Die Ausgangspunkte diverser Imperialismustheorien Antifaschismus, Antiimperialismus und Internationalismus

Politik

Seit einigen Monaten wird in Deutschland eine durchaus fruchtbare Debatte über die Zukunft der „Antifa“- Bewegung geführt. An ihr beteiligten sich Gruppen wie Berliner North-East Antifascists, kritik & praxis – radikale Linke [f]rankfurt oder etwa die Antifaschistische Linke International aus Göttingen.

Antifa Graffiti in Italien.
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Antifa Graffiti in Italien. Foto: Albertomos (CC BY-SA 4.0 cropped)

19. Oktober 2015
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Dutzende Beiträge wurden verfasst, gelesen und relativ breit diskutiert. Wir haben uns mehrfach als Lower Class Magazine in dieser Diskussion zu Wort gemeldet, zuletzt am 28. Mai 2015 mit einem ausführlichen programmatischen Text auf der Thema-Seite in der Tageszeitung junge Welt.

Dort argumentierten wir – mit Rückgriff auf historische Texte der Antifaschistischen Aktion und Bezugnahme auf aktuelle Kampffelder – für die Wiederbelebung einer Gleichung: Antifaschismus = Klassenpolitik + Antiimperialismus + Selbstschutz. In zwei der drei Bereiche – Klassenpolitik und Selbstschutz (der selbstverständlich auch die Hilfe beim Schutz anderer vor faschistischen Umtrieben beinhaltet) – gibt es zumindest unter den grösseren Organisationen und Gruppierungen in Deutschland einen weitreichenden Konsens, wenngleich auch die Umsetzung, der tatsächliche Bruch mit Eventpolitik und Symboltheater, auf sich warten lässt.

Anders verhält sich das in Sachen Antiimperialismus. „Antiimperialismus“ geniesst in grösseren Teilen der deutschen Linken keinen guten Ruf. Die reformistische parteimässig organisierte Linke hat die Vokabel ohnehin aus ihrem Wortschatz gestrichen, was uns aber auch nicht weiter kümmern muss, wenn wir davon ausgehen, dass von selbiger nichts zu erwarten ist. Interessant ist allerdings, dass auch in jenem Teil der Linken, der sich als „radikal“ versteht, der Begriff oft nicht als Kernbestand der eigenen Theorie und Praxis angesehen wird, ja mancherorts „Antiimp“ gar als Schmähwort gilt.

Nun ist der Streit um den Antiimperialismus hierzulande einer, der so viele Facetten hat, dass es schwer fällt, überhaupt noch etwas dazu zu schreiben, ohne sich den Vorwurf gefallen lassen zu müssen, man habe etwas Wichtiges ausgelassen. Über einhundert Jahre Theorietradition, wenn wir bei Luxemburgs und Lenins wichtigen Schriften beginnen, und zehntausende, wenn nicht hunderttausende Artikel, Bücher, Kommentare von klugen und weniger klugen AutorInnen drohen einen zu erschlagen, schon bevor man das erste Wort geschrieben hat. Allerdings erscheint uns die Methode, bei den Erzeugnissen der eigenen Theorietradition anzusetzen, diese wie in Seminar- oder Doktorarbeiten zu analysieren, ohnehin bisweilen ein wenig realitätsfern. Packen wir das Problem dort an, wo es auch Lenin und Luxemburg selbst aufgenommen haben, die ja auf keine umfangreiche Literatur zum Thema zurückgreifen konnten, sondern in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer politischen Praxis die Notwendigkeit ausmachten, darüber nachzudenken, was „Imperialismus“ ist, und wie man ihn bekämpft.

Bevor wir uns lange darüber unterhalten, ob wir AntiimperialistInnen sind oder nicht, müssen wir zuerst überlegen, ob wir den Begriff „Imperialismus“ überhaupt brauchen, um die Realität, die wir vor Augen haben, adäquat zu beschreiben. Können wir nicht einfach von „kapitalistischen Staaten“ sprechen? Würde das nicht ausreichen? Vielleicht. Aber indem wir den Begriff streichen, streichen wir nicht das Phänomen, das er bezeichnet. Die Frage ist: Gibt es ein solches Phänomen, das uns dazu anhält, einen Begriff wie „imperialistisch“ als sinnvollen Bestandteil unserer politischen Sprache zu behalten? Ob das so ist, können wir nicht allein durch logische Schlüsse aus unserem bisherigen Kapitalismusverständnis ableiten. Ob das so ist oder nicht, können wir nur beantworten, wenn sich uns bei der denkenden Aneignung der gesellschaftlichen Wirklichkeit die Notwendigkeit eines solchen Begriffs ergibt.

Schauen wir uns zwei Staaten an: Griechenland und Deutschland. In beiden werden Waren gegen Geld getauscht, in beiden wird die Ware Arbeitskraft verkauft, in beiden findet Ausbeutung statt, es wird Mehrwert geschaffen und realisiert, Kapital eingesetzt und akkumuliert. Beides sind unbestreitbar kapitalistische Staaten. Aber doch werden wir sagen, da gibt es Unterschiede, die nicht bloss quantitativ sind. Die herrschende Klasse Deutschlands ist, wie wir erst kürzlich wieder eindrucksvoll vor Augen geführt bekommen haben, dazu in der Lage, Griechenland eigene Regeln aufzuzwingen – in diesem Fall vor allem durch ökonomischen und politischen Druck. Zwischen beiden besteht offenkundig ein Verhältnis, das nicht symmetrisch, sondern von Abhängigkeit bestimmt ist. In einer umfangreichen Broschüre aus dem Gegenstandpunkt-Verlag heisst es:

„Imperialistisch ist der Staat, der als politisches Subjekt der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise fungiert, darin, dass er sämtliche Länder der Erde als Praxisfeld seiner Bürger betrachtet. Um ihr Geschäft aus den Schranken zu lösen, die mit den zufälligen Naturbedingungen seines Herrschaftsbereiches gegeben sind, betätigt sich die Staatsgewalt als Agent des Weltmarkts: die Produkte aller fremden Klimate und Länder in die Zirkulation und damit Produktion seines Kapitals einzubeziehen ist sein Anliegen, bei dem er auf auswärtige Souveräne trifft“ (S. 4 ).

Diese „auswärtigen Souveräne“ sind die Schranken für den jeweiligen imperialistischen Staat, die er mit den jeweils gebotenen Mitteln überwinden möchte. Dabei muss es sich keineswegs immer und überall um militärische handeln, wie das der Alltagsbegriff von „Imperialismus“ nahezulegen scheint. Die Wege zur Durchsetzung imperialistischer Ziele reichen „vom Einsatz militärischer Mittel, um einen Konkurrenten bankrott zu machen, bis zum Ankauf von Betrieben und Rohstoffquellen und bis zur finanziellen Abhängigkeit, zur 'ökonomischen Annexion' (Lenin) ganzer Länder“, (Barthel 1978, S. 504) führt Rolf Barthel in einem DDR-Forschungsband zur Formationsgeschichte aus.

Die Phänomene, die seit hundert Jahren zum Ausgangspunkt diverser Imperialismustheorien wurden, sind keineswegs obsolet geworden: „Staatlich organisierte Expansion des Kapitalismus, die Exploitation weltweiter Rohstoffquellen durch die kapitalistischen Metropolen, kriegerische Absicherungen von Verwertungsbedingungen und territorial ausgreifende Krisenbewältungsstrategien“ (Deppe/Salomon/Solty 2010) existieren nach wie vor. Der Unterschied zwischen Staaten wie Deutschland und den USA auf der einen Seite, die auf die Herausforderungen globaler Kapitalverwerwertung mit Gewaltpolitik reagieren können und solchen wie Griechenland oder Venezuela auf der anderen, ist ebenfalls geblieben.

Teile der Antifa-Bewegung und der radikalen Linken allerdings haben „Imperialismus“ und „Antiimperialismus“ aus ihrem Vokabular gestrichen. Das liegt vor allem an zwei irrigen Traditionslinien, die sich auf diesem Gebiet wilde Scheingefechte liefern. Auf der einen Seite: „Antideutsche“, die sich ohnehin weitgehend aus der Linken verabschiedet haben und sich lieber mit der bedingungslosen Verteidigung der zivilisatorischen Errungenschaften von Kapitalismus und bürgerlicher Demokratie gegen den bösen „Mob“ befassen.

„Antiimps“ auf der anderen Seite, die oft Antiimperialismus als einen Kampf von „guten“ gegen „schlechte“ Staaten verstehen, wobei einfach die Vorzeichen umgekehrt werden: Ist für den deutschen oder US-amerikanischen Imperialisten der jeweils eigene Staat der „gute“ und der irakische oder syrische der „Schurkenstaat“, werden bei dieser Form des Holzhammer-Antiimperialismus einfach Minus und Plus ausgetauscht. Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi oder Baschar Al-Assad werden zu leuchtenden Gallionsfiguren menschlichen Fortschritts, deren Glanz nur von Lügen beschmutzt wird. Der übergrosse Rest der „radikalen“ Linken, der aus Antifa- oder Autonomen-Bewegung entstandenen grösseren Gruppierungen, hat sich entschlossen angesichts der Scheingefechte zwischen einigen „Antiimps“ und „Anti-Ds“ einfach gar nichts mehr zur Sache zu sagen. „Imperialismus“ interessiert hier nicht, denn man könnte ja den Fehler machen, etwas zu sagen, was jemanden vergrault.

Abgesehen davon, dass das zu einer Entfremdung von den meisten anarchistischen und kommunistischen Gruppen in Ländern ausserhalb Deutschlands und Österreichs (die beiden Länder, die die Segnungen der kritischen Kritik der „Antideutschen“ und der unterkomplexen Antworten der „Antiimps“ erfahren durften) führt, die sich selbstverständlich und richtigerweise als „antiimperialistisch“ verstehen, sind damit eine ganze Reihe von Fragestellungen und Themenbereiche aus der linken Theoriebildung verschwunden, die eigentlich zentral wären. Antimilitarismus ist zu einem Nischenthema geworden, das kaum mobilisierungsfähig ist. Der deutsche und US-amerikanische Griff nach der Ukraine und die damit verbundene Frage nach der zunehmenden Kriegsgefahr im Osten wurden als Themen fast vollständig diversen „neuen Friedensbewegungen“ überlassen, die – wenig überraschend – keine vernünftige Position entwickelten. Kriege wie der gerade mit US-amerikanischer Unterstützung und deutschen Waffen vom autoritären Gottesstaat Saudi-Arabien gegen den Jemen geführte wurden völlig ignoriert, zu Israel/Palästina melden sich ohnehin nur noch die Verwegensten zu Wort.

In all diesen Konflikten – und vielen mehr – mischt unser „eigener“ Imperialismus mit. Gerade weil wir in einer Nation leben, die sich zunehmend aggressiver in das Great Game um geopolitische Positionen, Weltmarktanteile und Ressourcen einbringt, sollten wir die interessanten Debatten, die international geführt werden, aufgreifen und zur eigenen Positionsbestimmung entwickeln. Die von Deutschland ausgehende Unterwerfung Griechenlands könnte eine Chance sein, genau damit zu beginnen. Und auch auf die Herausforderungen, die uns aus der europäischen Drangsalierung von Refugees erwachsen, werden wir keine Antworten finden, wenn wir nicht wieder über Imperialismus zu sprechen beginnen.

Peter Schaber (lcm) / kritisch-lesen.de

Verwendete Literatur: Barthel, Rolf (1978): Der Imperialismus als End- und Übergangsstadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation im Werk Lenins. In: Engelberg, Ernst/Küttler, Wolfgang (Hrgs.): Formationstheorie und Geschichte. Studien zur historischen Untersuchung von Gesellschaftsformationen im Werk von Marx, Engels und Lenin. Akademie-Verlag, Berlin. S. 478–530.

Deppe, Frank/Salomon, David/Solty, Ingar (2010): Imperialismus und Antiimperialismus. Begriff und Aktualität. In: Zeitschrift Marxistische Erneuerung # 84, online abrufbar hier.

Gegenstandpunkt (2012): Imperialismus 1, als pdf online abrufbar hier.

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