Die kapitalistische Gesellschaft Revolutionen - Machtkampf oder Emanzipation

Politik
In früheren Gesellschaften wie der keltischen wurde in der jeweiligen Situation entschieden, manchmal von einem Tag auf den anderen, ob ein Anführer notwendig war, und das konnte im Kriegsfall auch eine Anführerin sein.


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Die beiden Grundvoraussetzungen für Demokratie sind also Qualifikation und Diskussion von Gleichen. Ein Bildungswesen, das Ungleichheit und Selektion zum Ziel hat, ist undemokratisch. Ein Volksentscheid, der nicht von allen gemeinsam diskutiert wird, ist undemokratisch. Eine Wahl, die grundsätzlich Mehrheit gegen Minderheit stellt, geht von Unterdrückung und Verlierern aus. Parteien vertreten per se partikulare Interessen. Der Begriff ‚Volkspartei' ist folglich eine Lüge. Eine Regierung, die nur die Interessen der Zwanzig Prozent vertritt, die letztlich zum Wahlerfolg geführt haben (USA, Frankreich, Deutschland), ist auf dem Weg zur Oligarchie und näher dran an Russland, als sie denkt, weil Freiheit und Gleichheit im Westen auch nur relative Grössen sind. Im Feudalismus (wie in Saudi-Arabien) bestimmt eine Königsfamilie die Regeln und setzt sie mit brutaler Gewalt durch.
Politik wird gewissermassen zuhause bei Königs gemacht, die den Machtapparat beherrschen, mit dem sie die Regeln durchsetzen. Die eigentliche Gewalt aber liegt in den Regeln. Das funktioniert umso besser, je glaub-würdiger die Regeln sind. Religion hat eine wichtige Rolle, denn sie verweist auf eine höhere Instanz. Der römische Kaiser war göttlich. Der Papst ist zumindest Stellvertreter Gottes auf Erden. So leiten viele islamische Herrscher die Regeln weiterhin aus ihrer Koran-Interpretation ab. Selbst die Nazis suchten die Kollaboration mit Priestern und Pastoren der beiden Amtskirchen.
Die bürgerliche Gesellschaft hat den modernen Staat herausgebildet. Er beruht auf der Teilung der politischen Gewalt. Die Regeln der Gesellschaft sind in Gesetze gefasst, von der Polizei werden sie durchgesetzt, von Richtern wird Streit geschlichtet.[1] Offiziell geht alle politische Gewalt vom Volk aus, aber real darf es sie nicht selbst ausüben, denn das Gewaltmonopol liegt bei den Politikern, in letzter Instanz beim Machthaber oder Präsidenten. Er entscheidet im Notfall über Krieg und Bürgerkrieg. Er diskutiert nicht mit dem Volk, sondern nur mit dessen gewählten Vertretern in Gewerkschaften und Parteien. Der politische Apparat der Parteien funktioniert gut, weil er Teilhabe an der Macht verschafft, Einfluss bedeutet, Aufstieg ermöglicht und das Alter sichert.[2] Im Grundgesetz steht nicht, dass sie die ganze Staatsmacht erhalten. Die Sphäre des Staates ist nicht undurchlässig zur Gesellschaft, sondern viele ihrer Privilegien beziehen die Politiker gerade aus der „Wirtschaft“, die wie in allen hierarchischen Strukturen durch Bestechung versucht, Einfluss zu nehmen. Aber selbst ohne Bestechung wäre die Machteroberung hoffnungslos, denn die eigentliche Gewalt liegt gar nicht im Staat. Sie ist nicht politisch, sondern ökonomisch. Die ökonomische Gewalt steckt in den Regeln der Produktion und Verteilung von Lebensmitteln und -bedingungen, die vorgegeben sind und politisch von Staatswegen garantiert werden. Dafür braucht der Staat das Gewaltmonopol. Aber keine Regierung kann an den Grundsätzen etwas ändern, weil ihr Auftrag ist, die Regeln zu schützen.
So war es nach dem 2.Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland auch nicht das Volk, das die Regeln bestimmt hat, sondern eine Kommission, die von der Besatzungsmacht USA eingesetzt wurde. Die DDR wurde später ungefragt angeschlossen. Spuren der Stimmung im deutschen Volk 1945 sind noch spürbar, wenn es in Artikel 14 heisst „(2)Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. [3] Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“. Immerhin war deutsche Grossindustrie am Krieg wie an den Konzentrationslagern massgeblich beteiligt. Die Sozialisierungsforderungen aus der deutschen Arbeiterschaft nach 1945 wurden mit Hilfe der USA unterdrückt. Sie sorgten sogar dafür, dass die alten Unternehmensführer wieder eingesetzt wurden. Artikel 14 hätte auch die Konsequenz haben können, dass alle Gewinne zu vergesellschaften sind, weil das Wohl der Allgemeinheit ein hohes Gut ist. So aber wurde der Kapitalismus in seinen Funktionsprinzipien nicht angetastet. Dafür hatten die USA nicht gekämpft, im Gegenteil. Ihr Hauptgegner war nicht der Faschismus gewesen, sondern der Kommunismus.
Es wird genauer zu schauen sein, wo überall der „stumme Zwang der Verhältnisse“ sein Unwesen treibt, um zu bestimmen, was Revolution in der Gesellschaft bedeutet.
Wir können nur Subjekte unserer eigenen Geschichte und Zukunft sein, wenn wir betrachten, woher wir kommen. Unsere abendländische Kultur ist älter als die Stadt Narbonne, in deren Nähe ich lebe und die mit mehr als zweitausend Jahren Existenz Zeugnis vieler Auseinandersetzungen ist, an denen nicht erst die Nazis im 2. Weltkrieg, sondern schon im Mittelalter deutsche Stämme beteiligt waren, Sueben und Goten ab 400, danach die Franken. Die Germanen haben in ihren Völkerwanderungen das Römische Imperium vernichtet. Karl Martell hat im 8. Jahrhundert in Südfrankreich die Städte verwüstet, Karl der Grosse etwas später im Norden Spaniens, beide Male im Namen der christlichen Religion.
So ist es auch notwendig, sich die Geschichte des Kapitalismus genau anzuschauen, wenn man seine Nachteile begreifen und sein Ende wünschen will. Die Griechen haben in Athen die Vorstellung von Demokratie entwickelt, in der das Volk herrscht und es keinen gesonderten Machtapparat (Staat) gibt. Es war eine Stadtrepublik von freien Bürgern, aber Frauen, Fremde und Sklaven gehörten nicht zum „Demos“, dem Volk. Insofern wurde auch Athen dem eigenen Anspruch nicht gerecht.
Das städtische Bürgertum war für die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft entscheidend. Es hat als Klasse (Bourgeoisie) mit Hilfe des Volkes die Macht erobert, aber nirgends wurde es Alleinherrscher. Immer blieben religiöse Organisationen und feudale Machthaber beteiligt, auch wenn sie vorübergehend entmachtet schienen (Enthauptung des Königs, Enteignung der Kirche). In Europa ist bis heute der Grossgrundbesitz oft in der Hand von Kirchen und Adligen, die als Unternehmer auch zum Kapital gehören können, nicht jedoch zur Bourgeoisie. Die Kirchen sind mächtige „Arbeitgeber“ in Deutschland mit eigenen Rechten. Eine kapitalistische Gesellschaft kann also unterschiedliche politische Mischformen annehmen, sofern sie überhaupt Kapitalwachstum befördern. Der arabische Scheich kann es rücksichtsloser durchsetzen als die deutsche Kanzlerin, aber er vernachlässigt notgedrungen das Konkurrenzprinzip und damit das freie Unternehmertum. Selbst China ist auf dem Weg, sich diesem Wachstumsprinzip oder –gebot beziehungsweise –zwang anzupassen, nachdem es sich in der Anfangsphase vor der Übernahme durch ausländische Unternehmen geschützt hatte. Staaten, die dazu ökonomisch nicht in der Lage waren, sind „abgewickelt“ worden (zum Beispiel Polen, DDR), so dass westdeutsche Unternehmen ganze Branchen übernehmen konnten.
Die Macht der Kirchen wird immer wieder unterschätzt, obwohl sie seit zwei Jahrtausenden europäische Geschichte machen. Die Grundprinzipien des Kapitalismus sind Konkurrenz, Neid und Gier. Die Grundprinzipien der Kirchen sind Alleinvertretungsanspruch, ideologische Vormacht, Autorität. In der Abgrenzung von Juden treffen sie sich. Juden als Kaufleute und Bankiers sind traditionell erfahrener und besser. Erfolg macht neidisch. Die jüdische Gemeinschaft in der Gesellschaft eignete sich zur Projektion eigener Probleme auf die Andersgläubigen.
Die uralte christliche Feindschaft gepaart mit modernster kapitalistischer Industrie erzeugte die deutsche Ausrottungsorgie in den KZs, gegen die sich deutsche adlige Militärs am Ende stellten.
Die Macht des Adels ist durch die Fokussierung auf das Bürgertum und die Vertreibung des Kaisers aus dem Blick geraten, obwohl der Adel die treibende Kraft gegen die Weimarer Republik war. Er war entscheidend am 2. Weltkrieg beteiligt und hat sich zu spät von Hitler losgesagt. Das Attentat hätte nicht mehr viel verändert, wenn es gelungen wäre, jedoch hat es den Mythos widerständiger Adliger begründet.
Der Adel ist im Militär und der Politik bis heute einflussreich, aber entscheidend ist seine Machtposition als Privateigentümer an Grund und Boden. Selbst die Atomindustrie hat es nicht geschafft, Graf von Bernstorff zu enteignen, um in Gorleben ihr Endlager zu bauen. Der Adel hat die Voraussetzungen für den besitzlosen Proletarier geschaffen, indem er mit dem Schwert und dem Kreuz Menschen in die Leibeigenschaft zwang. Mit brutalster Gewalt und Krieg hat General Franco mit seinem katholischen Partner vier Jahrzehnte lang dieses Grundeigentum in Spanien verteidigt, das die Republik im Begriff gewesen war abzuschaffen. Spaniens Feudalmächte Adel und Kirche haben bis heute die Fäden in der Hand, auch wenn offiziell die politische Macht beim Parlament liegt.
Das Bürgertum hat ab dem 18. Jahrhundert in Deutschland eine Öffentlichkeit hergestellt, die notwendig war, um die Gesellschaft zu entwickeln.3 Freiheit des Denkens, der Wissenschaft, der Forschung. Entwicklung von Industrie und Technik. Am Anfang standen Kaffeehäuser als Orte des Austausches.[4] Heute ist diese Freiheit verschwunden. Die Forschung ist in den Händen der Unternehmen, sie bestimmen sogar die universitäre Forschung, die ohne „Drittmittel“ nicht mehr funktioniert. Dieser Ausdruck Drittmittel soll verschleiern, dass kapitalistische „Wirtschafts“-Unternehmen unmittelbar Einfluss auf die Forschung nehmen. Die OECD[5] hat seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts alles dafür getan, dass Schulen, Hochschulen und Ausbildungen international vergleichbar und an die Bedürfnisse der „Marktwirtschaft“ angepasst werden.
Der Begriff Marktwirtschaft ist Schönfärberei, denn eine Wirtschaft ohne Markt hat es in der Menschheitsgeschichte kaum gegeben. Er soll Freiheit und Wohlsein suggerieren und verschleiert seine Chaotik und Gedankenlosigkeit, die sich in immer wiederkehrender Überproduktion und krisenhaftem Zusammenbrechen manifestieren. Die Medien sind überwiegend in „privater“ Hand (von Kapitalisten), durch Drittmittel in Form von Werbung an Unternehmen gebunden und politisch kontrolliert, so dass von Unabhängigkeit keine Rede mehr sein kann. Nur wenige Medien haben noch unabhängige Redaktionen und sorgen für eine Gegenöffentlichkeit, deren Breitenwirkung vergleichsweise gering, aber nicht zu unterschätzen ist. Das macht die Attraktivität der „sozialen“ Medien aus, den Wildwuchs jedoch die Orientierung erschwert. Man muss schon wissen, bevor man glauben kann. Freies Denken ist selten, selbst unabhängige Forschungseinrichtungen haben Parteien oder Firmen als Auftraggeber.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Öffentlichkeit für die Aufklärung entscheidend war, jedoch nur in Form von bürgerlicher Öffentlichkeit durchgesetzt wurde, haben Negt/Kluge[6] die Notwendigkeit und Bedeutung proletarischer Öffentlichkeit betont. Zweifellos hat es sie zeitweilig gegeben und war sie lebenswichtig, denn in ihr konnte ein Klassenbewusstsein entstehen. Arbeitervereine und Gewerkschaften trugen zur Verbesserung der Lebenssituation und zum Zusammenhalt bei. Die Spaltung der Linken in Parteiungen führte jedoch zur Zersplitterung, gegenseitigen Lähmung und Stellvertreterpolitik. An die Stelle des Proletariats trat die einzige richtige Partei, die den Weg wies, und davon gab es zwei, dann drei. Die Spalterei nahm kein Ende, je unbedeutender die Bewegung wurde. Der grösste Feind der KPD war in den dreissiger Jahren die SPD – und nicht die Nazis der NSDAP. Die proletarische Öffentlichkeit beruhte auf der identischen Lebens- und Arbeitssituation, die von Millionen Menschen geteilt wurde. Schon der Weg zur Arbeit wurde gemeinsam unternommen. Fast das ganze Leben wurde geteilt, denn Urlaub gab es nicht, Freizeit kaum, und auch das Wohnen war in Arbeitervierteln gemeinschaftlich. Diese Situation ist in den hochindustrialisierten Ländern Vergangenheit – und damit auch die proletarische Öffentlichkeit, die aus gemeinsamer Not geboren war. Heute reduziert sich Gemeinsamkeit auf seltene Streikerfahrungen. Solidarität unter Lohnabhängigen wird in grösseren Betrieben zusätzlich untergraben durch Spaltung vermittels unterschiedlicher Arbeitsverträge (feste Stellen, Leiharbeiter, Zeitarbeiter).
Seit 2008 gibt es Aufstände, die zu neuen Formen der Öffentlichkeit gefunden haben. Immer ging es darum, gemeinschaftlich Plätze zu besetzen, die zentrale Bedeutung haben. Das war in der Türkei nicht anders als bei Occupy oder in Spanien bei den Indignados. Immer auch ging es dabei um demokratische Strukturen des Diskutierens, des Entscheidens und des Agierens. Sehr zum Verdruss der Medien und der Politiker gelang es ihnen – wie bei den Gelben Westen – lange Zeit nicht, Sprecher oder Stellvertreter herauszufinden, mit deren Hilfe eine Spaltung der Bewegung in die gesprächs-, verhandlungsbereiten, gewaltfreien „Guten“ und die kriminellen Chaoten zu erreichen war. Am erfolgreichsten sind die Machthaber dann, wenn sich daraus eine Partei formieren lässt, die in das Stellvertretersystem der Parteiendemokratie eingebunden werden kann (Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland). So wie damals die grüne Partei an die Stelle der Bewegung getreten ist und inzwischen nur noch Realpolitik im Bündnis mit den anderen Parteien betreibt.
Sie ist im Rahmen der bürgerlichen Öffentlichkeit eine wichtige Partei, aber verstellt den Blick auf eine ökologische Politik jenseits des Kapitalismus. Sie muss ihre Politik kompatibel machen und die Autoindustrie stützen. Damit verhindert sie den Umbau des Verkehrswesens in zukunftsweisender Richtung. Das Elektroauto soll eine neue und gesteigerte Nachfrage nach Autos schaffen, nicht ihre Reduzierung oder Abschaffung, und damit nach Energie, die bislang aus Atomkraft und Braunkohle (und bislang nur 40 % Erneuerbaren) gewonnen wird. Das Kollabieren des Stadtverkehrs wird beschleunigt. Es gibt kein Konzept, nur parteiische Interessen an Bundestagsmandaten. Es bleibt in letzter Konsequenz Green-Washing, Tünche – wie die Mülltrennung, bei der nur zwanzig Prozent deutschen Mülls recycelt wird.
Wir brauchen eine Gegenöffentlichkeit, die sich nicht mit dem Bestehenden abfindet, eine revolutionäre Öffentlichkeit. Die „sozialen“ Medien wie Facebook wären diese Öffentlichkeit selbst dann nicht, wenn sie nicht in der Hand von Oligarchen wären, denn sie sind nur eine Form des Telefonierens und ersetzen den direkten Kontakt zwischen Menschen nicht. Auch Skypen suggeriert nur Nähe, deren Verlust dadurch gemildert wird. So empfinden viele. Zugleich macht Skypen die trennende Distanz bewusst und weckt unerfüllbare Wünsche.
Die Zunahme psychischer Erkrankungen ist eine Folge der entfremdeten Lebenssituation einschliesslich der Arbeit, deren physische Anstrengung in zu geringer Bewegung liegt, während die psychische Belastung enorm zugenommen hat. Darauf beruht der Erfolg von Drogenhändlern und Pharmaindustrie. Er macht das Leben erträglich und entfremdet es noch mehr. Es muss uns also darum gehen, Orte der direkten Begegnung zu schaffen, in denen gemeinsame Erfahrungen möglich werden. Wir haben in der Therapiebewegung der achtziger und neunziger Jahre erlebt, wie bedürftig alle Menschen nach Kontakt sind. Damit meine ich nicht die Surrogate – Massenveranstaltungen wie Fussball oder Konzerte, die ein emotionales Ventil öffnen, jedoch keinen Kontakt herstellen.
Letztlich geht es um Menschenrechte für alle Menschen. Sie müssten die Fundamente politischen Handelns sein. Aber nicht jedes Recht ist menschlich. Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen zu steinigen oder auf dem elektrischen Stuhl umzubringen. Keiner hat das Recht, Krieg zu führen. Zum Beispiel. Was machen wir mit Rechten, die andere Menschen einschränken? Bei den zehn Geboten im Alten Testament, auf die sich Juden, Christen und Moslems berufen, geht es auch um meine Partnerschaft und meinen persönlichen Besitz.
Das Recht auf Eigentum ist harmlos, wenn es um meine Zahnbürste geht. Bei meiner Frau kommt schon Streit auf. Bei Grund und Boden, Bodenschätzen, Wasser und den Produkten meiner Arbeit gerate ich in wirkliche Konflikte mit den kapitalistischen, feudalistischen und religiösen Eigentümern, die mit Gewalt privatisiert haben, was allen zusteht – oder besser niemandem. Bald wird auch die Luft privatisiert und in Tüten verpackt den Menschen mit Atembeschwerden verkauft – in Stuttgart zum Beispiel und in China. In der Schöpfungsgeschichte der drei mosaischen Religionen steht der fatale Satz, der ein Freibrief für alle Raubritter bis zu den modernen Unternehmern ist: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht![7]“
Der Herrschaftsgedanke durchzieht das Alte Testament und dient der Legitimation der Naturbeherrschung, aber nicht nur ihr. Andere Schöpfungsgeschichten anderer Volker sind weniger gierig. Diese „Ungläubigen“ galten jedoch als Vorstufe zum Menschen nach dem Affen. Das Recht auf Boden haben sich die christlichen Siedler Amerikas mit Waffengewalt geraubt. Es ist weder natürliches, noch menschliches Recht, sondern das Recht des Stärkeren und steht nicht in ihrem Neuen Testament. Die Besitztümer der christlichen Kirchen sind nicht alle geraubt, sondern vielfach von Räubern geschenkt worden.
Die Ritterorden waren soldatische Truppen der Kirche, zum Teil dem Papst direkt unterstellt, die Moslems und Reformatoren bekämpfen und Besitztümer erobern sollten. Der Vatikanstaat selbst war ein grosses weltliches Reich. Viele heutige Besitztümer gehen immer noch auf die Raubritter-Zeit im Mittelalter zurück, in der Katholiken andere Christengemeinden wie die Waldenser und die Katharer abschlachteten. Das geschah in Frankreich von Karl Martell im 8. bis Ludwig XIV im 18. Jahrhundert, ein tausendjähriges Reich.
Alle fortschrittlichen bürgerlichen Verfassungen berufen sich auf die Menschenrechte, doch bleibt ihr demokratischer Anspruch abstrakt. Formal wird Gleichheit postuliert, tatsächlich herrscht Vielfalt in Form von Partikularinteressen, die sich in Gruppen, Organisationen und Parteien zusammenschliessen und miteinander konkurrieren. Die jeweilige Mehrheitsposition darf dann ihre Interessen gegen die anderen durchsetzen. Konkurrenz ist das Menschenbild, Sieg und Niederlage, Dominanz und Unterwerfung. Die Menschenrechte so übersetzt können nicht besser sein als das zugrundeliegende patriarchale Menschenbild.
Fakt ist, dass heutzutage bei den Wahlen (je nach Wahlgesetz leicht unterschiedliche Verfahren, aber ähnliche Resultate) 20 bis 30 Prozent der erwachsenen BürgerInnen die Präsidentschaft bestimmen. Der Unterschied zur russischen Demokratur ist gross, aber er ist relativ, wie Hitler nachhaltig bewiesen hat, als er durch Wahlen an die Spitze kam. Die Herrschaft ist in jeder bürgerlichen Verfassung konstitutiv verankert, denn die politische Macht wird von den Parteien kontrolliert und ausgeübt. Theoretisch könnte das Volk „seine“ Volks-Partei wählen gegen die Herrschenden. Aber die gibt es nicht, hat es nie gegeben. Wenn es bedrohlich für die Herrschenden wurde, hat das Militär geputscht (Deutschland 1919, Spanien 1936, Chile 1973 …), obwohl die Systemfrage eigentlich nur in Spanien gestellt wurde.
Eine Rätedemokratie wie im Deutschen Reich nach dem Weltkrieg wäre mit dem Kapitalismus kompatibel gewesen. Anders als Hannah Arendt meint, ist die Durchsetzung der Rätedemokratie keine Erringung der politischen Macht, sondern nur der staatlichen Macht, die Arbeit der gesellschaftlichen Veränderung blieben zu tun und hätte im revolutionären Prozess vom Volk durchgesetzt werden müssen. Die Räte aber waren nach Parteienproporz besetzt und schlossen immer wieder das Volk aus. Friedrich Eberts SPD hingegen hatte die Unterstützung der gesellschaftlichen Mächte und konnte sich durchsetzen, bis er nicht mehr gebraucht wurde und die normalen bürgerlichen Parteien wieder „ans Ruder“ kamen.
Der Aufstand der „Gelbwesten“ kritisierte ganz richtig die Ausschaltung des Volkes bei der Gestaltung der französischen Gesellschaft. Aber ihre Forderung nach Volksentscheiden auf allen Ebenen zusätzlich zum Parlament korrigiert lediglich die Abgehobenheit des Staatsapparates.
Das Beispiel der Schweiz zeigt, wie sehr Volksentscheide manipuliert werden können, wenn sie nicht aus intensiven Diskussionszusammenhängen entstehen. Sie müssten Bestandteil des alltäglichen Lebens werden, damit wirklich alle in die Lage versetzt werden, dass sie wissen, was sie tun, wenn sie Entscheidungen treffen. Die politischen Eliten können nur deshalb manipulieren, weil sie wissen, was sie tun, aber es nicht verraten.
Der moderne Staat wie in der Schweiz vermittelt nicht nur die Illusion der Mitbestimmung der Verhältnisse, die in ihrem Kern unberührbar bleiben. Er erreicht die Zustimmung zu diesen entfremdeten Verhältnissen, weil sie für selbstverständlich und unverrückbar gehalten werden, obwohl sie sich erst im letzten Jahrhundert durchgesetzt haben und von Menschenhand sind.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die kapitalistische Gesellschaft sehr anders, nämlich klar strukturiert. Von Geburt an wusste das Arbeiterkind, dass es die Pflichtjahre auf der Volksschule zu absolvieren hatte und dann in die ausgetretenen Fussstapfen der Eltern trat. Das Proletariat war verinnerlicht (genetisch vorbestimmt würden manche Forscher behaupten) und äusserlich an Sprache, Kleidung, Gewohnheiten erkennbar. Die Realschule war für die Mittelklassen, das Gymnasium für die gesellschaftlichen Führungspositionen, die geistige Elite. Die Bourgeoisie hatte Privatunterricht zur Vorbereitung auf die Nachfolge im Unternehmen. Noch 1960, in meiner Jugend, war es unvorstellbar für viele Arbeiterväter, dass ihr Kind Abitur machte. Das letzte Mädchen aus proletarischen Verhältnissen in meiner Klasse musste nach der Mittleren Reife abgehen, weil der Vater verlangte, dass sie nun endlich mitverdiente. Bis heute wurden die Grenzen bewusst verwischt, aber die Verhältnisse sind auch nicht mehr so.
Die OECD hat weltweit eine Schulpolitik durchgesetzt, die Illusionen zementieren soll: Dass die gesellschaftliche Position von der persönlichen Leistung abhängig sei. Für den Erfolg im Berufsleben sei der schulische Erfolg Voraussetzung. Moderne Eltern lassen ihre Kinder schon im Kindergarten Fremdsprachen lernen, setzen sie mit 2 Jahren ans Klavier, beginnen das Fussball-Training, sowie das Kind sich selbständig fortbewegen kann. Lauter Wunderkinder entstehen. Zusätzlich zum schulischen Lernprogramm, das ganztägig die Eltern von ihrer Aufgabe befreit, werden später Trainingsgruppen verordnet (Ballett, Sport, Musik…), so dass SchülerInnen längere Arbeitstage haben als ihre Eltern, die deshalb bereitwillig ihren Nachwuchs zu seine Aktivitäten begleiten (im Auto, geht schneller). Die Vermögenderen investieren noch mehr in den Erfolg ihrer Kinder und zahlen das Schulgeld der privaten Einrichtung, wo man sicher vor Kindern aus den unteren Schichten ist. Die Formatierung ist meist schon vor der Pubertät abgeschlossen.
In Deutschland greift die Illusion noch, dass jedem Kind die Welt offen stünde und alle nach oben kommen könnten, wenn sie sich anstrengen. Lohn für Leistung. Man schaue sich Schröder, Fischer oder Merz an, die sogar in die Chefetagen aufgestiegen sind. Das macht auch die Attraktivität von politischer Arbeit aus, die als Sprungbrett verstanden wird, was sie dank Lobby-Arbeit tatsächlich ist. Aber eben nur für einige, wenige, die sich mühsam aus ihrer Schicht hochgearbeitet haben. Ob sie glücklich sind, fragt niemand.
Allerdings ist Deutschland bekannt dafür, dass die Grenzen zwischen den Schichten nur scheinbar so durchlässig sind, obwohl es weniger Arbeitslosigkeit als anderswo gibt. In anderen Staaten wie Frankreich gehen Hochschulabsolventen nach 6 Jahren Studium regelmässig in die Arbeitslosigkeit und finden sich anschliessend auf einem Arbeitsplatz wieder, für den sie überqualifiziert sind (Koch oder Barfrau zum Beispiel). Jugendarbeitslosigkeit ist fast in allen Staaten der EU ein grosses Thema und entwertet alle Anstrengungen.
Diese internationale Veränderung von Erziehung, Bildung und Ausbildung in kapitalistischen Staaten hat entscheidende Konsequenzen: Es gibt kein Klassenbewusstsein mehr.
Scheitern wird als persönliche Unzulänglichkeit verarbeitet. Andere haben geschafft, wo man selbst versagt hat.
Die Persönlichkeit ist so zugerichtet worden, dass sie die Entfremdung verinnerlicht und selbst reproduziert.
Das Zurückstellen der Bedürfnisse, das Akzeptieren von „Entschädigungen“ für den angerichteten Schaden in Form von „Belohnungen“ (Süssigkeiten Klamotten, Schmuck, Events) machen die Zurichtung komplett.
Früher war nur der „Lohn“ Ersatz für Arbeitsmühsal und verlorene Lebenszeit. Heute haben die Waren- und die Erlebniswelt, das Spektakel, die Belohnung verallgemeinert auf ein Lebensprinzip. „Man darf sich auch mal was gönnen.“
Das Lebensziel wird die Rente. Bis dahin muss man durchhalten. Nicht alle, die es schaffen, sind dann noch so fit, dass sie den Lebensabend geniessen können. Das Konkurrenzprinzip (alle rennen, aber nur einer wird gewinnen) gehörte immer schon zum Kapitalismus, aber gepaart mit dem Leistungsprinzip ist es zu einer eingebrannten Charaktereigenschaft geworden, die im Anderen immer den Konkurrenten sieht, der die eigene Position bedroht.
Auch die Gier nach Besitz, Erfolg, Reichtum wurde immer schon vom Kapitalismus geschürt. Sie ist in Form des Neids heute ebenfalls zu einer Charaktereigenschaft geworden. Die gleiche soziale Lage auf Grund derselben Klassensituation machte früher Solidarität nötig und oftmals auch möglich, weil diese Lage alltäglich gemeinsam erfahren wurde. Heute werden schon Italiener oder Griechen in der Ferne als Konkurrenten empfunden, weil man gesagt bekommt, dass sie uns bestehlen wollen. Die grösste „Bedrohung“ sind die „Wirtschaftsflüchtlinge“, die auch noch unsere Frauen überfallen.
Fussnoten:
[1] Grundgesetz Deutschland: Artikel 20: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
[2] Artikel 21 [1] Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.
[3] Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit
[4] Gerd Stange, Islam und Aufklärung. Türkische Kaffeehäuser in Paris
[5] Organisation for Economic Cooperation and Development. Ständige Konferenz der 36 wichtigsten Industrienationen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Kapitalismus
[6] Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit
[7] www.bibel-online.net/buch/schlachter_1951/1_mose/1/
Auszug aus Gerd Stange: Revolutionen - Machtkampf oder Emanzipation. Edition Contra-Bass.
[1] Grundgesetz Deutschland: Artikel 20: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
[2] Artikel 21 [1] Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.
[3] Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit
[4] Gerd Stange, Islam und Aufklärung. Türkische Kaffeehäuser in Paris
[5] Organisation for Economic Cooperation and Development. Ständige Konferenz der 36 wichtigsten Industrienationen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Kapitalismus
[6] Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit
[7] www.bibel-online.net/buch/schlachter_1951/1_mose/1/
Auszug aus Gerd Stange: Revolutionen - Machtkampf oder Emanzipation. Edition Contra-Bass.