verschiedener gesellschaftlicher Verhältnisse

Nach der Darstellung verschiedener Herrschaftsverhältnisse und der Dimensionen von Herrschaft entsteht möglicherweise bei den Lesenden ein Gefühl, völlig erschlagen und ohnmächtig gegenüber gesellschaftlicher Herrschaft zu sein. Dies wäre zumindest verständlich und berechtigt. Mit anarchistischer Theorie sind Herrschaftsverhältnisse in ihren verschiedenen Facetten und Dimensionen zu untersuchen, zu beschreiben und zu benennen, damit sie überhaupt angegriffen und umgangen werden können. Gleichzeitig sahen Anarchist*innen es nie als ihre Aufgabe an, utopische Gesellschaften am Reissbrett zu entwerfen, sondern waren sie solchen Entwürfen gegenüber im Gegenteil äusserst skeptisch, weil mit ihnen Anarchie auf ein blosses Ideal reduziert wird und Utopien zur Rechtfertigung totalitärer Programmen dienten.

Damals wie heute sahen und sehen kritisch und widerständig eingestellte Menschen konkrete Probleme, gegen die es anzukämpfen gilt. In der Negation des Schlechten liegt zugleich eine Vorstellung des Guten begründet, welches wir ausweiten und verwirklichen wollen. Trotzdem ist Anarchismus vor allem ein konstruktives Projekt und muss es umso mehr sein, da es in unserer Zeit aktuell keine grossen Erzählungen darüber gibt, wie die bestehende Gesellschaft in Richtung eines libertären Sozialismus' transformiert werden könnte. In diesem Zusammenhang besteht eine bedeutende anarchistische Annahme darin, dass Herrschafts-verhältnisse zwar dominant, aber nicht allein existent oder gar allmächtig sind.

Die Öffentlichkeit lässt sich auch ohne politisches Herrschaftsverhältnis, nämlich egalitär, konsensual und partizipatorisch organisieren. Die Ökonomie kann auch dezentral-sozialistisch in Form einer Vielzahl von miteinander vernetzten Kooperativen und Kollektivbetrieben organisiert werden. Das heteronormative-sexistische Geschlechterverhältnis ist kein Naturgesetz, sondern kann unterschiedlichsten Formen geschlechtlicher Selbstbeschreibungen und sexueller Orientierungen, sowie der Freiheit, sich nicht definieren zu müssen, weichen.

Das Konstrukt Nation kann theoretisch und auch ganz praktisch aufgelöst werden, wenn klargemacht wird, dass die Bevölkerung in einem Landstrich schon immer ganz unterschiedlich war und dies kein Kriterium für ihre freiwillige Zugehörigkeit zu Kollektiven bildet. Die Naturbeherrschung schliesslich kann mit einer Infragestellung des anthropozentrischen Weltbildes überwunden werden, indem wir begreifen und erfahren, dass wir tatsächlich mit allen Lebewesen verbunden sind und die Isolierung des Menschen als Spezies uns selbst nicht gut tut.

Glücklicherweise bewegen sich Menschen täglich und massenweise in ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen als in den dominierenden der Herrschaft. Angesichts der multiplen Krisenerscheinungen unserer Gesellschaften sollte die Frage nicht lauten: „Warum bricht eigentlich nicht alles zusammen?“, sondern: „Warum wird alles soweit aufrechterhalten?“ Dies beinhaltet, dass Menschen die gewohnte und mächtige Herrschaftsordnung teilweise freiwillig zustimmend mittragen.

In diesem Gedanken steckt aber ebenfalls die Einsicht darin, dass viele Menschen jeden einzelnen Tag auf eine egalitäre und solidarische Weise erst die Gesellschaft erzeugen, welche durch die Herrschaftsordnung kolonialisiert wird. Es sind nicht nur blosse Zwänge und Ängste, die Menschen „weitermachen“ lassen, sondern auch die Erfahrungen, dass ihr Leben nicht allein durch Herrschaftsverhältnisse strukturiert ist. Von etwas anderem können wir nicht ausgehen, wenn wird annehmen, dass eine neue Gesellschaft nur aus der alten entstehen kann.

Im Unterschied zum Marxismus besteht anarchistische Theorie darauf, dass es nicht erst des modernen Staates, des Kapitalismus, des Patriarchats bedarf, um darauf aufbauend in den Sozialismus einzutreten. Vielmehr gilt es nach gesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen, die parallel zu diesen existieren und davon ausgehend radikale und emanzipatorische Veränderungen anzustreben. Ob sie nun „Hubs“, „Keimzellen“, „Zwischenräume“ oder „Freiräume“ genannt werden ist dabei zweitrangig. Wichtig ist allerdings, sie nicht vorrangig in links-alternativen Szenen zu suchen, sondern sich bewusst aus diese heraus zu begeben, wenn es darum geht, parallel existierende gesellschaftliche Verhältnisse aufzuspüren. Übrigens sind diese stets kritisch zu überprüfen und zu hinterfragen.

Immerhin gibt es leider auch zahlreiche antiemanzipatorische Gruppen und Bewegungen, welchen andere Gesellschaftsmodelle vorschweben, die sie ebenso im Kleinen verwirklichen wollen, seien es Reichsbürger*innen, fundamen-talistische Gläubige oder auch Marktradikale. Es ist klar, dass diese keine Ausgangsbasis für eine soziale Revolution darstellen, auch wenn sie parallele Verhältnisse herstellen und sich teilweise sogar der Freiraum-Rhetorik bedienen – wenngleich sie bei näherer Betrachtung ebenfalls herrschaftsförmig sind.

Oftmals fällt es uns schwer, echte emanzipatorische gesellschaftliche Alternativen in unseren Projekten oder denen anderer zu sehen. Es stimmt, sie scheinen nicht viele zu sein und wo es sie gibt, funktionieren sie auch oft nicht besonders gut. Dies spricht andererseits aber nicht dagegen, sich mit ihnen zu beschäftigen und Potenziale in ihnen zu sehen. Sozialdemokratische Parteipolitik und kommunis-tische Avantgarde-Ansätze eignen sich aus anarchistischer Perspektive für die soziale Revolution jedenfalls keineswegs besser.

Gestaltung unserer Seinsweisen: Anarchistische Subjekttheorie

Als Subjekt wird die gesellschaftliche Form bezeichnet, welche Menschen in einer bestimmten Gesellschaftsform annehmen sollen bzw. müssen, um in dieser als anerkannt zu gelten und handlungsfähig zu sein. Menschen gehen nicht in dieser Subjektform auf, zumal sie widersprüchlich ist und nicht einmal feststeht, sondern fortwährend aufs Neue erzeugt werden muss. Dennoch formen die Vorstellungen und Anforderungen der Herrschaft uns nicht lediglich in unserem Verhalten anderen gegenüber, sondern erzeugen unsere ganze Persönlichkeit mit, sodass auch unser Fühlen und Unbewusstes von ihnen durchdrungen und kaum ohne sie vorstellbar ist.

In der „bürgerlichen“ Gesellschaft gilt das bürgerliche Subjekt als dominante Subjektform. Darüber hinaus existieren auch zahlreiche andere Subjektformen, wie proletarische, migrantische oder homosexuelle Subjekte. Entscheidend ist, dass sie gezwungen sind, sich in Abgrenzung und Bezug zur dominanten Subjektform zu definieren.

Tatsächlich entsprechen die allermeisten Menschen gar nicht den Standard-vorstellungen von hetero-normativen, leistungsstarken, weissen usw. Personen. Die meisten ringen damit, sich selbst in Bezug auf gesellschaftlich dominante Normen zu definieren oder sich von ihnen abzugrenzen. Dementsprechend führt die Nichterfüllung der Anforderung an das eigene Subjektsein keineswegs zwangsläufig zu einer emanzipatorischen Haltung, also zu einer Infragestellung der gesellschaftlichen Form Subjekt überhaupt und seiner eigenwilligen Gestaltung. Oftmals ist es eher der Fall, dass Menschen, die sich als Subjekt nicht passend oder anerkannt fühlen, umso mehr dafür tun müssen, um sich entsprechend zu formen.

Das geht beim Bodybuilding oder Schminken los, zum Beispiel über in eine hochtrabende Sprache, dem Exhibitionismus in sozialen Netzwerken oder der permanenten Rede von den letzten Urlauben. Selbst-verständlich ist es ihr Ding, wie sich Menschen kleiden, reden oder womit sie sich beschäftigen. Leider geschieht Subjektivierung, also die Fremd- und Selbstform-ung von Menschen, jedoch nicht als Hobby, sondern unterliegt enormen gesell-schaftlichen Zwängen. Sie wirkt in Abgrenzungen und Isolierung zu Anderen und bedient sich oftmals ihrer Abwertung anhand vorgegebener hierarchischer Muster. Mit ihr werden eigene Persönlichkeitsanteile abgespalten oder unterdrückt, weil sie als unpassend empfunden werden. Und sie erweckt in uns die Vorstellung, dass wir für unseren sozialen Status und unser Glück selbst verantwortlich sind, ebenso wie alle anderen jeweils für sich, anstatt unseren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu richten, welche erst bestimmte Subjektformen hervorbringt, denen wir entsprechen sollen.

Ich habe schon erwähnt, dass eine anarchistische Subjekttheorie nicht davon ausgeht, dass Menschen in der Subjektform aufgehen, sondern sich auch in eine kritische Distanz zu ihren Zuschreibungen, ihrer Selbstdarstellung, ja auch zu ihren Gedanken und Gefühlen begeben können. Dies ist die Grundlage dafür, dass wir Menschen – mit ihren jeweiligen Vorgeschichten, Prägungen und Zwängen - durchaus als für ihr Handeln verantwortlich ansehen und auf die Möglichkeit ihrer schrittweisen Veränderung bauen. Anarchismus ist jedoch kein Selbstfindungsprojekt, sondern will vorrangig die gesellschaftlichen Umstände ändern, unter denen Menschen geformt werden, sowie Orte schaffen, in denen sie ohne Angst verschieden sein können.

Denn die Erfahrung unserer eigenen Pluralität und Andersartigkeit ist eine wesentliche Grundlage, um einen emanzipa-torischen Umgang mit Menschen zu finden, die ja alle in einer herrschafts-förmigen Gesellschaft sozialisiert und von ihr geformt sind. „Selbstveränderung“ wird in anarchistischer Theorie nicht isoliert betrachtet, sondern geschieht dort, wo Menschen sich in Opposition zur dominanten Subjektvorstellung verorten, über sie reflektieren und gegen sie rebellieren. Emanzipation ist ein Vorgang, der mit konkreten Menschen zu tun hat und auf der Hoffnung beruht, dass es für sie persönlich und viele andere die Chance auf ein besseres, abgesichertes, selbstbestimmtes Leben gibt.

Dies ist keine Erfahrung, die wir vorrangig oder überhaupt mit uns allein machen können, sondern sie findet stets in Auseinander-setzung mit Anderen statt. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, vereinzelte Individuen zu sein, wie der Liberalismus uns weiss machen will und als die der Staat uns in Geiselhaft nimmt. Stattdessen können wir lernen, miteinander und mit Menschen anderer Generationen und der nicht-menschlichen Welt verbunden zu sein. Diese Verbindungen sind nichts an sich Gutes, denn darunter sind sicherlich viele Menschen, mit denen wir uns nicht freiwillig assoziieren würden.

Deswegen ist die Abwehr gegenüber Zwangsgemeinschaften wie beispielsweise dem „Volk“ sehr verständlich. Gerade weil wir mit Allen verbunden sind (auch wenn es sich oft nicht so anfühlt), funktioniert Emanzipation jedoch nicht individuell, sondern nur kollektiv. Dies ist die Grundlage dafür, damit Menschen ihrer Beherrschung in Form der „freiwilligen Knechtschaft“ nicht mehr zustimmen, sondern ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Kooperation erlernen.

An, für und wider sich: Anarchistische Klassentheorie

Miteinander oft unfreiwillig verbunden sind Menschen aufgrund verschiedener Lagen. Dazu gehört auch die Kategorie der „Klasse“. Gelebte und verbreitete Anarchie ist klassenlose Gesellschaftlichkeit. Dies ist weniger eine Frage der Haltung oder der Sensibilisierung für diskriminierenden „Klassismus“. Vielmehr geht es um die Aneignung, Umverteilung und Vergesellschaftung von Produktions- und anderen Lebensmitteln.

Klassenpositionen sind äusserst wirkmächtig und es ist für Menschen einer Klasse - entgegen der Behauptung der tausend Möglichkeiten oder der Ideologie der „rechtschaffenden Arbeit“ -, in der Breite betrachtet, kaum möglich, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. Die Verfügung über Kapital lässt sich zu einem grossen Teil über Vermögenswerte und Einkommen bestimmen, deren ungleiche Verteilung sowohl global gesehen, als auch innerhalb der meisten volkswirtschaftlichen Zonen einfach ungeheuerlich ist – gemessen daran, dass der gesellschaftliche Reichtum von allen arbeitenden Menschen gemeinsam produziert wird.

Dennoch wird mit der anarchistischen Klassentheorie nicht von einem einfachen Verhältnis von „oben“ und „unten“ ausgegangen. Auch Bildung, Wissen, Kultur und Kontakte sind in der kapitalistischen Gesellschaft wichtige Ressourcen, die freilich umso besser erworben werden können, je mehr Geld Menschen haben. Dennoch ist der Blick dafür zu schärfen, dass Klassen - die sich aus der sozialen Struktur der Gesellschaft nach ihrem Kapitalbesitz bestimmen lassen -, in sich heterogen und deswegen auch widersprüchlich sind.

Vereinfacht gesagt gibt es eben progressive und reaktionäre Kapitalist*innen, konservatives und liberales Bürgertum, sozialistisches und Faschismus-affines Proletariat. In der Realität aber noch vieles dazwischen. Aus der Eigentumsverteilung leitet sich nicht direkt die soziale Struktur und weiterhin nicht das Bewusstsein eines bestimmten sozialen Milieus oder einer Gruppe darin ab. Die Rechtspopulist*innen setzen bewusst auf eine rassistische Vorstellung von „Kulturkampf“, um von den objektiv bestimmbaren Klassengegensätzen abzulenken oder diese autoritär zu vermitteln.

Der Arbeiterin, die sich selbst rechts positioniert und rassistische, homophobe und sexistische Ressentiments hat, kann deswegen nicht einfach ein vermeintlich „falsches Bewusstsein“ unterstellt werden. Im Gegenteil, kann sie verschiedene Interessen haben, mit denen sie sich gegen wahrgenommene „Ausländer“ oder „Andere“ richtet und sie ausgrenzt. Diese haben materielle, aber auch soziale und psychologische Gründe. Es gilt also genau hinzuschauen, in welchen Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie sich Menschen befinden, dann aber auch ihr Lebensumfeld und ihre Biografie zu betrachten, um ihre Einstellungen zu verstehen. In der Regel stellt sich dabei heraus, dass dies sehr kompliziert und widersprüchlich ist.

Mit der anarchistischen Klassentheorie wird davon ausgegangen, dass verschiedene soziale Gruppen sich zusammenschliessen und verbünden müssen, um die Klassengesellschaft anzugreifen, abzubauen und schliesslich zu überwinden. Dies ist also prinzipiell auch mit Menschen möglich, die einen privilegierten Hintergrund haben. Wenn sie sich sozial-revolutionär ausrichten, werden sie jedoch auch zwangsläufig ihre privilegierten Positionen verlassen.

Auch wenn die heutige Gesellschaft tatsächlich sehr komplex ist, waren die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen der Armen auch in früherer Zeit keineswegs ein einheitlicher Block, sondern ein buntes Gemisch aus verschiedensten Leuten. Das Proletariat, von dem Marxist*innen oft so gern sprachen, bestand in auch in der Vergangenheit keineswegs vorrangig aus weissen, männlichen, einheimischen, heterosexuellen Fabrikarbeiter, sondern aus Leuten verschiedenster Herkunft, Geschlechtsidentitäten und Orientierungen, die sich mit prekären Jobs durchschlugen, so gut es eben ging – weil sie oftmals schlichtweg dazu gezwungen waren.

Im Marxismus soll daher diese diffuse Masse von unterschiedlichen Menschen (einer Klasse „an sich“) entlang eines wichtigen Unterdrückungsverhältnisses, nämlich der ökonomischen Position, zu einer Klasse „für sich“ geschmiedet werden. Dieses Anliegen beinhaltet jedoch, dass ein Zusammenschluss verschiedener unterdrückter und ausgebeuteter Gruppen sich nicht einfach von selbst ergibt, sondern politisch durch kontinuierliche Basisorganisierung und Bewusstseinsbildung herzustellen ist. Um eine blosse Masse von Menschen zu versammeln, wie es sozialistische und kommunistische Parteien taten, um sie anzuführen, reduzierten ihre Ideolog*innen daher die gesellschaftlichen Antagonismen auf einen einzigen und fügten dann noch eine vermeintliche „historische Mission“ des Proletariats hinzu, deren Auslegung sie wiederum für die anderen vornahmen.

Anarchistische Klassentheorie geht hingegen von der Selbstorganisation verschiedener Gruppen aus, die in ihrer Unterschiedlichkeit zusammenkommen, sich verbünden und ermächtigen, um sich gegen die Privilegierten und Mächtigen zu wehren und für eine egalitäre, klassenlose Gesellschaft zu kämpfen. Gerade aufgrund der gesellschaftlichen Spaltungen sind die dafür benötigten Ressourcen (Geld, Zeit, psychische Stabilität, Bildung, Wissen, Kontakte usw.) jedoch sehr ungleich verteilt. Deswegen ist es so, dass Leute eben nicht einfach „automatisch“ den Arsch hochkriegen oder mit einer sozialistischen Intention für ihre eigenen Interessen kämpfen.

Im Gegenteil ist es dazu erforderlich, dass Aktive langwierige und mühevolle Basisarbeit betreiben, damit sich Menschen versammeln, organisieren, ihr Bewusstsein bilden und kämpfen können. Erst durch die Wahrnehmung der jeweiligen Unterschiede, wird beispielsweise Arbeiter*innen bewusst, dass die rassistische Diskriminierung letztendlich darüber hinweg-täuscht, dass ihre Klassenlage dieselbe ist und dies für ihre gemeinsame Emanzipation weit wichtiger ist, als irgendwelche Unterschiede in ihrer Herkunft.

In „der“ Linken gibt es eine ausgiebige Debatte darüber, dass diese „vergessen“ hätte, Arbeiter*innen zu organisieren oder auch in proletarischen Vierteln und Milieus kaum mehr verankert wäre. Dies stimmt zum Teil, insofern sich progressive Teile „der“ Linken verstärkt anderen Themen als Klassenfragen gewidmet und teilweise eher „liberale“, sogenannte „Identitätspolitik“ betrieben haben. Zum Teil ist diese Erzählung aber völliger Quatsch, weil sie als ein arroganter moralischer Vorwurf von Leuten an andere wirkt, die dann bitte (endlich wieder) die notwendige Basisarbeit machen sollen.

Hierbei fehlt das eigene Bewusstsein darüber, selbst zugleich akademisiert und proletarisiert zu sein sowie darüber, das andere zugleich proletarisiert und konservativ sein können. Ein grosser Teil derjenigen, die sich explizit als „Anarchist*innen“ bezeichnen, kommt ebenfalls aus solchen Widersprüchen nicht heraus, weil er einem mehr oder weniger „deklassierten“ links-liberalem Kleinbürgertum entstammt. Wenngleich dies nicht für alle gilt, prägen solche Hintergründe die jeweilige Sprache und Kultur einer Szene stark, weswegen Menschen wiederum (meist ungewollt) von ihr ausgeschlossen werden – obwohl sie ein grosses Interesse haben, sich zu ermächtigen.

Da Anarchist*innen die Klassenherrschaft abschaffen wollen, sind sie gefragt, ihre eigene Begrenzung stückweise zu überwinden und mit Menschen in Kontakt zu treten, die weniger Privilegien und Ressourcen als sie haben. Dies ist jedoch weniger ein individueller Akt, sondern eher ein Verhalten des kollektiven Exodus aus bestimmten Klassenpositionen mit möglichst vielen, die versuchen, sich den Klassenspaltungen zu verweigern und an ihrer Stelle egalitäre, solidarische Strukturen aufzubauen.

Populär gegen Hegemonie! - Anarchistische Hegemonietheorie

Ein weiterer wichtiger Baustein für die Erneuerung anarchistischer Theorie scheint mir die Auseinandersetzung mit Hegemonietheorien zu sein. Unter „Hegemonie“ wird ein politisch-kultureller Zustand verstanden, in dem ein politisches Projekt die Zustimmung der Beherrschten hergestellt und Kompromisse zwischen gegensätz-lichen Interessen herrschender Klassen wie auch mit den direkt unterworfenen Klassen geschlossen hat. Dazu gibt es verschiedenste althergebrachte und neu entwickelte Herrschaftstechniken, wie etwa das Versprechen von physischem Schutz, materieller und beruflicher Absicherung, öffentlicher Würdigung, die Einbindung der sogenannten „Zivilgesellschaft“, die partielle Zulassung von Kritik am Herrschaftsstil und dergleichen.

Ziel ist also nicht eine perfekte, alles durchdringende Kontrolle, sondern vor allem die Garantie der Aufrechterhaltung des status quo – wozu mitunter auch gewisse Veränderungen in der Herrschafts-ordnung vorgenommen werden müssen. Wichtig hierbei ist, dass Hegemonie nicht zuerst auf der politischen Ebene hergestellt wird, sondern auf jener der Kultur. Dies geschieht durch die sogenannte Zivilgesellschaft, welche bestimmte politische Projekte hervorbringt und mitträgt. Die Herstellung von „Konsens“ in Demokratien sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass grundlegend auch weiterhin Zwang und Gewalt angewandt und mit ihnen gedroht wird.

Insofern Anarchist*innen Herrschaft an sich ablehnen und sich deswegen auch keiner Herrschaftsmittel bedienen, richten sie sich ebenfalls gegen Strategien, welche die Erringung von Hegemonie zum Ziel haben. Beim anarchistischen Verständnis von Konsens geht es - idealtyptisch - nicht um die Einbindung der Konkurrent*innen indem ihnen Zugeständnisse gemacht und Kompromisse geschlossen werden. Vielmehr werden echte gemeinsame Positionen und Handlungsweisen herausgearbeitet, die jedoch immer wieder neu zur Verhandlung gestellt werden können und nur zu dem Grad wirkmächtig werden, wie sie tatsächlich von den Beteiligten mitgetragen werden.

Dennoch geht es in anarchistischen Strategien oftmals darum, zumindest in einzelnen Stadtvierteln eine Basispolitik von unten zu machen und die dort lebenden Menschen zu organisieren und zu agitieren. Es ist (meiner Ansicht nach) richtig und erforderlich, dass wir mehr werden müssen, wenn wir den Anspruch haben, zur sozialen Revolution beizutragen und anarchistische Vorstellungen in sie hineinzutragen. Ebenso finde ich nichts Falsches oder an sich Problematisches dabei, Menschen zu prägen, zu überzeugen und einzuladen. Ja, wir sollten uns Macht aneignen, um egalitäre und solidarische gesellschaftliche Verhältnisse zu stärken und auszubauen.

Die kritische Frage an dieser Stelle lautet, wann Macht zu Herrschaft wird und ab wann ein populäres (also nicht szene-mässig elitäres) anarchistisches Projekt dahin tendiert, hegemoniale Praktiken anzuwenden um bestimmend und führend zu werden. Diese Gefahr liegt im Moment noch in weiter Ferne. Dennoch ist die Frage theoretisch wichtig, weil sie beinhaltet, wie wir uns in unserem täglichen Handeln ausrichten.

Richard Day hat in diesem Zusammenhang ein wertvolles Buch geschrieben, in welchem er beschreibt, dass der radikale Flügel der globalisierungskritischen Bewegung sich faktisch nicht-hegemonial und anti-hegemonial organisiert und entsprechende Praktiken hervorbringt. Dies stellt einen sinnvollen Ansatz dar, weil der Anspruch, ein grösseres Projekt mit Vielen damit nicht aufgegeben, sondern von anarchistischen Prinzipien der Dezentralität, Autonomie, Horizontalität usw. ausgehend, aufgemacht wird.

Heruntergebrochen bedeutet dies, dass ein Verständnis, wie die Herstellung von Hegemonie funktioniert sehr aufschlussreich für Anarchist*innen sein kann. Damit können sie sich die Frage stellen, wie sie eine (Anti-)Macht organisieren, mit welcher die hegemoniale Orientierung politischer Projekte gebrochen und unterlaufen werden kann. Ein anarchistisches Verständnis von Hegemonietheorien macht somit denkbar, dass sich ein libertärer Sozialismus Macht aneignen kann, ohne Herrschaft auszuüben und dass soziale Revolutionär*innen in ihm Orientierung geben können, ohne deswegen die Führung zu übernehmen.

(Anti-)Politik als anarchistisches Politikverständnis

Bei der knappen – und deswegen verkürzten - Darstellung einer anarchistischen Perspektive auf die Subjekttheorie und die Hegemonietheorie wurde jeweils schon deutlich, dass mein Ansatz darin besteht, anarchistische Theorie (und auch Praxis) als ein Denken und Handeln in Paradoxien anzusehen. Dies ist meiner Ansicht und Erfahrung nach eine sinnvolle Möglichkeit, mit den gesellschaftlichen Widersprüchen auf eine produktive und emanzipatorische Weise umzugehen. Nur, wenn wir die durch sie entstehenden Spannungen aushalten und weiterentwickeln können, ist es uns möglich, eine radikale Ethik, Organisation und Theorie zu entwickeln. Eine offene Frage scheint mir jedoch zu sein, ob Anarchist*innen eine radikale Politik vertreten oder ob sie nicht vielmehr eine radikale Kritik des Politischen entwickeln, deswegen selbst auch gar keine Politik betreiben, sondern bewusst anti-politisch handeln.

Unter „Politik“ verstehe ich in diesem Zusammenhang den Modus des Aushandelns konträrer Interessen verschiedener sozialer Gruppen in einer durch Herrschaftsverhältnisse vielfach gespaltenen („antagonistischen“) Gesellschaft. Die jeweiligen politischen Gruppierungen und Projekte verfügen dabei zu sehr unterschiedlichem Grad über ökonomische, kulturelle, symbolische und politische Macht um allgemein verbindliche Entscheidungen herbeizuführen, zu beeinflussen oder zu verhindern. Das heisst Politik findet immer auf einem durch Macht charakterisierten und geformten politischen Feld statt, dessen Gestalt selbst Ergebnis von sozialen Kämpfen ist.

Sie manifestiert sich in bestimmbaren Institutionen und Abläufen, die durch frühere politische Kämpfe geformt wurden. „Radikale Politik“ - jeglicher politisch-weltanschaulicher Ausrichtung - tritt mit dem Anspruch auf, nicht nur im Spiel der politischen Auseinandersetzungen zu partizipieren, sondern die Bedingungen zu verändern, nach denen Politik selbst funktioniert. Sozial-revolutionäres Handeln zielt hingegen nicht auf „mehr“, „andere“, „direktere“ oder „echtere“ Politik (und Demokratie), sondern im Gegen-teil auf die Begrenzung und perspektivische Überwindung von Politik zugunsten dezentraler, horizontaler, freiwilliger, föderaler und autonomer Organsationsmodi.

Weil dies freilich nur gemeinsam mit der Überwindung der antagonistischen herrschaftsförmigen Gesellschaft gelingen kann, sind Anarchist*innen nicht „unpolitisch“ und nur manchmal „apolitisch“, sondern „anti-politisch“: Sie arbeiten sich notgedrungen an politischen Prozessen ab (neue Gesetze, Haushalts-beschlüsse, Wahlen, Skandale usw.) und bedienen sich widerwillig bisweilen politischer Mittel und Ausdrucksformen (angemeldete Demonstrationen, Bürger* inneninitiativen, formelle Presseerklärungen, bestimmte Forderungen etc.).

Anarchistische Anti-Politik bezeichnet eine radikale Kritik am Politikmachen (den Machtkämpfen, der Verlogenheit, den faulen Kompromissen...), dem auch Irgendwie-Linke und Sozialdemokrat*innen fast vollständig verfallen sind. Mit Anti-Politik wird aufgezeigt, dass es viele andere Möglichkeiten gibt, wie wir Miss-stände thematisieren, uns gegen sie organisieren und gegen sie vorgehen kön-nen. Im weiteren Sinne steht dafür der anarchistische Begriff der direkten Aktion. Mit direkten Aktionen wird nicht auf vermittelnde (Zwangs-)Institutionen zurück-gegriffen oder an sie appelliert, werden keine Menschengruppen für bestimmte Interessen instrumentalisiert, sondern stattdessen ihre Ermächtigung und Selbstorganisation gefördert.

In direkten Aktionen spiegeln sich jedoch auch Vorschläge, wo es hingehen kann. Sie verkörpern die ethischen Werte und emanzipatorischen Inhalte, für die sie eintreten und entstehen aus Organisations-formen, mit welcher die angestrebte kommende Gesellschaft vorweggenommen werden soll. Tatsächlich gäbe es in einer vollständig verwirklichten Anarchie keine Politik (im oben beschriebenen Sinne) mehr. Konflikte (die weiterhin bestehen werden, aber viel weniger bedrohlich wären) würden durch andere Formen von Aushandlungsprozessen entspannt und in Institutionen bearbeitet werden, die sich beispielsweise an Konzepten von Rätesystemen orientieren.

Da wir die Bedingungen unseres Handelns jedoch nicht frei wählen können, sondern – zumindest teilweise - auf gegebene Bedingungen der bestehenden hierarchischen Gesellschaft zurückkommen müssen, selbst wenn wir für die Anarchie streiten, bewegen sich Anarchist*innen in einem Widerspruch. Im Unterschied zu anderen Sozialist*innen und auch den meisten Linksradikalen, sehen sie nicht ein, einfach die bittere Pille zu schlucken und „radikale Realpolitik“ zu betreiben. Andererseits bestätigt es zwar das eigene Ego, vermeintlich radikal und konsequent zu sein, etwa indem Politik vollständig abgelehnt wird.

Dies bringt jedoch insbesondere von Herrschaftsverhältnissen schwer betroffene Menschen wenig weiter, die wir unmöglich auffordern können, sich „für die Sache“ zu opfern, sondern deren Sache es vielmehr sein sollte, dafür zu kämpfen, dass sich ihre Lebenssituationen und -umstände spürbar zum Besseren verändern. Dies ist der Grund, warum Anarchist*innen meiner Ansicht und auch meiner Wahrnehmung nach in-gegen-und-jenseits von Politik agieren und diesen Widerspruch nur im Zuge der radikalen strukturellen Erneuerung der Gesellschaft minimieren können. Um dies zu beschreiben, sinnvoll zu thematisieren und - darauf aufbauend - weiterentwickeln zu können, schlage ich vor, in der anarchistischen Theorie den Begriff (Anti-)Politik zu verwenden.

Das Streben nach Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstorganisation als gemeinsame Grundlage im Anarchismus

Wie eingangs anhand des Schemas veranschaulicht wurde, steht Anarchismus nicht für irgendwas, sondern für bestimmbare ethische Werte, Organisations-prinzipien und theoretische Grundsätze, die aus jahrzehntelangen Erfahrungen in sozialen Bewegungen gewonnen wurden und miteinander im Zusammenhang stehen. Auch wenn alle diese Aspekte gleich wichtig sind, scheint es mir dennoch so zu sein, dass die ganz verschiedenen anarchistischen Projekte, Gruppen und Strategien letztendlich darin verbunden sind, dass sie sich insbesondere nach dem Prinzip der Autonomie organisieren, ethisch für Selbstbestimmung eintreten und sich dazu theoretisch auf Modelle der Selbstorganisation stützen, die sie auch weiterentwickeln.

Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstorganisation wirkten in der klassischen anarchistischen Theorie oft wie Ideale, denen entgegen gestrebt und die graduell immer weiter verwirklicht werden könnten. Auch heute können sie als eine Fluchtlinie verstanden werden, nach der sich anarchistische Akteur*innen, Räume, Ansätze und Strategien orientieren und ausrichten können. Allerdings sind hierbei einige Missverständnisse auszuräumen, die anarchis-tisches Denken und Handeln in der Vergangenheit oftmals blockiert haben:

Selbstbestimmung von Einzelnen oder Kollektiven meint eben nicht von isolierten Individuen auszugehen, die ihre „Unabhängigkeit“ und eigenwilligen Entscheid-ungen vorrangig von sich selbst ausgehend realisieren könnten. Die bürgerliche Subjektform drängt uns die Erfahrung auf, Ver-Einzelte zu sein und Emanzipation als individuellen Vorgang gegen andere, von denen wir uns abgrenzen und vor denen wir uns schützen müssten, misszuverstehen. Deswegen ist es entscheidend, dass wir uns möglichst freiwillig, verbindlich und wo es geht auch kontinuierlich verbünden, solidarische Beziehungsweisen eingehen und pflegen.

Ebenso wenig darf Autonomie als Abschottung eines Kollektivs von und gegen andere missverstanden werden. Autonomie bedeutet nicht, dass niemand das Recht hat, die Praktiken, Werte, Organisationsformen eines Kollektivs in Frage zu stellen, es zu kritisieren oder – in besonders gravierenden Fällen – auch Widerstand gegen es zu formieren. Autonomie führt nicht zum Recht, die Kinder in einer Gemeinschaft zu schlagen, Frauen zu unterdrücken, Chemikalien in einen See zu schütten oder sich einen Diktator zu wählen. Allerdings bedeutet sie, den jeweils autonomen Gemeinschaften Vertrauen darin vorzuschiessen, dass sie in der Lage sind, sich auf vernünftige und ethisch erstrebenswerte Regeln ihres Zusammenlebens zu einigen, ohne diese mit Zwang und Gewalt durchsetzen zu müssen.

Wie die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Kollektiven und Einzelnen zur Selbstbestimmung von ihrer Interaktion, Kommunikation und Akzeptanz der Anderen abhängt, so lässt sich auch die autonome Organisationsform nur durch das Mitdenken und die Bezugnahme auf andere Kollektive umsetzen. Deswegen sollten sie, wo es möglich ist, anstreben, tiefgreifende Gemeinsamkeiten herauszubilden und miteinander zu föderieren. Zur Erinnerung: Bei theoretischen Überlegungen zur Selbstorganisation kann es nicht darum gehen – wie es frühe anarchistische Denker*innen oft annahmen – eine vermeintlich „natürliche“ oder „organische“ Gesellschaft von „fremder“ Herrschaft zu befreien. Fähigkeiten, Ressourcen, Modelle, Möglichkeiten und der Wille zur Selbstorganisation müssen sich stattdessen erst von Leuten angeeignet werden, die ein Kollektiv oder eine ganze Gesellschaft ohne Herrschaftsstrukturen organisieren möchten.

Deswegen meint Anarchie nicht die Abwesenheit von Ordnung, sondern im Gegenteil die absichtsvolle Einrichtung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von (prozesshaften, veränderbaren, freiwilligen) gesellschaftlichen Strukturen. So unterschiedlich die verschiedenen anarchistischen und ihnen verwandte Strömungen jeweils sind, schlage ich dennoch vor, dass diese Verständnisse von Selbstbestimmung, Autonomie und Selbstorganisation als ihre gemeinsame Grundlage angesehen werden sollten. Auf eine ähnliche Weise sind auch die anderen anarchistischen Werte, Prinzipien und Grundsätze zu überdenken und mit Inhalt zu füllen.

Orte anarchistischer Theorie-Entwicklung

An welchen Orten lässt sich nun aber anarchistisch theoretisieren? In der gegenwärtigen wie in vergangenen Gesellschaften sind die meisten Bildungs-institutionen zu einem weiten Grad Herrschaftsinstitutionen. In ihnen wird Wissen generiert, welches in der kapitalistischen Produktionsweise verwertbar gemacht werden soll und werden Menschen zu Staatsbürger*innen konditioniert, um sich mit der politischen Herrschaft zu identifizieren und sie zu verinnerlichen. Bildungsinstitutionen und Erziehungsanstalten dienen zur Verwahrung kleiner Menschen, damit ihre Bezugspersonen produktiv lohnarbeiten können, wie auch zur ideologischen Vermittlung der hegemonialen Norm- und Wertvorstellungen der bestehenden Gesellschaft.

Weiterhin wird in ihnen Konkurrenz eingeübt und werden über Auswahlverfahren angemessene bzw. erreichbare Funktionsweisen für einzelne Menschen bestimmt und angeraten, wobei viele andere ihrer Fähig-keiten und Potenziale in den Hintergrund gedrängt oder erst gar nicht entwickelt werden. Ob in Kindergärten, Schulen, an Berufsschulen oder Unis – die meisten von uns haben immer wieder den Zwang und die Monotonie von Bildungsinstitu-tionen zu spüren bekommen. Dies schliesst nicht aus, dass wir darin ebenfalls auch vieles gelernt haben, gewisse Wahlmöglichkeiten hatten, gute Impulse für unsere Entwicklung bekamen oder sie den Rahmen für viele unserer sozialen Beziehungen darstellten.

All dies wäre jedoch deutlich besser zu gewährleisten, könnten wir den Herrschaftscharakter von Bildung aufgeben, aufhören, Menschen zu erziehen und sie stattdessen anleiten, anregen, ihnen sinnvolle Grenzen aufzeigen und mit ihnen auf faszinierende Entdeckungsreisen gehen.

Auf den Punkt gebracht stelle ich hier zunächst die altbekannte Frage, zu welchem Grad in bestehenden Bildungsinstitutionen überhaupt Potenziale zur Bildung freier Menschen liegen. Ferner geht es jedoch um die speziellere Frage, in welchen Räumen anarchistische Theorie entwickelt werden kann. Um nicht zu abstrakt zu bleiben, möchte ich darum an dieser Stelle meine persönliche Ansicht offenlegen: Insgesamt glaube ich nicht, dass anarchistische Theorie ausgehend vom akademischen Betrieb entwickelt oder gelehrt werden kann.

Anarchist*innen können sich jedoch meiner Ansicht nach dieser Räume und auch des akadem-ischen Wissens bedienen, um eine Bildung in ihrem Sinne zu ermöglichen und eigene Theorie-Entwicklung voranzutreiben. Eine Sozialtheorie ist nicht schlecht, weil sie von einem anerkannten (und deswegen vollständig integrierten) Professor entwickelt wurde, ebenso wenig, wie etwa das Strassenwissen einer Prostituierten an sich wertvoll ist. Gleichzeitig ist es jedoch vorstellbar, dass das Wissen und die Erfahrungen der Prostituierten uns durchaus zu einer realistischeren und konsequenteren Herrschaftskritik führen, als etwa eine staatlich finanzierte Studie zum Thema Prostitution, Menschenhandel und patriarchaler Gewalt.

Es gibt in diesem Zusammenhang kein Entweder-Oder. Wir müssen uns jedes Mal fragen, wer warum welches Wissen generiert, welchen Interessen es dient und welche gesellschaftliche Positionen, diese Personen einnehmen. Klasse und Geschlecht spielen hierbei eine grosse Rolle. Die Prägung durch institutionelle Kontexte, ihre Abläufe, sozialen Beziehungen und Hierarchien, sowie ihre Fachsprachen kann nicht unterschätzt werden, auch wenn es immer Menschen gibt, die darin nicht vollständig aufgehen, sondern sich eine kritische Distanz zu staatlichen oder privatwirtschaftlichen Forschungs- und Bildungsapparaten bewahren können.

Insgesamt sollte der Fokus auf unabhängige, eigenständige Kontexte und Institutionen gelegt werden, um anarchistische Theorie zu betreiben und zu entwickeln. Sommerschulen, Arbeiter*innenbildungsvereine, selbstorganisierte Univeranstaltungen, freie Schulen, einige youtube-Kanäle etc. gehen in die richtige Richtung, insofern sie auf Grundwerten und Organisationsformen beruhen, die dem Anarchismus nahe stehen. Darüber hinaus bräuchte es jedoch eigene Räume, Ressourcen, Kapazitäten und funktionierende, kontinuierlich arbeitende Kollektive, um anarchistische Theorie und Bildung systematisch weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Um eine neue anarchistische Theorie zu entwerfen gilt es, sich nicht vom akademischen Glanz blenden zu lassen, sondern diesen Rahmen zu verlassen.

Wie in den meisten gesellschaftlichen Feldern, einschliesslich des Militärs, sollten Anarchist*innen Hierarchien zersetzen, Ressourcen und Wissen für den Neuaufbau erschliessen und anschaulich alternative Verwendungs- und Organisationsmöglichkeiten aufzeigen. Diese Auseinandersetzungen auf dem Feld bestehender Bildungsinstitutionen gehen mit der grundlegenden Kritik an ihnen sowie dem Aufbau neuer Netzwerke einher. Zugegeben, es gibt in diesem Zusammenhang noch sehr vieles zu tun. Ein Schritt dahin wäre die Gründung eines deutschsprachigen anarchistischen Theorie-, Bildungs- und Agitationsnetzwerkes.

CHANCEN sozial-revolutionären Handelns durch die Erneuerung und Verbreitung anarchistischer Theorie

Dass es zu grossen und umfassenden gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen kommen wird, ist klar. Die westlichen (Post-)Industrienationen und liberal-demokratischen Gesellschaften befinden sich in einer Phase der multiplen Krise, welche die politischen Eliten nicht grundsätzlich zu bearbeiten im Stande sind. Ob es anarchistischen und anderen emanzipatorischen Strömungen jedoch gelingt, die faschistische Konterrevolution zurückzuschlagen und stattdessen Räume für die Entstehung eines libertären Sozialismus zu öffnen, steht noch in den Sternen.

Die Chancen dafür hängen nicht allein vom Bewusstseinsstand der Bevölkerung oder der Entschlossenheit von sozial-revolutionären Akteur*innen, sondern von einer Vielzahl anderer Faktoren ab. Diese betreffen zum Beispiel den Verlauf der Konflikte zwischen verschiedenen Machteliten, die Repression gegen soziale Bewegungen, die (begrenzte) Erneuerungsfähigkeit der Ökonomie zu einem „grünen“ oder „sozialen“ Kapitalismus' und die Durchsetzung damit verbundener Lebensstile. Weiterhin den Umgang mit chronischer Arbeitslosigkeit durch Strukturwandel und Digitalisierung der Produktion, sowie die fortschreitende Entwertung von Lohnarbeit, den Verlauf internationaler Interessenkonflikte und die militärischen Antworten auf diese, die Frage, auf welche Weise Öffentlichkeit formiert wird und was in ihr verhandelt werden kann usw.. Es gibt also tatsächlich eine Menge Faktoren, auf welche die existierende anarchistische Szene so gut wie keinen Einfluss hat.

Diese Erkenntnis schmerzt, ist es doch unser Anspruch, die Gesellschaft insgesamt radikal und emanzipatorisch zu verändern. Gleichzeitig können wir in diesem Zusammenhang jedoch versuchen, ganz auf uns zu schauen, die Phrasendrescherei und den Verbalradikalismus hinter uns zu lassen und einen nüchternen Blick darauf werfen, wozu wir fähig sind. Ich bin davon überzeugt, dass viele Dinge die wir tun in die richtige Richtung gehen, auch wenn ich selbst gelegentlich scharfe Kritik an ihnen übe. Ein Ansatzpunkt, um uns selbst ernst zu nehmen, besser zu organisieren und uns ein Selbst-Bewusstsein anzueignen, ist die Erarbeitung und Verbreitung gemeinsamer theoretischer Grundlagen. Dazu habe ich in diesem Text lediglich Vorschläge gemacht und einige Richtungen aufgezeigt, in die das gehen könnte.

Anarchistische Theorie zu betreiben gibt Sinn, wenn sie nicht abstrakt und distanziert geschieht, sondern sich selbst als sozial-revolutionären Beitrag begreift. Die soziale Revolution machen also nicht die anderen, die dann von aussen kritisiert und orientiert werden müssten. Stattdessen müssten Intellektuelle ihre Tätigkeit selbst als sozial-revolutionär verstehen. Damit ist jedoch nicht zwangsläufig eine bestimmte Gruppe von Denker*innen gemeint.

Laut Gramsci sind alle Menschen Intellektuelle. Das bedeutet, alle sind Expert*innen für ihre jeweilige Lebenswelt, wissen um ihre Interessen, Werte und Bedürfnisse und wie sie sich organisieren und kämpfen können. Aus diesem Grund können und sollten sich alle Personen, die sich als Sozial-Revolutionär*innen verstehen, auch theoretisch beschäftigen. Meistens tun sie dies ohnehin schon, doch dies kann bewusster geschehen und vor allem auch kollektiver, indem Anarchist*innen stärker daran arbeiten, sich ein gemeinsames theoretisches Fundament zu schaffen.

Keineswegs sage ich damit, dass Theoriearbeit für anarchistische Gruppen oder Personen deswegen zur Hauptbeschäftigung werden sollte. Sie hat – wie Grundsatzdebatten – ihre bestimmten Räume und Zeiten. Gemeinsame Theoriearbeit sollte nicht vermieden werden, sei es aus falschem Respekt vor vermeintlichen Expert*innen, den damit verbundenen Anstrengungen, weil dafür keine Zeit sei oder die Dinge angeblich eh schon klar wären. Sie sollte jedoch auch nicht überbetont werden, denn die Vorstellung, erst eine „richtige“ Theorie zu entwickeln, um dann eine „richtige“ Praxis entfalten zu können, ist grundlegend falsch.

Sie macht eine problematische Trennung auf, tendiert zur rechthaber-ischen Selbstbeschäftigung, kann gefährliche Führungsansprüche hervorbringen und schliesslich funktioniert sie ohnehin nicht, weil Ethik, Organisation und Theorie fortlaufend abgeglichen und aufeinander bezogen werden müssen, damit wir einen realistischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen, ein umfassendes Verständnis von ihnen erlangen und eine sozial-revolutionäre Bewegung organisieren können.

Abschliessend noch einige Punkte zu den Aufgaben einer aktualisierten anarchistischen Theorie. Sie bestehen darin:

• die anarchistische Tradition lebendig werden zu lassen, anstatt sie herunter zu beten. Das heisst, rebellische Leichen zu fleddern statt andächtig ihre Vermächtnisse zu verehren – es wäre in ihrem Sinn
• deutlich zu machen und mit Inhalt zu füllen, worum es im anarchistischen Denken und Handeln geht, über den Anarchismus aufzuklären und die Vorurteile über ihn zurück zu weisen
• die Erarbeitung und Verbreitung gemeinsamer theoretischer Grundlagen zu fördern
• aufzuzeigen und kritisch zu diskutieren, wo Menschen sich bereits zu gewissen Graden nach anarchistischen ethischen Werten, Organisationsprinzipien und theoretischen Grundsätzen ausrichten und sie verwirklichen
• nachzuweisen und darzustellen, wo Menschen „alternative“ gesellschaftlichen Verhältnisse (öko-sozialistisch, horizontal, dezentral und autonom, gleichberechtigt, grenzenlose, ökologisch gestaltend...) hervorbringen und in diesen leben
• nach neuen Ansatzpunkten für anarchistische Strategien zu suchen, anstatt stets auf althergebrachten Wegen zu gehen
• soziale Bewegungen auf ihre libertär-sozialistischen Potenziale hin zu überprüfen und diese gegebenenfalls zu stärken
• Gruppen, die soziale Kämpfen führen, eine libertär-sozialistische Deutung ihrer Situation und Position zu ermöglichen
• das Wissen und die Erfahrungen in sozialen Bewegungen festzuhalten und vielen Menschen eine Reflexion über diese zu eröffnen
• Theorie- und Bildungsarbeit auf eine nicht-manipulative und nicht-instrumentelle Weise, also transparent, ehrlich und einladend, mit Agitation und anarchistischen Werten zu verbinden
• in öffentliche Auseinandersetzungen und Debatten zu intervenieren, um anarchistische Perspektiven in diese einzubringen
• den Schwerpunkt jedoch auf eine Theorie- und Bildungsarbeit zu legen, die an der Basis ansetzt und zwischen Menschen mit einer direkten Beziehung zueinander geschieht
• zu beschreiben, was soziale Revolution aus anarchistischer Perspektive grundsätzlich bedeutet und wo sie unter heutigen Bedingungen potenziell ansetzen kann oder wo bereits sozial-revolutionäre Prozesse angestossen werden
• Inspiration für anarchistische Organisationsansätze und ethische Werte zu geben und Debatten zu ihnen zu initiieren
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Jonathan Eibisch

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