Klassenkampf als Verteilungskampf Die subjektlose Herrschaft des Kapitals

Politik

Wer trägt die Schuld an den zunehmenden Widersprüchen und Verwerfungen spätkapitalistischer Gesellschaften – und was kann dagegen getan werden?

Die subjektlose Herrschaft des Kapitals.
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Die subjektlose Herrschaft des Kapitals. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

6. Oktober 2022
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Wer herrscht im Kapitalismus? Der erste Augenschein scheint das zu bestätigen, was zumeist den Grundbestandteil linker Theoriebemühungen oder Ideologie bildet: Es ist die Klasse der Kapitalisten, der Besitzer von Produktionsmitteln, die die Fäden der Macht in der Hand zu halten scheint – und somit den gegenwärtigen Zustand des kapitalistischen Weltsystems zu verantworten hat.

Diese Schlussfolgerung erscheint auch erst mal berechtigt angesichts der absurden sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen der Masse der Lohnabhängigen und den „Happy Few“ der Milliardärskaste, die durch die neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik der vergangenen Dekaden immer weiter forciert wurde.

Die Daten zu der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich wirken nur noch bizarr: Inzwischen besitzen die 26 reichsten Milliardäre Vermögen in einem Nennwert, der den Habseligkeiten der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung entspricht – das sind rund 3,8 Milliarden Menschen. In den USA sind es die vermögendsten 20 Superreichen, deren Vermögenswerte dem Hab und Gut der verarmten Bevölkerungshälfte entsprechen.

In der Bundesrepublik wiederum liegt diese Relation zwischen Milliardären und Mittellosen bei 45 zu 41 Millionen. 45 Megareiche Kapitalisten besitzen genauso viel wie die untere Hälfte der Bevölkerung, wobei die Spaltung bei den Einkommen in der Bundesrepublik inzwischen sogar stärker ausgeprägt ist als in den Vereinigten Staaten.

Diese Spaltung der spätkapitalistischen Gesellschaften mitsamt der Herausbildung einer weitgehend abgekapselten Kaste von Milliardären geht mit einer verstärkten, immer offener praktizierten Durchsetzung von Interessen der Kapitalistenklasse einher. Dieser erfolgreiche Lobbyismus schlug sich nicht zuletzt in der Finanz- und Steuerpolitik der letzten Dekaden nieder, die nahezu ausschliesslich die Superreichen und die Grosskonzerne begünstigte.

US-Milliardäre wie die berüchtigten Koch-Brüder finanzieren eine regelrechte Politmaschine, die ihre reaktionären Interessen in Washington in Gesetzesform bringt. Inzwischen wird darüber debattiert, ob die USA nicht zu einer Oligarchie verkommen sind, die durch wenige Milliardäre dominiert wird.

In der Bundesrepublik hingegen lassen schon mal die BMW-Milliardäre aus dem berüchtigten Quandt-Klan der CDU direkt Spenden zukommen, bevor die Bundesregierung mal wieder CO2-Grenzwerte zugunsten der deutschen Autoindustrie aushöhlt. Hinzu kommt – mit dem Aufstieg der Neuen Rechten – die direkte Finanzierung von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten durch Milliardäre, wie etwa im Fall von US-Präsident Trump und der deutschen AfD.

Dasselbe gilt für die Untätigkeit der Politik angesichts der eskalierenden Klimakrise. Die entsprechenden Lobbygruppen der fossilen kapitalistischen Wirtschaft haben erfolgreich jedwede ernsthafte Massnahme zur Bekämpfung des Treibhauseffekts über Jahrzehnte mit Millionenbeträgen torpediert – sowohl in den USA als auch in Deutschland.

Kapitalisten, Klassenkampf und Krise

Angesichts dieser informellen Machtfülle der Kapitalistenklasse, die ihre wirtschaftlichen Interessen mühelos durch ihre Lobbymaschinen in Gesetzesform giessen kann, scheinen sich insbesondere der Linken die Ursachen der gegenwärtigen Krise klar abzuzeichnen: Es ist die zunehmende sozioökonomische Spaltung der Gesellschaft, die gerade durch die anscheinend hinter den Kulissen herrschende Klasse der Milliardäre, der Kapitalisten, verursacht wurde. Die grenzenlose Gier oder der unersättliche Machthunger der Kapitalistenklasse führte den Kapitalismus in die Krise.

Ähnlich scheint es sich mit der ökologischen Krise zu verhalten: Die Gier der Konzernbosse der Öl- und Autoindustrie, ihr Einfluss auf die Politik, scheint dafür verantwortlich zu sein, dass der Klimawandel allen Sonntagsreden zum Trotz durch beständig steigende CO2-Emissionen weiter angefacht wird.

Die ökonomische Stagnation, der jahrzehntelange soziale Abstieg grosser Teile der Bevölkerung in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems, sie erscheinen als eine Folge der Politik der Klasse der Superreichen, die einen regelrechten Klassenkrieg gegen die arbeitende Bevölkerung führe, wie es etwa der Milliardär und Spekulant Warren Buffet formulierte:

„There's class warfare, all right, … but it's my class, the rich class, that's making war, and we're winning.“

Warren Buffet

Für gewöhnlich wird der Beginn dieses „Klassenkrieges“ in der neoliberalen Wende der 1980er Jahre verortet, die – nach dem blutigen Vorspiel 1973 in Chile – zuerst in den USA und in Grossbritannien von Ronald Reagan und Margret („There is no such thing as Society“) Thatcher durchgesetzt wurde.

Inzwischen haben die Verelendungsschübe nach dem Platzen der Immobilienblasen 2008, die etwa die US-Mittelklasse verheerten, auch zur Formierung einer starken, klassenkämpferischen Linken beigetragen. Der Hetze gegen Minderheiten, die die Neue Rechte nach dem Krisenschub 2008 forcierte, wird von der Linken in den USA und Grossbritannien die Option des Klassenkampfes entgegengestellt, bei dem der von den Superreichen geführte Klassenkrieg nun auch den von „Unten“, von den Lohnabhängigen bewusst – vermittels politischer Mobilisierung – beantwortet würde. Die Klimakrise soll wiederum durch ein massives keynesianisches Investitionsprogramm, durch den Green New Deal, überwunden werden.

Ein falscher Ansatz und eine falsche Prämisse

Politiker wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez plädieren somit für eine Umverteilung von Oben nach Unten, für eine strikte Besteuerung grosser Vermögen und für eine Beschneidung der informellen politischen Machtfülle der Superreichen, um vermittels grosser Investitionsprogramme den Kapitalismus aus seiner ökologischen wie ökonomischen Krise zu führen. Angesichts dieser Renaissance eines linken Klassenkampfes, die inzwischen auch die deutsche Linke erfasste, scheint sich somit möglicherweise ein fortschrittliches Gegengewicht zur reaktionären Welle der Neuen Rechten zu formieren.

Und dennoch handelt es sich bei diesem Erklärungsansatz des Krisengeschehens, der in der Dichotomie von Proletariat und Bourgeoisie verbleibt, um ein verzerrtes Bewusstsein, das letztendlich nicht radikal genug ist, um den Krisenprozess adäquat zu erfassen. Die Krise ist mehr als die Summe des krisenbedingt eskalierenden Klassenkampfes. Die Prämisse, die dem altlinken Klassenkampfdenken innewohnt, wonach es eine Gruppe von Menschen gebe, die die gesellschaftliche Reproduktion bewusst kontrollierten, ist falsch.

Die Realität kapitalistischer Krisenentfaltung ist viel erschreckender als alle Schreckgespenster einer hinter den Kulissen des Politbetriebes ablaufenden, allmächtigen Herrschaft von superreichen Generalbösewichten – so abstossend und verwerflich die einzelnen egomanischen Akteure in diesen exklusiven Zirkeln auch agieren mögen.

Fetischismus: Die Selbstbewegung des Kapitals

Allen tatsächlich gegebenen Verschwörungen zum Trotz: Da ist niemand hinter dem Vorhang, der in letzter Instanz die Strippen zöge, den Gang der Dinge des kapitalistischen Systems irgendwie „steuerte“. Die Menschheit unterm Kapital ist Objekt einer verselbstständigten, widersprüchlichen Dynamik, die sie unbewusst, marktvermittelt hervorbringt. Dieser als Fetischismus bezeichnete Prozess der Selbstbewegung des Kapitals konstituiert sich „hinter den Rücken der Produzenten“, wie Karl Marx in einer berühmten Formulierung bemerkte.

Allgemein gefasst, ist der Kapitalismus als eine fetischistische Gesellschaftsformation somit dadurch gekennzeichnet, dass hier „der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert“, so Karl Marx in seinem Hauptwerk „Das Kapital“. Die den Subjekten gegenüber verselbstständigen fetischistischen Verwertungsformen des Kapitals „gelten ihrem bürgerlichen Bewusstsein“ als eine „selbstverständliche Naturnotwendigkeit“.

Dieser Fetischismus durchzieht alle Aggregatszustände, die das Kapital bei seiner Selbstbewegung, seinem Verwertungskreislauf durchläuft, bei dem mittels Warenproduktion und der Ausbeutung von Lohnarbeit aus Geld mehr Geld geschaffen wird (G-W-G): Ware, Geld, Arbeit.

Im Arbeitsprozess etwa wird der lohnabhängige Marktteilnehmer („Proletarier“) zum „variablen Kapital“, zu der einzigen vom Kapital auf dem Arbeitsmarkt zu erwerbenden Ware, die durch ihre Arbeitsfähigkeit mehr Wert schaffen kann, als sie selber Wert ist. Die Arbeit ist dem Arbeiter „äusserlich“, er fühle „sich daher erst ausser der Arbeit bei sich und in der Arbeit ausser sich“, wie es Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten formulierte.

Dieses Ausgeliefertsein an einen äusserlichen Arbeitsprozess, über dessen Ziel und Verlauf der Arbeiter keine Kontrolle hat, in dem seine Entäusserung Moment der fetischistischen Verwertungsbewegung des Kapitals ist, führt zur Ausbildung des bekannten, allgegenwärtigen Gefühls der Entfremdung im Kapitalismus. Diese „gezwungene“ Arbeit unterm Kapital diene nicht mehr der direkten „Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse ausser ihr zu befriedigen“, so Marx weiter. Ihre Fremdheit trete „darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äusserliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäussert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung.“

Ähnlich ohnmächtig scheinen die durch den Konkurrenzzwang voneinander isolierten Marktsubjekte, die nur marktvermittelt in den Warenaustausch treten, dem Warenfetischismus gegenüberzutreten. Der gesellschaftliche Charakter ihrer eignen Arbeit spiegele sich den Warenproduzenten als ein gegenständlicher Charakter ihrer Arbeitsprodukte wieder, erläuterte Marx in dem berühmten Fetischkapitel seines Hauptwerks „Das Kapital“.

Die soziale, im Rahmen der Verwertungsbewegung erzeugte Wareneigenschaft, Wert zu haben (das in ihrem Herstellungsprozess aufgewendete Quantum notwendiger gesellschaftlicher Arbeitszeit), erscheint als eine Natureigenschaft dieser Dinge. Der einzelnen Ware scheint ihre Eigenschaft, Wert zu besitzen, genauso zuzukommen wie ihre sonstigen physischen Eigenschaften. Da diese sozial konstituierte „Wertgegenständlichkeit“ der Ware nur beim Warentausch auf dem Markt zum Vorschein tritt, scheint es den isolierten Produzenten so, als ob es sich hierbei um ein „ausser ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“ handelte.

Die Dinge „verselbstständigen“ sich also marktvermittelt gegenüber den Marktsubjekten, die sie selbst buchstäblich erarbeiten und in Warenform auf eben den Märkten feilbieten – beseelt von dem gesamtgesellschaftlichen Verwertungszwang des Kapitals. Diese Verselbstständigung des Kapitals tritt vor allem in der Finanzmärkte krass zutage, wo der Fetischismus sich in der abstrakten Geldform manifestiert – und die wichtigste Triebkraft für reaktionäre Krisenideologien samt dem antisemitischen Wahn bildet.

Gerade in Krisenzeiten, wenn mal wieder ein „Marktbeben“ oder geplatzte Finanzblasen die Stabilität des gesamten Wirtschaftssystems bedrohen – wie zuletzt 2008 – wird evident, dass selbst die Kapitalistenklasse diese fetischistische und destruktive Dynamik des Kapitals keineswegs „unter Kontrolle“ hat, dass der krisenhafte Gang der Dinge im Kapitalismus keineswegs von einer Verschwörung gesteuert wird.

Die fetischistische Realität im Kapitalismus ist somit tatsächlich gruseliger als die schlimmste Verschwörungsideologie. Die gesamte reelle Welt, Mensch wie Natur, sind nur Durchgangsstadien eines blind prozessierenden Akkumulationsprozesses abstrakten Reichtums, letztendlich abstrakter Quanta verausgabter, „toter“ menschlicher Arbeit. Der ganze spätkapitalistische Horror besteht gerade darin, dass da niemand am Steuer des beständig auf den Abgrund zurasenden Verwertungszuges sitzt.

Die Gesellschaft ist aber ein notwendiges Anhängsel der amoklaufenden, realabstrakten Verwertungsbewegung des Kapitals, da Kapital nur durch Lohnarbeit und Ressourcenverfeuerung in der Warenproduktion verwertet werden kann. Soziale Existenz hat letztendlich nur das, was im Rahmen dieses blinden Kreislaufs der Kapitalvermehrung notwendig und finanzierbar ist: Also nur das, was zum Wuchern des Kapitals direkt oder indirekt beträgt.

Dies gilt nicht nur für die Kategorie der „Arbeitsplätze“ in der Wirtschaft, sondern auch für den Staatsapparat in seiner Funktion als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Marx) oder sogar für die Kulturproduktion, die im Rahmen der neoliberalen Vermarktungsstrategien zur Standortoptimierung beizutragen hat – soziale Existenz unterm Kapital steht immer unter dem Vorbehalt ihrer „Finanzierung“. Auf gesamtgesellschaftlicher, globaler Ebene agiert somit das Kapital als ein „automatisches Subjekt“ uferloser, tautologischer Selbstvermehrung.

Die konkrete Welt ist somit nur „Material“ dieser verselbstständigen, realabstrakten Selbstbewegung des Kapitals, das im uferlosen Wachstumswahn der Menschheit ihre sozialen und ökologischen Existenzgrundlagen entzieht. Die globale Mehrwertmaschine des Kapitals verfeuert somit die Welt, um den irrationalen Selbstzweck uferlosen Kapitalwachstums möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eine anwachsende, ökonomisch „überflüssige“ Menschheit in der Peripherie, eine eskalierende ökologische Krise sind die Folgen dieser Selbstbewegung des Kapitals.

In einer Umkehrung der alten Fortschrittsromantik drängt sich somit das Bild eines beständig beschleunigenden, auf einen Abgrund zurasenden Zuges auf, einer ausser Kontrolle befindlichen Maschine, angetriebenen durch die Selbstbewegung des Kapitals, die von den Marktteilnehmern unbewusst, konkurrenz- und marktvermittelt hervorgebracht wird. Der überlebensnotwendige, transformatorische Akt besteht darin, die Notbremse zu finden und zu betätigen, wie schon Walter Benjamin bemerkte.

Von den Menschen unbewusst hervorgebrachte gesellschaftliche Strukturen, die sich gegenüber den Individuen objektivieren; gesellschaftliche Dynamiken, die sich gegenüber den Subjekten verselbstständigen, die sie hervorbringen – diese absurde Form gesellschaftlicher Reproduktion, die die „Vorgeschichte der Menschheit“ kennzeichnet, wird auf den Begriff des Fetischismus gebracht.

Somit sind die Menschen der „aufgeklärten“ bürgerlichen Gesellschaft nichts anderes als finstere Fetischdiener. Herrschaft im Kapitalismus ist somit in letzter Instanz subjektlos, wie der Krisentheoretiker Robert Kurz in seinem Text „Subjektlose Herrschaft“ ausführte, es herrscht das Kapitalverhältnis als fetischistische Realabstraktion.

Das innere Wesen des Kapitalverhältnisses geht laut Kurz nicht in der schnöden Raffgier all der kapitalistischen Menschenschinder auf, die in den neoliberalen Dekaden ihren (grösstenteils fiktiven) Reichtum ins Obszöne steigern konnten:

„Ihre „individuellen Zwecke“ sind nicht das, was sie zu sein scheinen; es sind ihrer Form nach keine individuellen, selbstgesetzten Zwecke, und deswegen wird auch der Inhalt pervertiert und mündet in Selbstzerstörung. Das Wesen ist nicht, dass die Individuen sich wechselseitig für ihre individuellen Zwecke benutzen, sondern dass sie, indem sie dies zu tun scheinen, einen ganz anderen, überindividuellen, subjektlosen Zweck an sich selbst exekutieren: die Selbstbewegung (Verwertung) des Geldes.“

Robert Kurz

Die subjektiven, „betriebswirtschaftlichen“ Ausbeutungsinteressen der Kapitalisten bilden demnach den äusseren Schein, der das fetischistische Wesen der irrationalen, subjektlosen Herrschaft des Kapitalverhältnisses auf „gesamtwirtschaftlicher“ Ebene verdeckt. Generell gilt: Das Kapital kann nur als gesellschaftliche Totalität begriffen werden; Versuche, die Reproduktionsverhältnisse einzelner Kapitale (Betriebe, Konzerne) auf das Gesamtsystem zu projizieren, münden letztendlich in Ideologie.

Die Frage von Schuld und Verantwortung im Kapitalismus

Sobald Menschen als Subjekte im Verwertungskreislauf des Kapitals agieren, werden sie zu Charaktermasken (Marx) ihrer jeweiligen Stellung um Akkumulationsprozess – ob als Fliessbandarbeiter, Manager, Verkäufer oder Dienstleister ist in dieser Hinsicht einerlei. Sie sind nicht mehr „bei sich“, sondern sie agieren als die Personifikation ihrer jeweiligen ökonomischen Funktion (dies bildet ja die Grundlage der besagten Entfremdungsgefühle).

Marx bezeichnet etwa den Kapitalisten in seiner Funktion als Charaktermaske als „personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital“, das als „Ausgangspunkt und Rückkehrpunkt“ des Selbstzwecks der masslosen Zirkulation des Kapitals fungiert. Der „objektive Inhalt jener Zirkulation – die Verwertung des Werts – ist sein subjektiver Zweck“, so Marx in seinem Hauptwerk „Das Kapital“.

Was hier aufscheint, ist die absurde Stellung des Marktsubjekts innerhalb des Automatismus der Kapitalverwertung. Das Kapital als automatisches Subjekt macht die Menschen einerseits zu Objekten seiner Verwertungsbewegung, zu Dingen, zu Waren, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt werden – und die sich dieser vermittelten Form der subjektlosen Herrschaft wie einem menschengemachten Naturgesetz mit einem unterschwelligen Gefühl von Ohnmacht anzupassen haben.

Zugleich besteht die einzige Chance, noch eine schale Imitation von Subjektivität auszuleben, darin, dass man als besagte ökonomische Charaktermaske daran mitwirkt, diesen Automatismus uferloser Kapitalverwertung „subjektiv“ zu perfektionieren – und hierbei wiederum „die Anderen“ zu Objekten degradiert und „den Dingen gleichmacht“.Innerhalb des nur zu realen Fetischismus, den das automatische Subjekt perpetuiert, sind die Insassen der kapitalistischen Tretmühle immer beides zugleich: Subjekt der Akkumulation und deren ohnmächtiges Objekt.

Alle Charaktermasken als Personifikationen ihrer jeweiligen ökonomischen Funktion fungieren folglich als Subjekt-Objekte der verselbstständigten Verwertungsbewegung, die sie selber perpetuieren, wobei das konkrete Verhältnis zwischen diesen beiden Polen von der konkreten hierarchischen Stellung im Reproduktionsprozess des Kapitals abhängt. Und es ist eben diese hierarchische Stellung der Subjekte innerhalb des Automatismus der Kapitalverwertung, die auch bei der Frage nach der Kategorie der Schuld, der persönlichen Verantwortung berücksichtigt werden muss. Denn selbstverständlich spricht der Fetischismus des Kapitals die Akteure, die diesen exekutieren, nicht frei.

Das andere Extrem zur manischen Sündenbocksuche stellt ja ein ohnmächtiges Systemdenken dar, bei dem die gegenwärtigen Akteure in Wirtschaft und Politik exkulpiert werden. Bei dieser Sichtweise scheint es so, als ob die Verantwortlichen vor lauter Systemzwängen und objektiven Strukturgesetzten nicht mehr auszumachen wären. Die konkreten Täter verschwinden hinter dem zerstörerischen Walten des automatischen Subjekts der kollabierenden Verwertungsdynamik des Kapitals.

Dass der Fetischismus der kapitalistischen Gesellschaft, wo die marktvermittelten Handlungen der Marktsubjekte diesen als eine fremde, quasi-objektive Kraft entgegentreten, keineswegs zu einer Exkulpierung der Taten der Täter führt, hat der Krisentheoretiker Robert Kurz schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts dargelegt:

„Wenn nun der gemeinsame Formzusammenhang von abstrakter Arbeit, Warenform, Staatsbürgerlichkeit usw. ins Blickfeld der Kritik rückt, wo bleibt da die Verantwortlichkeit? Kann man einen blinden Strukturzusammenhang, kann man das automatische Subjekt für irgend etwas verantwortlich machen, und sei es das grösste Verbrechen? Und umgekehrt: Wenn die kapitalistische Barbarei letzten Endes in den stummen Zwängen der Konkurrenz usw. angelegt ist, sind dann nicht die barbarischen Taten der hässlichen Manager, der schmutzigen Politiker, der bürokratischen Krisenverwalter, der blutigen Schlächter des Ausnahmezustands irgendwie entschuldigt, weil immer bedingt und eigentlich durch die subjektlosen Strukturgesetze der „zweiten Natur“ verursacht?

Eine solche Argumentation vergisst, dass der Begriff des automatischen Subjekts eine paradoxe Metapher für ein paradoxes gesellschaftliches Verhältnis ist. Das automatische Subjekt ist keine aparte Wesenheit, die für sich irgendwo dort draussen hockt, sondern es ist der gesellschaftliche Bann, unter dem die Menschen ihr eigenes Handeln dem Automatismus des kapitalisierten Geldes unterwerfen.

Wer aber handelt, das sind immer die Individuen selbst. Konkurrenz, künstlich erzeugter Überlebenskampf, Krisen usw. treiben die Potenz der Barbarei hervor, aber praktisch vollstreckt werden muss diese Barbarei von den handelnden Menschen, also auch durch ihr Bewusstsein hindurch. Und deshalb sind die Individuen auch subjektiv verantwortlich für ihr Tun, der hässliche Manager und der schmutzige Politiker ebenso wie andererseits der rassistische Arbeitslose und die antisemitische alleinerziehende Mutter.

Das ungeheuere Angst- und Drohpotential dieser Gesellschaft muss tagtäglich verarbeitet werden, und jeden Moment treffen die Individuen dabei Entscheidungen, die niemals völlig alternativlos sind – weder im alltäglichen kleinen noch im gesellschaftlich-historischen grossen Massstab. Niemand ist einfach nur eine willenlose Marionette, sondern alle müssen die haarsträubenden Widersprüche, die Ängste und Leiden dieses Banns selber ausagieren.

Deshalb ist es kein Widersinn, die notwendige Gesellschaftskritik auf die Ebene der sozial übergreifenden Strukturen, auf die abstrakte Arbeit und das automatische Subjekt zu richten, gleichwohl aber die handelnden Individuen für ihr Tun verantwortlich zu machen, auch wenn ihre gesellschaftliche Charaktermaske ihnen den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nahelegt.“

Robert Kurz: Marx Lesen

Ein Donald Trump oder Jeff Bezos sind als Subjekte, die den widersprüchlichen Automatismus der Kapitalakkumulation auf politischer und wirtschaftlicher Ebene exekutieren, für ihre Taten verantwortlich. Dies gilt auch für einen Wolfgang Schäuble, der für all das voll verantwortlich, was er während der Eurokrise Griechenland und Südeuropa angetan hat; aber dies gilt auch für den kleinen gemeinen Forentroll, der für all die Hetze verantwortlich ist, die er im Netz absondert – auch wenn vermittels dieser Handlungen nur die systemische Krisendynamik auf politischer oder ideologischer Ebene exekutiert wird.

Wobei selbstverständlich die historische Schuld, die ein Egomane wie Trump oder ein Sparsadist wie Schäuble auf sich geladen hat, weitaus höher wiegt als die kläglichen Absonderungen eines einzelnen politischen Borderliners der Neuen Rechten in Zeitungsforen oder sozialen Netzwerken.

Die grosse Schuldfrage in Bezug auf die subjektlose Herrschaft des Kapitals lässt sich nun auch in Hinblick auf die Krisendynamik und Krisenideologie präzisieren: Die Krise als historischer Prozess ist Folge der zunehmenden inneren Widersprüche des Kapitals, die den Subjekten als zunehmende „Sachzwänge“ gegenübertreten.

Konkret ist es die Tendenz des Kapitals, sich seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Lohnarbeit durch Automatisierung im Produktionsprozess zu entledigen. Dies gilt nicht nur für die ökonomische, sondern auch für die ökologische Krise des Kapitals, das durch Produktionssteigerungen die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit immer schneller bei seinem fetischistischen Wachstumszwang verbrennen muss.

Deswegen gilt es schlicht festzustellen, dass absolut niemand die Schuld an der Krise des Kapitals trägt. Und schon gar nicht ist die Krise von irgendwelchen Verschwörern „inszeniert“ worden. Die Krise brach gerade deswegen aus, weil die Marktsubjekte genau das immer effizienter tun, was das System von ihnen verlangt: Lohnarbeit verwerten zwecks uferloser Kapitalakkumulation. Je effektiver Lohnarbeit verwertet wird, desto grösser der Druck, desto stärker zieht sich die Schlinge marktvermittelt um den Hals aller Marktsubjekte zu.

Die erste, in ideologische Verblendung führende falsche Frage, die sich dem verdinglichten Bewusstsein wie selbstverständlich bei Krisenausbruch aufdrängt, ist die nach der Krisenschuld. Gerade umgekehrt wird ein Schuh draus: Persönliche Schuld muss im „Alltag“ der Kapitalverwertung, im „Normalvollzug“ der kapitalistischen Tretmühle gesucht werden: bei der konkreten ökonomischen Ausbeutung, der politischen Unterdrückung und der Ideologieproduktion, die den Automatismus des Systems am Laufen hält.

Während also niemand „Schuld“ trägt an dem Ausbruch der Systemkrise, deren Dynamik sich quasi „hinter dem Rücken der Produzenten“ (Marx) entfaltet, ist es gerade das alltägliche Funktionieren des Systems – die marktvermittelte Unterdrückung, Ausbeutung und Ideologieproduktion – in dessen Verlauf all die Individuen Schuld auf sich laden, die als „Charaktermasken“ ihrer kapitalistischen Funktionen die Systemzwänge bewusst exekutieren. Mehr noch: In Wechselwirkung mit der Krisendynamik wird gerade die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Lügenproduktion des Systems ins Absurde gesteigert.

Wenn die Ausbeutung der Lohnabhängigen immer weiter zunimmt wie in den neoliberalen Dekaden, so deutet dies auf einen systemischen Krisenprozess hin, der auf den Rücken der Lohnabhängigen perpetuiert wird. Und das gilt umso mehr, wenn ein „Normalarbeitsverhältnis“ zur Ausnahme wird und, global betrachtet, immer mehr Menschen vom Kapital eigentlich gar nicht mehr ausgebeutet werden können, weil sie eben überflüssig sind und daher nichts anderes sind als „unnütze Esser“.

Klassenkampf als Verteilungskampf

Die obig geschilderte Zunahme der Ausbeutung, der Verelendung und Prekarisierung auch in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems, sie muss folglich als eine Systemreaktion auf einen tiefgreifenden, historischen Krisenprozess verstanden werden. Dies geschah in den 1980er Jahren in Reaktion auf das Auslaufen der Nachkriegskonjunktur in den 1970ern und die Krisenperiode der Stagflation. Der Neoliberalismus setzte sich folglich nur deswegen durch, weil der Keynesianismus mit seinem Latein am Ende war. Insofern war der Neoliberalismus auch keine Art „Putsch“ gegen eine angeblich heile sozialstaatliche Welt, wie von nicht wenigen Linken gern unterstellt wird.

Es ist gerade die absurd anmutende Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen den Massen der prekarisierten und pauperisierten Lohnabhängigen, sowie denn Fantastzillionen an grösstenteils fiktivem Kapital, die einige wenige Milliardäre zu halten scheinen, die eben auf die Systemkrise verweist, die auch einen Mangel an profitträchtigen Investitionsmöglichkeiten in der realen Warenwirtschaft, eine entsprechende Verlagerung auf Spekulationstätigkeiten in der Finanzsphäre mit sich bringt („Finanzialisierung des Kapitalismus“).

Eben diese Krisenfolgen treten allen Akteuren als zunehmende, objektivierte Widersprüche oder „Sachzwänge“ gegenüber. Die Subjekte reagieren systemimmanent mit einer Intensivierung der Konkurrenz darauf: Politiker und Staaten, die im Rahmen der Standortkonkurrenz Sozialabbau durchsetzen, Konzerne, die immer brutalere Formen der Ausbeutung finden, Lohnschreiber in Massenmedien, deren Opportunismus bei der Ideologieproduktion keine Grenzen zu kennen scheint, Lohnabhängige, die verstärkt zu Mobbing übergehen.

Der marktvermittelte stumme Zwang der immer „härter“ werdenden Verhältnisse nötigt die Charaktermasken ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion dazu, diesen bei Strafe des eigenen Untergangs zu exekutieren. Derjenige Kapitalist, der es im zunehmenden Konkurrenzkampf auf den „enger“ werdenden Märkten nicht vermag, die Ausbeutung seines Menschenmaterials zu steigern, wird in der Krisenkonkurrenz untergehen. Dasselbe gilt für die kapitalistischen Volkswirtschaften als nationale „Standorte“, die sich ebenfalls in einem krisenbedingten Wettlauf nach Unten befinden.

Die Hartz-Reformen mit ihrer intendierten Prekarisierungsstrategie und ihrer Exportfixierung waren somit „erfolgreich“ – indem sie die Krisenfolgen bislang durch Schuldenexport auf andere Länder abwälzen konnten. Dasselbe gilt für die veröffentlichte Meinung: Der Hang zum Opportunismus in Politik und Medienbetrieb nimmt zu, oppositionelles Denken wird marginalisiert, gerade in der „Linken“.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen scheint nun auch eine klare Einschätzung des Klassenkampfs möglich. Hierbei handelt es sich somit um einen Verteilungskampf innerhalb des Reduktionsprozesses des Kapitals, dessen Intensität von dessen konkreter, historischer Widerspruchsentfaltung bestimmt wird. In Perioden starker ökonomischer Expansion, wie während der Nachkriegskonjunktur bis in die 1970er, können Formen der „Sozialpartnerschaft“ zwischen den Funktionseliten des Kapitals und den Gewerkschaften als Vertretern der Lohnabhängigen (des „variablen Kapitals“, wie es bei Marx heisst) aufkommen.

So lange die Märkte stark expandieren, können hohe Profite mit Löhnen vereinbart werden, die Lohnabhängige zu Konsumenten machen. Dies ändert sich relativ schnell in Krisenperioden, wenn es für jeden Kapitalisten vornehmlich darum geht, den irrationalen Selbstzweck der Kapitalakkumulation notfalls auch auf Kosten der eigenen Lohnabhängigen zu perpetuieren.

Dem Klassenkampf als Verteilungskampf wohnt somit keine objektive transformatorische Potenz inne. Es ist ein Kampf um Anteile an einer krisenbedingt abschmelzenden, realen Wertproduktion – ohne aber diese irrationale Form gesellschaftlicher Reproduktion infrage zu stellen. Der Klassenkampf (schlussendlich auch der historische Klassenkampf vergangener Zeiten) bewegt sich also in den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung (Wert, Arbeit, Kapital, Staat) und sucht Emanzipation und Anerkennung in diesen Kategorien, statt gegen diese.

Der sich verschärfende Klassenkampf ist somit ein Verteilungskampf. Die Militanz, mit der dieser krisenbedingt eskalierende „Klassenkrieg“ (Warren Buffet) propagiert wird, verdeckt seine mangelnde Radikalität, da hier die Krisenursachen und die oben dargelegte fetischistische Form gesellschaftlicher Reproduktion im Kapitalismus, nicht reflektiert werden.

Die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse scheinen auch deswegen den Pauperismus früherer Zeiten zu ähneln, weil die historische „Aufstiegsphase“ der Arbeiterklasse im 18. und 19. Jahrhundert soziale Parallelen zu der gegenwärtigen Abstiegsphase des Kapitals und der Arbeiterklasse aufweist. Das gegenwärtig um sich greifende Elend innerhalb der erodierenden Klasse der Lohnabhängigen in den Zentren des Weltsystems, es spiegelt somit das Elend ihrer historischen Ausformung.

Um es mal plastisch auszudrücken: Das Fundament, auf dem die Klassenakteure agieren, die Verausgabung von Lohnarbeit in der Warenproduktion, zerfällt zunehmend. Die einseitige Klassenkampfrhetorik verdeckt vor allem, dass die Klassen selbst krisenbedingt in Auflösung begriffen sind. Das Proletariat zerfällt in eben jene ökonomisch „überflüssige“ Schicht von Menschen, die verzweifelt in die Kernregionen des kapitalistischen Weltsystems fliehen.

Was tun?

Radikal zu sein bedeutet, ein Problem an seiner Wurzel zu fassen, um eine der Problemstellung adäquate Lösung zu finden. Eben dies leistet das marxistische Klassenkampfdenken nicht. Nicht die Verteilung des warenförmigen Reichtums bildet den Kern der Krise, sondern die widersprüchliche Form, in der Reichtum um des irrationalen Selbstzwecks uferloser Kapitalakkumulation willen produziert wird – eben die Warenform selber. Die krasse, sich immer weiter zuspitzende soziale Spaltung der spätkapitalistischen Gesellschaften ist gerade, wie dargelegt, Folge der eskalierenden inneren und äusseren Widersprüche des Wachstumszwangs des Kapitals.

Die Krise kann folglich nicht durch sozialdemokratische Umverteilung gelöst werden. Nicht die Erringung der „Kontrolle“ über die kapitalistische Akkumulationsmaschinierie kann ein radikales Ziel sein (womöglich noch unter Führung einer diktatorischen Staats- und Kaderpartei), sondern deren grundlegende Transformation, um endlich die Herstellung von Gebrauchsgütern von ihrer Warenform, von dem fetischistischen Selbstzweck der Wertverwertung zu befreien.

Auch die „Demokratisierung“ kapitalistischer Unternehmen, wie sie als direkte Arbeiterkontrolle in den linksliberalen Zirkeln der USA derzeit diskutiert wird, würde diese Kooperativen weiterhin den Zwängen der sich krisenbedingt verengenden Märkte aussetzen – und somit kaum etwas ändern. Die Krise des Kapitals, das an seine inneren und äusseren Schranken stösst, kann folglich nur bei Überwindung der dargelegten fetischistischen Eigendynamik des Akkumulationsprozesses überwunden werden – denn es ist gerade diese unbewusst von den Marktsubjekten hervorgebrachte Verwertungsdynamik, die die ohnmächtigen menschlichen Gesellschaften und das globale Ökosystem verwüstet.

Letztendlich geht es um eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Reproduktion, indem diese direkt, durch einen gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozess organisiert wird, anstatt – wie derzeit – die Gesellschaft zu einem blossen Durchgangsstadium eines blindwütigen, amoklaufenden Weltverbrennungsprozesses zu degradieren. Postkapitalismus bedeutet somit im Kern, die bewusste Gestaltung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses durch die Gesellschaftsmitglieder – dies, wie ausgeführt, im Gegensatz zu dem gegenwärtigen Zustand, in dem die Menschen einer quasi-objektiven, fetischistischen Dynamik ausgesetzt sind.

Die kryptisch scheinende Bemerkung von Karl Marx, wonach die Überwindung des Kapitalismus „die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ abschliessen würde, erhält so ihre Klarheit. Alle bisherige menschliche Geschichte vollzog sich unbewusst, im Rahmen von fetischistischen Gesellschaftssystemen: von religiösen Fetischismus der Frühzeit und des Mittelalters bis zur säkularisierten Religion des Kapitals.

And here is the thing: Die Krise ist ebenfalls ein irreversibler, fetischistischer Prozess. Sie wird ablaufen und es gibt keine Möglichkeit, das System langfristig zu stabilisieren, da die ewige Schuldenmacherei irgendwann auch in den Zentren an ihre Grenzen stossen wird. Dies ist keine Zukunftsvision, sondern – vor allem in der Peripherie – bereits Realität.

Das an seinen Widersprüchen erstickende System produziert schon eine ökonomisch überflüssige Menschheit und kollabierende, als „failed states“ bezeichnete Zusammenbruchsregionen, wie die es Flüchtlingskrise evident machte. Dasselbe gilt für die durch den kapitalistischen Wachstumswahn verursachte Klimakrise und deren monströse Folgen.

Es ist somit keine Frage des subjektiven „Wollens“ der Gesellschaftsmitglieder, ob das kollabierende System überwunden wird. Es ist eine blanke Überlebensfrage menschlicher Zivilisation, letztendlich menschlicher Existenz, auf welche Art und Weise der kommende Transformationsprozess vonstattengehen wird: als chaotischer Zerfall, in Form der Errichtung einer brutalen, mörderischen Krisendiktatur, oder doch in eine progressive Richtung, die allen kommenden klimabedingten Verwerfungen zum Trotz der Menschheit neue emanzipatorische Perspektiven eröffnen würde.

Mehr noch: Dieser Transformationsprozess läuft bereits ab – und die zunehmenden politischen, ideologischen und auch militärischen Auseinandersetzungen sind gerade Ausdruck dieses unbewusst über die Menschheit ablaufenden Umbruchs, wie es der Soziologe und Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts erläuterte:

„Wir leben in einer Phase des Übergangs von unserem existierenden Weltsystem, der kapitalistischen Wirtschaft, zu einem anderen System oder anderen Systemen. Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird. Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, sehr schwierig sein wird. … Es wird eine Zeit der Konflikte oder erheblicher Störungen … sein. Es wird auch, was nicht paradox ist, eine Zeit sein, in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird, was bedeutet, dass jede individuelle und kollektive Handlung eine grössere Wirkung beim Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems.“

Immanuel Wallerstein, Utopistik

Zivilisation oder Barbarei – dies sind die Extrempole in dieser historischen „Phase des Übergangs“, wobei es die Neue Rechte ist, die mit ihrem Extremismus der Mitte, der ein Festhalten an den in Zerfall befindlichen Vergesellschaftungsformen (Nation, „schaffendes“ Kapital, Staat) intendiert, der Barbarei eine breite Schneise schlägt.

Es sind gerade die extremen Seilschaften und Zusammenschlüsse in der Neuen Rechten, die sich mitunter bewusst auf die Krise – die sie als Folge einer Verschwörung gegen Deutschland imaginieren – vorbereiten: mit Todeslisten und Putschplänen. Eine beim nächsten Krisenschub angestrebte Diktatur soll dazu dienen, endlich mit der Linken durch Massenmord „aufzuräumen“. Somit ist der Neofaschismus eine Art Brandbeschleuniger der Barbarei in der Krise.

Es gibt eine Maxime politischer Praxis, der linke Bewegungen, Gruppen oder auch Parteien im 21. Jahrhundert folgen müssten, wenn sie in der gegenwärtigen Umbruchs- und Krisenepoche noch ihrem Begriff gemäss als fortschrittliche gesellschaftliche Kräfte wirken wollten. Der Kapitalismus muss schnellstmöglich in Geschichte überführt werden, das Kapitalverhältnis als gesellschaftliche Totalität muss bewusst aufgehoben werden – an diesem kategorischen Imperativ hätten sich alle praktischen Aktionen, alle Taktik, alle Reformvorschläge, alle breiteren Strategien zu orientieren.

Dies ist kein Ausdruck linken Radikalismus, sondern die Formulierung des vernünftigen, mittleren, gemässigten zivilisatorischen Minimums, ohne dessen Realisierung der Zivilisationsprozess im 21. Jahrhundert in Barbarei überführt, letztendlich in den Kollaps getrieben würde. Gerade weil das Kapital kollabiert, muss es überwunden werden. Fortschritt kann nur noch jenseits des Kapitals realisiert werden, im Transformationskampf um die Ausgestaltung einer postkapitalistischen Gesellschaftsformation.

Eine progressive Bewegung, getragen von der Einsicht in die Notwendigkeit der Systemtransformation, würde somit um die Herstellung von Bedingungen kämpfen, die diese Transformationsdynamik in eine emanzipatorische Richtung lenken würden. Die Maxime einer solchen Postpolitik bestünde einerseits in dem Bemühen, den Zivilisationsprozess aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, und andrerseits in dem Kampf um eine Überwindung des dargelegten Fetischismus. Dieser Transformation müsste offen geführt werden, indem den Menschen offensiv die Notwendigkeit der emanzipatorischen Systemtransformation in praktischen Kämpfen vermittelt würde.

Das Ziel einer progressiven Transformationsbewegung bestünde somit darin, den fetischistisch über die ohnmächtigen Menschen ablaufenden Zivilisationsprozess im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozesses bewusst zu gestalten. Die Formen, in denen sich eine sich ihrer selbst bewusste Transformationsbewegung im Rahmen der krisenbedingt zunehmenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen organisiert, würden so möglicherweise zu Keimformen einer postkapitalistischen Gesellschaft.

Die bürgerliche Politik, die Handlungen der politischen Subjekte sind somit wieder „wichtig“, sie haben Gewicht. Nicht, weil sie die Krise lösen können, sondern weil sie den Krisenverlauf bestimmen. Ein Beispiel mag das illustrieren: Ob nun ein Schäuble Europa nach Ausbruch der Eurokrise auf neoliberale Hungerdiät (Austerität) setzt, oder ob der Krisenprozess sich im Rahmen gesamteuropäischer Konjunktur- und Sozialpolitik entfaltet, ist für die weitere Krisenentfaltung von grosser Bedeutung, wie das Aufkommen nationalistischer und rechtsextremer Bewegungen im austeritätsgeplagten „deutschen“ Europa illustriert.

Die zunehmenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gegen den Abbau des Sozialstaates, gegen Demokratieabbau und polizeistaatliche Tendenzen, um eine echte Klimapolitik müssten somit als Felder verstanden werden, auf denen die gesellschaftlichen Subjekte den Verlauf des objektiv sich vollziehenden Transformationsprozesses buchstäblich erkämpfen.

Und hier kommt auch dem Klassenkampf – sofern er sich seiner Rolle als Mittel in einem Transformationskampf bewusst ist – eine wichtige Rolle zu. Der Klassenkampf ist Teil des Kampfes um den konkreten Verlauf des Transformationsprozesses.

Welche Gesellschaft für die Transformation?

Dazu muss der Klassenkampf über sich selbst hinausweisen und eben nicht mehr primär auf Anerkennung oder soziale Gratifikationen im dahinsiechenden Kapitalismus zustreben, wie es die historische Arbeiterbewegung getan hat. Die historische Expansion des Kapitalismus und des Lohnarbeitsregimes war dazu die Voraussetzung, die heute angesichts der Krise eben nicht mehr gegeben ist.

Um es mal konkret zu machen: Die Krise als Maxime emanzipatorischer Praxis zu begreifen, bedeutet hier, sich zu fragen, welche spätkapitalistische Gesellschaft in den zwangsläufigen Transformationsprozess eintreten wird. Soll es eine autoritäre, polizeistaatlich verwaltete Oligarchie mit absurden sozialen Abgründen sein, oder ein eher egalitäres, bürgerlich-demokratisches Gemeinwesen, in dem auch weiterhin Spielräume für radikale Kritik und Praxis gegeben sind?

Oberflächlich betrachtet gleicht somit eine emanzipatorische Linke, will sie ihrem Begriff gemäss progressiv im Spätkapitalismus wirken, einer existenzialistischen Figur, vergleichbar dem Sisyphos des Albert Camus, die sich bewusst einer anscheinend absurden Praxis verschreibt. Der Kampf für soziale Verbesserungen gegen Demokratieabbau, für die Gleichstellung von Minderheiten, für den Green New Deal wird im vollen Bewusstsein der binnenkapitalistischen Vergeblichkeit dieses Kampfes geführt – angesichts der eskalierenden ökonomischen und ökologischen Systemkrise.

Doch hier endet schon die Analogie. Das Bewusstsein und die Rhetorik, mit denen dieser „Kampf um das Teewasser“ geführt wird, ist entscheidend. Es gilt, den Menschen klar zu sagen, was Sache ist, dass die alte kapitalistische Welt im Sterben liegt, dass das Neue noch nicht geboren wurde – und dass es sich um einen Kampf gegen Sozialabbau, für Umverteilung, gegen Rassismus, Klimazerstörung und Kriegshetze, um einen Kampf um optimale Ausgangsbedingungen für die unausweichliche Systemtransformation handelt.

Durch diese Offenheit, die eigentlich nur das explizit macht, was an dumpfer Krisenahnung längst in der Gesellschaft unbewusst sedimentiert ist – gekoppelt mit Suche nach postkapitalistischen Organisationsformen innerhalb dieser Bewegung – könnte auch die falsche Unmittelbarkeit überwunden werden, die oft progressive Bewegungen im falschen Ganzen des Spätkapitalismus versanden liess.

Unter falscher Unmittelbarkeit ist hier die Tendenz sozialer Bewegungen zu verstehen, unbewusst in Denkformen zu verharren, die den sozialen Zuständen und Widersprüchen entsprechen, gegen die sie sich eigentlich richten.

Ein Paradebeispiel hierfür sind etwa gewerkschaftliche Kämpfe gegen Arbeitsplatzabbau, die von den betroffenen Akteuren um ihres sozialen Überlebens Willen schlicht geführt werden müssen – die aber ohne entsprechendes Krisenbewusstsein die bestehenden Gedankenformen – hier das Denken in „Arbeitsplätzen“ als einziger Option individueller Reproduktion – selbst in Krisenzeiten bei den Akteuren reproduzieren.

Ähnlich verhält es mit den Protesten gegen die Inflation, die oft verkürzt auf die Gier von Kapitalisten zurückgeführt werden – und ohne radikales Krisenbewusstsein in Ohnmacht enden müssen. Entscheidend wäre es, bei den anstehenden Krisenauseinandersetzungen offensiv die Systemfrage zu stellen, gerade weil das Kapital an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde geht. Der konkrete Protest muss mit offenem Visier als Teil eines Kampfes um die Systemtransformation, als ein Transformationskampf geführt werden.

Solche notwendigen sozialen Kämpfe müssten somit mit einer radikalen emanzipatorischen Kritik an den in Zerfall übergehenden, kapitalistischen Daseinsformen und Gedankenformen gekoppelt werden, wie schon Robert Kurz ausführte:

„Die Aufgabe besteht also darin, die emanzipatorische Kritik an den objektivierten, sozial übergreifenden Daseinsformen bzw. Gedankenformen zu formulieren und von innen heraus im sozialen Kampf geltend zu machen, um dieses kategoriale Gefängnis bewusst zu durchbrechen. […] Es kommt darauf an, einen Willen gegen die herrschende Form des Willens zu entwickeln und deren Fetischcharakter bewusst zu machen.“

Tomasz Konicz