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Erkennen und Bewerten – wirklich nicht unterscheidbar?

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Kurze Anmerkung zu drei Sätzen von Jürgen Habermas im „Positivismusstreit der deutschen Soziologie“ Erkennen und Bewerten – wirklich nicht unterscheidbar?

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Politik

Vorbemerkung: Die folgende kurze Notiz ergänzt meinen Text Der Kommunismus – ein Gebot der Sittlichkeit? (scharf-links vom 22.06.2025) und meine Diskussion mit Achim Schill und einer dritten Person („ak“) zum Thema Recht – Moral – Politik (taz-Blogs vom 23.06.2025).

Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas, 29. Mai 2014.
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Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas, 29. Mai 2014. Foto: Európa Pont (CC-BY 2.0 cropped)

Datum 7. Juli 2025
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KorrekturKorrektur
Frieder, Otto, Wolf, Habermas, Sinne, Lage, These, Aussagen, VerhältnisJürgen Habermas stellt in seinem Text Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik[1] die von ihm kritisierte Position Poppers wie folgt dar:

„Das Postulat der sogenannten Wertfreiheit stützt sich auf eine These, die man, Popper folgend, als Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen formulieren kann. […]. Sowenig nun, wie vorausgesetzt, der Sinn sozialer Normen von faktischen Naturgesetzen, oder diese gar von jenem abhängen, so wenig kann der normative Gehalt von Werturteilen aus dem deskriptiven Gehalt von Tatsachenfeststellungen oder gar der deskriptive umgekehrt aus dem normativen abgeleitet werden. Die Sphären des Seins und des Sollens sind in diesem Modell strikt geschieden, Sätze einer deskriptiven Sprache lassen sich nicht in eine präskriptive übersetzen.“

Abgesehen vielleicht von dem Wort „strikt“ ist die von Habermas kritisierte Auffassung die richtige: Deskriptive Sätze lassen sich nicht in präskriptive übersetzen, sondern erstere können nur um letztere ergänzt werden.

Ausserdem:
  • Es ist in diesem Sinne eine ‚Seins'[2] - oder – in den Worten von Habermas – „deskriptive“ Frage, ob z.B. Marx' Theorie der kapitalistischen Produktionsweise (analytisch) wahr ist. Insofern besteht kein Unterschied zwischen Sozial- und Naturwissenschaften: Ob deren Aussagen bzw. Theorien wahr sind, hängt davon ab, ob sie ihre(n) Gegenstand (-stände) so beschreiben (besser: analysieren), wie sind und im Verhältnis zueinander stehen.
  • Dagegen ist es in diesem Sinne eine ‚Sollens'[3] oder – in den Worten von Habermas – „normative“ Frage', ob z.B. Marx' Ablehnung der kapitalistischen Produktionsweise (politisch) richtig ist.
Allerdings ist zu betonen: Ein Kampf für Verteidigung oder Änderung des status quo kann dann mit grösseren Erfolgschancen geführt werden, wenn er in der Kenntnis der Lage[4] und deren Funktions- und Reproduktionsmechanismen usw. erfolgt:
Die „Proletarier [brauchen …] objektive, verifizierte und verifizierbare, kurz: wissenschaftliche Erkenntnisse, um nicht nur in der Phrase, sondern tatsächlich über ihre Klassengegner zu siegen“.

(Louis Althusser, Elemente der Selbstkritik, in: ders., Elemente der Selbstkritik, 1975, 33 - 96 [52])

Ein Kampf gegen bloss eingebildete Windmühlen wird niemals erfolgreich sein (bzw. genauer gesagt: braucht gar nicht erst aufgenommen werden). Aus Letzterem folgt aber nicht, dass die Richtigkeit von Zielen von politischen Kämpfen objektiv (bzw. beweisbar) ist.

Nachbemerkung

Frieder Otto Wolf warnte 1988 – in kritischer Auseinandersetzung mit dem Hegemonie[5]-Konzept von Ernsto Laclau und Chantal Mouffe (Hegemony und Socialist Strategy, 1985[6]; dt.: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 1991) – davor, „die Kategorie der Hegemonie […] politizistisch [zu] verflachen“. Demgegenüber forderte er die Kategorie der Hegemonie nicht allein politisch zu verstehen, sondern sie „zurückbeziehen auf einen gelungenen Repräsentationsprozess“. Was er mit „Repräsentationsprozess“ meinte, erklärt er folgendermassen:

„Effekte, durch die die Ideologie das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen auf eine Art und Weise repräsentiert“.

Zu der „Art und Weise“, auf die es ankommt, kommen wir gleich. Aber machen wir erst einmal einen Punkt in dem ziemlich langen und verschachtelten Satz von Frieder Otto Wolf. Denn die etwas verzwickte Formulierung, „imaginäre[s] Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen [...] repräsentiert“, können wir für die hiesige Fragestellung vielleicht auch weglassen.[7] Für unsere Fragestellung genügt vielleicht das Postulat: Statt auf eine polizistische Verflachung des Hegemonie-Kategorie komme es auf eine Art und Weise der Repräsentation (hier ist vor allem Repräsentation der Wirklichkeit in Vorstellungen gemeint) an, „die
  • sowohl eine Praxis der Produktion wahrer Theorien etwa über die Strukturen der kapitalistischen Ausbeutung oder über die Entwicklungstrends der ökologischen Krise ermöglicht,
  • als auch eine Praxis der ideologischen Subversion bestehender Unterwerfungsformen unter diese Realitäten zu entfalten ermöglicht, die emanzipatorischen Praxisformen Raum schafft“.
Wir können vielleicht etwas schlichter sagen:

Emanzipatorische Praxis kommt ohne die Produktion wahrer Theorien über das, wovon sie sich emanzipieren (befreien) will, nicht aus. „[W]ahre Theorien“ meint bei Frieder Otto Wolf nicht „Wahrheit“ im philosophischen Sinne z.B. von Friedrich Schiller[8] und Georg Wilhelm Friedrich (‚das Wahre, Schöne und Gute')[9], sondern nüchtern-wissenschaftlich: Erkenntnisse über die Wirklichkeit, ihre Ursachen und Zusammenhänge.
Frieder Otto Wolf Problematik forderte impliziert[10], die Hegemonie-Problematik „auf objektiv durch die Lage […] bestimmte historische Aufgaben“ zu beziehen. Das mit den „historischen Aufgaben“ ist selbst noch etwas hegelianisch-ge­schichtsphilosophisch angehaucht.[11] Ich erlaube mir im folgenden den Akzent auf die ‚objektive Lage' zu setzen.

Es sei also die Produktion wahrer Theorien über die objektive Lage geboten – nicht einfach nur eine Sichtweise, ein Gefühl, ein Standpunkt oder irgendetwas.

Der Bezug auf die objektive Lage und deren Veränderung (und nicht Veränderung von etwas bloss Eingebildetem oder Ausgedachten) sei das Salz in der Hegemonie-Suppe:

Ohne Aufgaben in Bezug auf die objektive Lage sei „eine Hegemonie-Problematik […] salzlos: Wie mensch unmittelbar ‚ankommt' bei den konkreten Subjekten in einer bestimmten Situation wissen die Werbeagenturen und die entsprechend verfahrenden Propagandisten der bestehenden Verhältnisse immer schon am besten“; „die Untersuchung des Realen“ sei „eine eigenständige und von keinerlei Rücksichtnahmen zu beeinträchtigende Aufgabe“.

Sodann benannte Frieder Otto Wolf – entgegen einer Verwechselung von „Hegemonie-Verhältnissen“ mit „schlichte[n] mediale[n] Durchsetzungseffekte[n]“ – „drei Problemdimensionen“ „der Problematik der Repräsentation“:

1. Es sei an der „gnoseologischen These festzuhalten, dass in wahrer Erkenntnis (in wahren Aussagen, wie sie insbesondere in den Wissenschaften produziert werden) etwas über etwas Reales ausgesagt wird – und dass daher jeder ausgearbeitete Begriff von Wahrheit sich auf dieses Verhältnis der Repräsentation des Realen in Aussagen beziehen muss“.

(Gnoseologie ist – im von Frieder Otto Wolf wahrscheinlich gemeinten Sinne – jene theoretische Formation, deren „Grundfrage“ die „Frage nach der Bezie­hung zwischen Sein und Denken“ ist[12].

Epistemologie“, auf die wir gleich zu sprechen kommen, kann demgegenüber [im gemeinten Sinne] in etwa als historisch orientierte Wissenschaftstheorie umschrieben werden.[13] Eine Gleichsetzung mit „Erkenntnistheorie“ ist für beide Begriffe untunlich, weil der auf Französisch für „Erkenntnistheorie“ benutzte Ausdruck üblicherweise théorie de la connaissance ist.[14])
2. Es sei „die epistemologische These zu vertreten, dass es auf dem Feld der Wissenschaften, die sich auf den historischen, gesellschaftlichen Prozess beziehen [15], nicht etwa um die unerklärbaren Manifestationen einer unergründlichen, quasigöttlichen menschlichen Schöpferfreiheit geht“.

Vielmehr gehe es „um durchaus erklärbare Determinationen, um spezifische Gesetzmässigkeiten“. Diese seien „weder in die nicht-intendierten Effekte bewusst intendierter Handlungen auflösbar […], noch in den impliziten Regeln und Materialitätseffekten der mit ihnen in der Tat in der praktischen Realität unauflösbar verknüpften diskursiven Prozesse“.

Auch etwas (mehrerlei), das „verknüpft“ (verbunden) ist, kann (in seine – verknüpften – Elemente) unterschieden werden – dies noch mal gegen Habermas. Eine „Totalität“, in der alle Katzen grau sind, hilft weder bei der Produktion von Erkenntnissen, noch beim Kämpfen.

3. Es sei „die spezifisch ideologie- und politiktheoretische These zu vertreten, nach der der ‚Realismus' ideologischer und politischer Repräsentationen einen spezifischen innerdiskursiven Stellenwert hat“. Dieser Stellenwert führe dazu, dass sich mittelfristig allein – gewiss auf ihre spezifische, unterschiedlich bestimmte Weise – ‚realistische' Positionen im ideologischen Klassenkampf allgemein ebenso wie auf dem spezifischen Felde des politischen Kampfes als Kristallisationskerne ideologischer Mächte behaupten können, die damit überhaupt erst ‚hegemoniefähig' werden.“

Etwas ist also nicht wahr, weil es politisch richtig ist, sondern etwas (z.B. ein politisches Programm, eine politische Strategie, ...) hat grössere Chancen für politisch richtig befunden zu werden, wenn es unter Verarbeitung von Erkenntnissen (wahren Aussagen über die Wirklichkeit) entwickelt ist. Dies ist freilich nur eine Chance und keine Garantie.

Jede der drei Problemdimensionen überschreite das Feld der linguistischen Theorie ebenso wie das einer – ich füge hinzu: politizistischen verflachten – Diskurstheorie[16], so Frieder Otto Wolf zusammenfassend. Der ausführlich referierte Aufsatz von Frieder Otto Wolf:

Auf der Suche nach dem ideologischen Klassenkampf diesseits von imaginärer Klassenpolitik und symbolischen Münchhauseniaden. Zur Erinnerung an Michel Pêcheux, in: kultuRRevolution H. 17/18, Mai 1988, 13 - 17.

Die von mir referierte Passage beginnt etwas unterhalb der Mitte der rechten Spalte von S. 15 und endet am Ende in der linken Spalte von S. 16.

Nun – die in Fussnote 14 erwähnte Tabelle[17]:

Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas, 29. Mai 2014.

Erkenntnistheorie - Epistemologie - Gnoseologie

Detlef Georgia Schulze

Fussnoten:

[1] in: Adorno et al., Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969, 155 - 191 (170 f.).

[2] Seins-Frage = eine Frage, die das (besser: ein bestimmtes) Sein betrifft, z.B.: ‚Die kapitalistische Produktionsweise ist (Infinitiv: sein) (funktioniert) so und so.'

[3] Sollens-Frage = eine Frage, die das (besser: ein bestimmtes) Sollen betrifft, z.B.: ‚Die kapitalistische Produktionsweise soll verschwinden.'

[4] Vgl. in etwas anderem Zusammenhang: „statt Wunder zu versprechen, vielmehr einen Kampf ankün­digt, der in Kenntnis der Sachlage geführt wird“ (Louis Althusser, Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, 1985, 117).

[5] Um die Hegemonie, die ein Thema für sich wäre, geht es im folgenden nur insofern, als Frieder Otto Wolf in dem Absatz, bevor er auf die ‚Problematik der Repräsentation' (um die es im folgenden vielmehr gehen wird) zu sprechen kommt, über den Moment spricht, wenn eine bestimmte Parole die Massen ergreift. Dieser Moment ist ein Moment der Hegenomie derjenigen, die die fragliche Parole aufgestellt haben. Von da aus lag es nahe, auf das – damals viel diskutierte ‚Hegemonie-Buch' von Laclau/Mouffe – zu sprechen zu kommen, wobei sich Frieder Otto Wolf allerdings – wie im folgenden referiert – davon abgrenzte, das Hegemonie-Thema – nach dem Vorbild von Laclau/Mouffe – mit einem Abschied vom Materialismus zu verbinden. So warfen sie z.B. Foucault ‚Inkonsistenz' vor, weil er an der Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxisarten festhielt und lehnten selbst diese Unterscheidung ab: „Unsere Analyse verwirft die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxisarten und behauptet […], dass sich jedes Objekt insofern als Objekt eines Diskurses konstituiert, als kein Objekt ausserhalb jeglicher Bedingungen des Auftauchens gegeben ist […].“ (Laclau/Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, 1991, 157 [der ‚Inkonsistenz'-Vorwurf gegen Foucault ebd. bei FN 13])

Das angeführte Laclau/Mouffe-Zitat vermengt mehrere zu unterscheidende Fragen: 1. Existieren ausser-diskursive Objekte – und zwar auch unabhängig davon, ob sie Gegenstand von Diskursen werden? 2. Falls ja: Unter welchen Voraussetzungen werden solche Objekte zu Gegenständen von Diskursen? 3. Ist es berechtigt, z.B. das Essen eines Apfels eine nicht-diskursiven Praxisart und das Reden oder Schreiben über einen Apfel eine diskursive Praxisarten zu nennen?

Frage 1 und 3 sind einfach zu bejahen; Frage 2 würde eine längere Antwort erfordern und wird über­haupt erst bei Bejahung von Frage 1 richtig interessant.

[6] Die beiden in vorstehender FN 5 angeführten Stellen in dem ‚Hegemonie-Buch' von Laclau/Mouffe (Verwerfung der Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxisarten sowie ‚Inkon­sistenz'-Vorwurf gegen Foucault) befinden sich dort auf S. 107.

[7] „Die Ideologie repräsentiert das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“, ist Louis Althussers (Ideologie und ideologische Staatsapparate, in: ders., Ideologie und ideo­logische Staatsapparate. 1. Halbband, 20193, 37 - 102 75) – lacanistisch inspirierte – Ideologie-Definition.

[8] „Gieb also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edeln Trieb in seiner Brust, bey allem Widerstande des Jahrhunderts, Genüge zu thun habe, gieb der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen.“ (Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.], in: ders. [Hg.]: Die Horen, Band 1, 1. Stück, 1795, 7 - 48 [46] zit n. Deutsches Textarchiv; https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/40; Hv. hinzugefügt).

In der zitierten Schrift entwarf Schiller „seine ästhet. Theorie vor dem Hintergrund staats- und geschichtsphilosoph. Spekulationen und weist dabei der Kunst eine wesentliche Rolle beim Aufbau des von ihm postulierten ethischen Vernunftstaates zu. Der Übergang von Naturstaat zu Vernunftstaat muss nach Schiller kontinuierlich verlaufen, der Einzelne sich allmählich von einem physischen in ein moral. Wesen verwandeln und dabei ein Durchgangsstadium durchlaufen, in dem Geist und Natur in ein freies und harmon. Zusammenspiel, Pflicht und Neigung in Einklang gebracht werden.“

(Jutta Linder, Über die …, in: Volpi/Nida-Rumelin [Hg.], Lexikon der Philosophischen Werke, 1988, 744 [744])

„Schiller hatte das in den Briefen entfaltete Konzept einer ‚ästhetischen Erziehung' als sein ‚politisches Glaubensbekenntnis' […] bezeichnet, und tatsächlich entwickelt er hier paradigmatisch die Grundzüge des klassisch-ästhetischen Erziehungsprogramms, das zugleich eine negative Antwort auf das Ereignis der Französischen Revolution ist. Wirkung hat seine Darlegung sowohl auf das Bildungsideal W. v. Humboldts, auf die Dichtung Höderlins wie auf die Kunstphilosophie Hegels ausgeübt, aber auch noch – gelesen als Reflex auf die entfremdeten Verhältnisse der sich durchsetzenden bürgerlichen Welt – auf die Philosophie des Neomarxismus (G. Lukács, H. Marcuse) des 20. Jh.s, während die neuere Forschung zunehmend kritisch die soziologische wie ideologische Zeitgebundenheit dieser Bildungsästhetik hervorhebt.“

(Meinhard Prill, Über die …, Walter Jens [Hg.], Kindlers Neues Literaturlexikon, 1991, 942 - 944 [944]; leicht anders [v.a. ohne namentliche Nennung von Lukács und Marcuse sowie ohne den Halbsatz zur „neuere Forschung“] auch, in: Heinz Ludwig Arnold [Hg.], Kindler Literaturlexikon, 20093, 532 - 533 [533])

[9] Für Hegel war „Wahrheit“ nicht die Eigenschaft von zutreffenden Sätzen über die Wirklichkeit, sondern ein Massstab, an dem die Wirklichkeit zu messen – und als ‚zu leicht' zu befinden, also zu verwerfen – sei: „Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts Anderem als darin, das Endliche [≈ Wirkliche] nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen.“ (Die Wissenschaft der Logik, Glockner Ausgabe, 1936, S. 181 zit. n. Lucio Colletti, Von Hegel zu Marcuse, in: alternative. Zeltschrift für Literatur und Diskussion H. 72/73: Literatur und Revolution. Beiträge aus Italien, Juni/Aug 1970, 129 - 148 [129]; siehe in dem Aufsatz auch Collettis Ausführungen zum Verhältnis von Vernunft und Verstand bei Hegel, das in etwa dem Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit bei Hegel entspricht [S. 130]).

Die Hegel-Stelle in der aktuell massgeblichen Ausgabe: Hegel, Gesammelte Werke hrsg. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Bd. 21: Die Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Erster Band [1832] hrsg. Hogemann / Jaeschke, 1985, 142 [Zeile 15 - 17]. Die Edition im Rahmen des Deutschen Textarchivs der Berlin-Brandenburgerischen Akademie der Wissenschaften folgt dagegen der ersten Auflage von 1812 und scheint die fragliche Stelle noch nicht zu enthalten. In der Fassung von 1832 handelt es sich um den zweiten Satz von „Anmerkung 2“ am Ende des Zweyten Kapitels des Ers­ten Abschnitts. In der Ausgabe von 1812 gab es dagegen am Ende des fraglichen Kapitals, das insgesamt deutlich abweichend gegliedert war, nur eine „Anm.“.)

[10] Er schrieb – mit kritischem Unterton: „Ohne einen solchen Rückbezug Iässt sich die Problematik der Hegemonie nicht mehr auf objektiv durch die Lage […] bestimmte historische Aufgaben beziehen.“

[11] Aufgaben ergeben sich nicht allein aus der Lage; auch die Geschichte hat kein Ziel. Ziele erfordern vielmehr eine subjektive – sei es individuelle, sei es kollektive – Wahl. Die ‚Aufgaben' (das heisst, die nächsten Schritte, die Aussicht haben, dem je gesetzten Ziel näher zu bringen) lassen sich dann anhand des Verhältnisses von Ziel und objektiver Lage bestimmten.

[12] So sagt Dominique Lecourt (Kritik der Wissenschaftstheorie. Marxismus und Épistémologie (Bachelard, Canguilhelm, Foucault), 1975, 37, FN 2) über Gaston Bachelard, dieser bleibe „bei der gnoseologi­schen Grundfrage – der Frage nach der Beziehung zwischen Sein und Denken – standhaft. Er hält daran fest, dass durch die Wissenschaften die objektive Realität erkannt werden kann und argumentiert gegen diejenigen, die diese als ‚künstliche' oder ‚symbolische' Konstrukte (constructions) ansehen.“

[13] „Wenn Bachelard noch entscheidend dazu beitrug, die Wissenschaftsphilosophie seiner Zeit zu historisieren, so ging Canguilhem umgekehrt von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung aus und war darum bemüht, sie epistemologisch im Sinne einer Geschichte wissenschaftlicher Begriffe zu fundieren.“ (Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, 20224, 99 f. [im Abschnitt Die sechziger Jahre in Frankreich ])

„Auf diese Weise [auf die Art und Weise Bachelards] von ihrem philosophischen Ursprung befreit, dürfte die E[pistemologie] dahin tendieren, mit der Wissenschaftsgeschichte zu verschmelzen, und die E. wären grundsätzlich regional.“ (Bernard Michaux, Artikel „Epistemologie“, in: Hans-Jörg Sandkühler [Hg.], Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 1, 1990, 757 - 761 [758])

[14] Von den zugrundeliegenden griechischen Verben scheint

γι-γνώσκειν [gi-gnṓskein] (= u.a. engl. perceive, dt. kennenlernen) eher das Kennenlernen, die Wahrnehmung zu konnotieren

und

ἐπί-σταμαι [épí-stamai] (= u.a. engl. know, dt. kennen, wissen) eher das (gemäss der Etymologie: Darüber-stehen durch das) bereits erlangte Wissen (siehe die Tabelle am Ende); es ist insofern theoretisches Wissen: „Episteme […], in der griechischen Philosophie […] Bezeich­nung für alle theoretischen Formen des ↑Wissens, […].“ (Jürgen Mittelstrass, Artikel „Episteme“, in: ders. [Hg.], Enzyklopädie der Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2, 20052, 353 [353])

[15] Frieder Otto Wolf nennt „die sog. ‚Humanwissenschaften' ebenso […] wie die ‚Wirtschafts- und Sozial­wissenschaften' – oder die gegenwärtig wieder in die Mode kommenden ‚Geisteswissenschaften'“.

[16] „Was heisst es demgegenüber, an der Problematik der Repräsentation festzuhalten? Ich denke es heisst, vor allem drei Problemdimensionen nicht aus dem Auge zu verlieren – deren jede das Feld der linguistischen Theorie ebenso wie das der Diskurstheorie übrigens bereits im Ansatz überschreitet“.

[17] Quelle für das Zitat in der letzten Zeile der Tabelle: Thomas Laugstien, Artikel „Erkenntnistheorie“, in: Wolfgang-Fritz Haug (Hg.), Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bd. 3, 1999, Sp. 744 - 762 (745); die Quellenangaben zu den anderen Informationen in der Tabelle befinden sich dort.

Vgl. dazu ausserdem noch: Mit Bachelard „zu sagen, dass die Philosophie [≈ Epistemologie] den Veränderungen der Prinzipien der Erkenntnis folgen muss, heisst zunächst, jede Vorstellung von einer voraufgehenden Philosophie [= Erkenntnistheorie], die in der Wissenschaft nur die Bestätigung oder die Illustration einer Geistes-, Verstandes- oder Erkenntnislehre suchen würde, zurückzuweisen.“ (Michel Fichant, Die Epistemologie in Frankreich, in: François Châtelet [Hg.], Geschichte der Philosophie. Bd. VIII, 1975, 118 - 158 [122])