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Wie die Macht der Politiker begrenzt werden kann Der Ostrakismos muss wiederkommen

Politik

Es wird Zeit, einen Brauch der Antike wiederzubeleben, nämlich die Entmachtung der zu Mächtigen mittels des Ostrakismos.

Scherbengericht (Ostrakismos, altgriechisch ὁ ὀστρακισμός ho ostrakismós; früher überwiegend latinisiert Ostrazismus) in der griechischen Antike.
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Scherbengericht (Ostrakismos, altgriechisch ὁ ὀστρακισμός ho ostrakismós; früher überwiegend latinisiert Ostrazismus) in der griechischen Antike. Foto: Qwqchris (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

16. Mai 2023
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Politische Fehler könnten auf diese Weise verhindert werden, die Demokratie gerettet werden. Es handelt sich um den gewaltlosen Aufstand der Massen.

Der Ostrakismos ist das legendäre Scherbengericht im antiken Griechenland. Es diente dazu, Politiker, die zu mächtig wurden, aus dem Stadtstaat zu verbannen. Einmal im Jahr konnten die Bürger der Stadt jeder einen Namen auf eine Tonscherbe ritzen. Derjenige, dessen Name dabei am häufigsten auftauchte, wurde für zehn Jahre verbannt. So wurde verhindert, dass ein einzelner Politiker zu mächtig wurde. Das war wichtig, um die Demokratie nicht zu gefährden. Sollte der Ostrakismos heutzutage wiederbelebt werden, würde es natürlich ohne Verbannung ablaufen. Ein zehn- oder zwanzigjähriges politisches Betätigungsverbot sollte ausreichen.

Warum aber wird der Ostrakismos wiederkommen?

Die kollektive Psyche der Menschheit wird gegenwärtig weiblich (Liegener, C.-M., 2023. Die weiblich werdende Welt. Siebte Auflage. Norderstedt: Books on Demand). Nun ist es so, dass Frauen es bevorzugen, Netzwerke zu bilden, während Männer gern Hierarchien errichten (Schwarz, G., 2007. Die "Heilige Ordnung" der Männer: Hierarchie, Gruppendynamik und die neue Rolle der Frauen. 5. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S.235). Das bedeutet, dass sich in der weiblich werdenden Welt Demokratien gegenüber Autokratien durchsetzen werden. Letztendlich werden wir bei Basisdemokratien oder einer allgemeinen Anarchie landen, die aber positiv zu sehen ist, weil sie allgemein anerkannt sein wird und funktionieren wird. Einer der Abwehrmechanismen gegen die Autokratie wird der Ostrakismos sein. Ein wichtiges Merkmal der weiblich werdenden Welt, ist, dass Kriege verschwinden sollten. Ein Zeitalter des Friedens steht uns bevor. Auch dabei kann der Ostrakismos helfen. Kriege werden immer von den Machthabern der betreffenden Länder geführt. Werden diese nun ostrakisiert, enden die Kriege.

Die Politiker werden naturgemäss gegen die Wiedereinführung des Ostrakismos sein. In einer Basisdemokratie sollte man ihn dennoch erzwingen können. Wenn es zu einer Anarchie kommt, erst recht.

Eigentlich sollen bei uns Wahlen die Rolle der Machtkontrolle spielen, aber es hat sich gezeigt, dass sie wegen der Struktur der politischen Landschaft nur begrenzt zu einem wirklichen Machtwechsel führen können. Durch die hierarchische Struktur der Parteien ist keine echte Wahl mehr möglich. Es gibt nur wenige Parteien, die zur Wahl stehen, und die Spitzenkandidaten haben durch die Machtkämpfe beim Aufstieg in der Hierarchie bereits so viele Minuspunkte eingesammelt, dass die eigentliche Wahl nur noch die Wahl des geringeren Übels darstellt. Eine Auswahl von Themen ist kaum möglich und viele finden keinen für sie geeigneten Repräsentanten auf dem Wahlzettel.

Wahlen sind also ein stumpfes Schwert, wenn es um grosse Richtungswechsel und Entmachtung der ganz Grossen geht. Auch sind die Wahlen zu grob eingestellt, als dass sie einzelne Personen wirksam treffen könnten. Eine Ergänzung der Wahlen durch einen Ostrakismos könnte daher auch heute sinnvoll sein. Es würde ja genügen, wenn der oder die Betreffende, der für zu mächtig befunden wird, für zehn oder zwanzig Jahre auf jede politische Betätigung verzichten würde. Diese Massnahme könnte helfen, Amtsmissbrauch und Willkür zu verhindern.

Noch besser wäre es, wenn nicht nur einer, sondern mehrere und nicht nur zu Mächtige betroffen wären, sondern auch Politiker, die in anderer Weise gegen die Interessen der Bevölkerung verstossen. Normalerweise ereignen sich solche Verstösse gern am Anfang oder in der Mitte der Legislaturperiode, weil sie dann bis zur nächsten Wahl oft vergessen sind. Hier könnte der Ostrakismos helfen, die betreffenden Politiker zeitnah zur Verantwortung zu ziehen, was auch dazu führen dürfte, dass Politiker nicht mehr leichtfertig gegen die Interessen der Wähler verstossen. Es wäre das erste Mittel, politische Fehler, wenn sie zu gross wären, auf der Stelle zu ahnden. Das sprichwörtliche „Aussitzen“, das Politiker so gern praktizieren, würde dann entfallen.

Zu guter Letzt muss auch die Frage nach der moralischen Rechtfertigung gestellt werden. Schliesslich beeinträchtigt man durch den Ostrakismos das Leben des dermassen Verurteilten und das ohne ein rechtskräftiges Verfahren. Ist das nicht Lynchjustiz? Nein; denn erstens wird keiner gelyncht, sondern nur daran gehindert, mit etwas fortzufahren, das der Gemeinschaft schadet. Ein körperlicher oder materieller Schaden entsteht dem Betroffenen nicht, er behält alle seine Bürgerrechte. Auch wird er nicht inhaftiert oder in seiner Freizügigkeit eingeschränkt. Zweitens werden durch die umfassende Abstimmung demokratische Grundsätze geachtet. Es ist nicht die Willkür Einzelner, die entscheidet, sondern der Wille der Mehrheit.

Auch von Mobbing muss man sich abgrenzen. Beim Ostrakismos wird nicht ein Schwächerer tyrannisiert, sondern die Schwachen verbünden sich, um einen Mächtigen zu entmachten. Es ist der gewaltlose Aufstand der Massen. Auch wird der Betreffende nicht schikaniert. Er wird in Ruhe gelassen und kann in aller Ruhe als Privatmann seinen Geschäften nachgehen und seine Freundschaften pflegen, nur eben nicht mehr ein öffentliches Amt bekleiden und das Gemeinwohl beeinflussen.

Die Vorteile überwiegen. Der Bürger hätte nicht mehr das Gefühl, der Willkür der Politiker machtlos gegenüberzustehen. Die Politikverdrossenheit, die sich immer mehr verbreitet und unsere Demokratie gefährdet, würde verschwinden. Die Einführung des Ostrakismos könnte nach einer entsprechenden Mobilisierung der Bevölkerung durch einen Bürgerentscheid/Volksbefragung ermöglicht werden. Die Kosten wären überschaubar, der Nutzen für die Demokratie unbezahlbar.

Christoph-Maria Liegener

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