Die Forderung nach echter Demokratie verklärt gesellschaftliche Widersprüche Wenn die Stimme abgegeben wird

Politik

Die Frage »Bewegung oder Parlament« ist in der Linken angesichts der griechischen SYRIZA-Regierung derzeit wieder aktuell. Dabei geht es unter anderem um das Verständnis vom bürgerlich-demokratischen Staat.

Wenn die Stimme abgegeben wird.
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Wenn die Stimme abgegeben wird. Foto: mout1234 (CC BY-NC-ND 2.0)

19. Oktober 2015
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John Mallory und Juan Miranda äussern sich in »Chancen und Brüche in Zeiten der Krise« (ak 602) skeptisch gegenüber Linksparteien-Optimismus. Sie argumentieren gegen die Vorstellung, dass mit der Teilhabe an der Staatsmacht grundlegende emanzipatorische Veränderungen möglich sind. Dem wollen wir uns mit dem Folgenden anschliessen. Wir meinen auch, dass Vorstellungen von solchen Veränderungen über Staatsmacht auf einem falschen Staatsverständnis beruhen. Zudem halten wir einen positiven Bezug auf Demokratie für fragwürdig. Unsere These ist, dass Demokratie gut zum bürgerlichen Staat und Kapitalismus passt. Das ist weder ein Plädoyer für Diktatur, noch geht es uns im Folgenden um theoretische Abgrenzung um ihrer selbst willen. Die Auseinandersetzung hat Verständnis zum Ziel, das heisst Kritik der Verhältnisse.

Staat als Souverän der kapitalistischen Verhältnisse

Politiker_innen beklagen öfters Sachzwänge. Meistens geht es dabei um materielle Einschränkungen für die Bevölkerung, die durchgesetzt werden, weil die Wirtschaft bzw. die Globalisierung das erfordern würde. Das trifft letzten Endes auf Akzeptanz bei den Betroffenen, weil es einer verbreiteten Vorstellung vom Verhältnis von Politik und Wirtschaft entspricht: Die Politik existiere quasi jenseits der ökonomischen Verhältnisse, finde den Kapitalismus funktionierend vor und habe dann den Auftrag, Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu setzen, um das Beste fürs Volk rauszuholen. Politik gilt als Dienst am Volk, der aufgrund des gelegentlich etwas ungerechten aber alternativlosen Kapitalismus Beschränkungen nötig mache.

Dabei könnte einem die von der Politik betonte Machtlosigkeit fragwürdig vorkommen. Schliesslich ist es der Staat selbst, der mit allerhand Macht über Parlament, Sozialbehörden und Gewaltapparat seine Politik durchsetzt. Bereits das Privateigentum findet der Staat nicht vor. Er selbst garantiert es als Voraussetzung des kapitalistischen Wirtschaftens und schafft so den allgemeinen Zweck der Reichtumsvermehrung. Der Staat ist also die Instanz, die die Verhältnisse einrichtet – welche tatsächlich Eigengesetzlichkeiten haben – und am Laufen hält. Denn die mit Privateigentum verbundenen gesellschaftlichen Gegensätze werden mit Recht und Gesetz in Formen gebracht, in denen sie dauerhaft laufen. Das ist nicht nur der Gegensatz von Arbeit und Kapital, sondern ganz allgemein Tausch. Es wird das jeweils verfügbare Eigentum unter Ausnutzung anderer Bedürfnisse dazu genutzt, um an (möglichst viel) fremdes Eigentum zu kommen. Um diese Gegensätzlichkeit gangbar zu machen, bedarf es eines Gewaltmonopols. Nicht etwa weil sich »der Mensch von Natur« immer ein Wolf wäre.

Von der kapitalistischen Verwertung macht sich der Staat abhängig, indem er beispielsweise Machtmittel über Steuern bezieht. Er ist damit Urheber der ökonomischen Verhältnisse – und folgt aus eigenem Interesse deren Gesetzmässigkeiten. Letzteres, wenn es etwa um Staatsfinanzierung durch Kredite geht. Die gibt es vom Finanzkapital, wenn dieses Aussichten auf Wachstum hat. Sieht es dahingehend schlecht aus, ist es für Staaten ein probates Mittel, mit verschärfter Armut die Bedingungen der Kapitalverwertung zu verbessern.

Unseres Erachtens ist daher das Argument, mit dem sich Nikolas Huke in »Ein Sekt auf die Partei und dann zur EZB« (ak 602) gegen die Regierungsbeteiligung von Linken ausspricht, dass das »Primat der Politik« nicht gelte, er also staatliche Schwäche gegenüber der Wirtschaft bemängelt, unzutreffend (und fatal). Es mag zwar stimmen, dass Staaten »von strukturellen Disziplinierungsmechanismen durchzogen (sind), die sich aus der Abhängigkeit von Finanz- und Kapitalmärkten ergeben«. Der springende Punkt ist aber, dass dem staatliche Macht nicht entgegensteht: Mit all ihrer Macht begeben sich Staaten in die Abhängigkeit vom kapitalistischen Getriebe. Wenn Milliardenkredite zur Unterstützung des Finanzgewerbes gegeben werden, ist das weder Ausdruck von Machtlosigkeit, noch steht es im Widerspruch zu den »eigentlichen« Zwecken der Staatsmacht. Vielmehr ist eine solche Praxis Ausdruck von sehr viel Macht mit bestimmten Zwecken (Erfolg nationaler Wirtschaft) und Mitteln.

Demokratischer Staat, echt jetzt

Mit den in Verfassungen festgeschriebenen Grundprinzipien Freiheit und Gleichheit entsprechen bürgerliche Staaten der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Die gesellschaftlichen Ungleichheiten resultieren vielmehr aus der Gleichbehandlung vor dem Gesetz und dem freien Handeln mit dem jeweils verfügbaren Eigentum, was meist auf die eigene Arbeitskraft hinausläuft (siehe »Das Volk als Wille und Vorstellung«, ak 595). Leute sind gleich vor dem Recht, zugleich gilt die Garantie zur privaten Verfügung über die ungleich verteilten (Geld-)Mittel. Ungleichheiten und deren Reproduktion sind daher kein Widerspruch zu Freiheit und Gleichheit. Deren Garantie ist im bürgerlichen Staat institutionalisiert. Voneinander unabhängige Instanzen innerhalb des Staates kümmern sich um rechtskonforme Herrschaft. Dem müssen sich Politiker_innen unterordnen. Sie füllen Ämter aus, deren Befugnisse festgelegt sind. Aus dem Vergleich mit Diktaturen folgt so das Lob, das jede_r aus dem Politikunterricht kennt: Private Willkür der Herrscher_innen ist unmöglich, zumindest eingeschränkt. Nicht nur durch den Rechtsstaat, sondern auch weil das Volk die Wahl hat. Es entscheidet, welche Leute aus welchen Parteien bis zur nächsten Wahl regieren und kann so z.B. nach privaten Interessen handelnde Politiker_innen abwählen.

Der Vergleich mit Diktaturen unterstellt eine Gemeinsamkeit. Es geht allein um die Frage des Wie der Herrschaft. Dass es diese braucht, gilt als selbstverständlich – dass gerade die durch die Herrschaft in die Welt gebrachten Interessensgegensätze eines Gewaltmonopols bedürfen, gerät aus dem Blick und steht damit ausser Frage. Dementsprechend wird das entscheidende Resultat von Wahlen übersehen. Darüber, dass die Prinzipien des Staates feststehen, und so z.B. Parteien mit Zielen jenseits der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO) höchstens unter Vorbehalt mitkonkurrieren dürfen, garantiert die Wahl, dass die Herrschaft innerhalb des Bestehenden fortgeführt wird. Da bei der Wahl die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft nicht zur Debatte stehen, ist sie das Verfahren, bei denen mit der Frage, wer regiert, die Tatsache, dass unter bestimmten Prinzipien regiert wird, immer wieder bestätigt wird.

Genau das macht auch das Wahlkreuzchen aus. Die Stimme wird abgegeben; was sich mit ihr äussern liesse an Unzufriedenheiten und Wünschen, wird mit dem Kreuz bei Personen bzw. Parteien irrelevant. Eine Wahl verwandelt Unzufriedenheit in ein erneuertes Mandat für eine Regierung. Mit der faden Debatte, welche Kandidaten fähig sind, das Land zu führen, stehen die Ämter fest, mit denen geführt wird. Es kann zwar aus einem bestimmten Parteiprogramm ausgewählt werden, ohne Garantie, was davon später realisiert wird. Relevante Unterschiede gibt es in den Programmen aber nur, wenn der nationale Erfolgsweg strittig ist – ansonsten hauptsächlich bei Gesichtern und Image. Erfolg bezieht sich dabei auf eine dauerhaft ertragreiche kapitalistische Ökonomie im Land. Allein schon die Erfahrung zeigt, dass sich dieses Erfolgskriterium nicht ändert, wenn Grüne oder Linkspartei an der Macht sind.

Herrschaft durch das Volk – was ist und will das Volk?

In Wendung gegen Forderungen von PEGIDA und Co für direkte Demokratie schreibt Holger Oppenhäuser in »PEGIDA entdeckt die Plebs« (ak 602): »Im Rahmen der klassischen Demokratietheorie gibt es durchaus gute Argumente für die Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch Volksbegehren und -abstimmungen. Und praktisch geht es um Verfahren, die … sowohl in herrschaftsbewahrende oder gar -verschärfende Projekte als auch in emanzipatorische eingebunden werden können.« Er nennt dann als Beispiel die Abstimmung in Berlin über Rekommunalisierung der Energieversorgung.

Die Feststellung, dass es nur um Verfahren geht, die in herrschaftsbewahrende oder -verschärfende Projekte eingebunden werden können, lässt die Schlussfolgerung zu, dass es um die Inhalte ginge, von denen Leute überzeugt werden sollten, dass also die politische Verfahren nebensächlich sind. Hinsichtlich der Energieversorgung spricht Oppenhäuser von »dauerhafter Ausweitung demokratischer Kontrolle in einem Feld, das alle betrifft und über das alle dauerhaft (mit)bestimmen sollten«. Hier scheint die Idee zu sein, wenn Leute nur mitbestimmen können, entscheiden sie sich wie von selbst für das aus linker Perspektive Wünschenswerte. Demokratie wird dementsprechend nicht einfach als Verfahren gesehen.

Nun sind die Ziele dieses Volksbegehrens oder auch der derzeit angestrebte Mietenvolksentscheid in Berlin, so wünschenswert und teils existenziell bedeutsam geringere Kosten für Strom und Miete sind, etwas anderes als eine Änderung der Gesellschaftsform. In dieser gibt es Herrschaft, da die Konkurrenz unter Privateigentümern eine Zentralgewalt (die wiederum die Wirtschaft zu ihrer Grundlage hat) notwendig macht. Leider wird von der praktischen Abhängigkeit und mit gängigen ideologischen Verklärungen darauf geschlossen, dass die herrschende Ordnung für die Leute da wäre. Ausgehend von gegenteiligen Erfahrungen wird daher immer wieder das Ideal von »echter« oder »mehr Demokratie« eingefordert. Mit dieser Forderung an den Garanten für die tatsächliche Demokratie, den Staat, bezieht man sich positiv auf einen institutionell festen Bestandteil der kapitalistischen Misere.

Auf der anderen Seite wird ein Volk unterstellt, das homogene Interessen hat. Damit wird die Bevölkerung, die durch objektive Antagonismen ausgezeichnet ist, wenn nicht zur nationalen Volksgemeinschaft, so doch tendenziell zur Interessensgemeinschaft verklärt. Wir meinen also nicht, dass zur vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft Demokratie »richtig« verwirklicht werden müsste. Sie dient – leider erfolgreich – dazu, die herrschende Ordnung praktisch und geistig zu bestätigen.

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