Der Konflikt zwischen Déjacque und Proudhon 160 Jahre „Libertär“

Politik

Dieser Artikel behandelt die Geschichte des Wortes libertär bzw. libertarian1. Der Text beschreibt dessen Ursprung und die Kämpfe zwischen Pierre-Joseph Proudhon - oftmals als Gründungsvater des Anarchismus bezeichnet - und Joseph Déjacque, welcher den Begriff „libertär“ prägte.

Portrait of Pierre Joseph Proudhon, 1865.
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Portrait of Pierre Joseph Proudhon, 1865. Foto: Gustave Courbet (PD)

13. Dezember 2019
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«Viele Menschen, welche ich kenne, reden von Freiheit, ohne sie zu verstehen; Sie kennen weder die Wissenschaft davon, noch das Gefühl. Sie sehen in der Zerstörung von herrschender Autorität nichts weiter als einen Austausch von Namen oder Personen; Sie können sich nicht vorstellen, dass eine Gesellschaft funktionieren könnte ohne Meister und Sklaven, ohne Anführer und Soldaten; Dahingehend sind sie wie diese Reaktionären, welche sagen: „Es gab immer Reiche und Arme, und es wird sie auch immer geben. Was würde nur aus den Armen, wenn es die Reichen nicht gäbe? Sie würden verhungern!»

Joseph Déjacque (Down with the Bosses! 5)

2008 habe ich als das 150-jährige Jubiläum für den Gebrauch des Worts „libertär“ durch Anarchist_innen gewählt2. Dieser Artikel behandelte, wie zwischen 1858 und 1861 der Französische Exilant und kommunistisch-anarchistische Joseph Déjaque die Zeitung La s, Journal du Mouvement Social in New York herausbrachte. Er umfasse auch den Gebrauch des Begriffes libertär durch die Anarchist_innen von da an.

Jedoch sah eigentlich das Vorjahr – 1857 – erstmals den Gebrauch des Wortes libertaire im modernen Sinne in einem offenen Brief, den Déjaque an Pierre-Joseph Proudhon schrieb; Der erste Mensch, welcher sich in seinem Aufsatz Was ist Eigentum? 1840 selbst als Anarchist bezeichnete. Als Erstes kritisierte Déjaque Proudhons Sexismus und sagte, dass die Unterstützung des Patriarchats im Widerspruch stehe zu Proudhons eigenen Prinzipien. Zweitens erweiterte er Proudhons Kritik an Eigentum über seinen marktorientierten Sozialismus hinaus zu kommunistischen Schlüssen, womit er schon 20 Jahre vor der ersten Internationalen den Aufstieg des Anarcho-Kommunismus besiegelte.

Unglücklicherweise wird in den USA der Begriff libertarian mittlerweile oftmals mit den rechtsextremen Unterstützer_innen des „freien Marktes“ – welcher selbst frei vom Staat sein müsse - in Verbindung gebracht. Dass die Verteidiger_innen einer Hierarchie durch Privateigentum diesen Begriff mit ihrem autoritären Weltbild in Verbindung bringen wollen, ist für die eigentlichen – also anarchistischen – Libertären unglaublich und beschämend zugleich. Noch schlimmer: Durch die Macht, welche diese Rechtsextremen durch Geld und angesichts einer relativ kleinen anarchistischen Bewegung in Amerika haben, ist der Begriff standardmässig ihnen zugeordnet worden. Ironischer Weise beschweren sich nun diese Rechtsextremen „Libertarians“ darüber, dass wir ihnen diesen Begriff „gestohlen“ hätten, um ihn mit unseren sozialistischen Verständnis davon zu besetzen!

Hiermit möchte ich ausführen, warum die Aneignung des Begriffs durch den Rechten Rand nicht nur historisch falsch, sondern auch in seiner Bedeutung ihrer Ideologie zuwider läuft. Dabei werde ich auch aufzeigen, warum die Linke sich den Begriff libertär wieder aneignen sollte und warum die Rechte von dessen Benutzung ablassen sollte. Ich möchte darauf hinweisen, dass letzteres eher unwahrscheinlich ist. Auch wenn es von der Rechten ideologisch konsequent wäre.

Joseph Déjacque: Sei tatsächlich und vollumfänglich Anarchist

Joseph Déjacque (1821-1864) antwortete auf Proudhons Angriff auf die Französische Feministin Jenny D'Héricourt (1809-1875) und betitelte seine Kritik 1857 „De l'être-humain mâle et femelle“ (Vom männlichen und weiblichen Menschsein). Er ist eine dieser Figuren, welche mehr verdienen, als eine blosse Fussnote anarchistischer Geschichte zu sein – er war auch einer der Vorläufer des Anarcho-Kommunismus, dessen feurige Sprache und scharfe Logik grösstenteils unbekannt blieb in der englischsprachigen Bewegung.

Déjacque hatte Proudhon richtiger weise angeprangert für seinen abstossenden Sexismus und zeigte, wie Proudhons Position diesbezüglich mit seinen anderen Pierre-Joseph Proudhon war ein starker Kritiker von Hierarchien - ausser es ging um das Patriarchat. Sein Anarchismus schien an der Haustüre aufzuhören.

Prinzipien im Widerspruch stand. Er lud ihn dazu ein, „tatsächlich und vollumfänglich Anarchist“ zu werden, indem er ALLE Formen von Autorität und Eigentum aufgeben solle. Damit bewies er auch, dass er ein scharfsinnigerer Leser Proudhons war, als es damals und heute viele seiner Leser_innen waren. Der Begriff libertär bezeichnete also den in sich schlüssigen Anarchismus, welcher alle öffentlichen UND privaten Hierarchien ablehnte, wie auch den Besitz von Produkten und Produktionsmitteln.

Um Déjacques Kritik voll und ganz schätzen zu können, müssen wir zuerst Proudhons Ideen umreissen.

Proudhon und Eigentum

Proudhon ist am besten bekannt für sein Werk Was ist Eigentum? aus dem Jahr 1840. Dieses Werk legte auch das Fun dament für seine späteren Werke wie auch alle Formen des modernen Anarchismus. Am bekanntesten ist wohl seine Aussage dass Eigentum Diebstahl sei. Dies ist aus zwei Gründen so. Erstens wird das gemeinsame Erbe, Land und Produktionsmittel, von wenigen angeeignet. Zweitens führt dies dazu, dass Arbeiter_innen gegenüber den Besitzenden ihre „Freiheit verkauft und aufgegeben“ haben. Diese erwerben die „Produkte der Arbeit ihrer Angestellten“ und machen ungerechte Profite aus den „kollektiven Mühen“. Wenn „Arbeiter die Eigentümer des von ihnen produzierten Wertes“ seien, ist dies im Kapitalismus nicht der Fall. Um dies zu erreichen, darf „akkumuliertes Kapital als gesellschaftlicher Eigentum niemandem alleine gehören“. Somit sind alle Arbeitenden „Besitzer ihrer Produkte“ aber gleichzeitig „ist niemand Besitzender der Produktionsmittel“. Wenn „Das Recht auf das Produkt exklusiv“ ist, dann ist „das Recht an Produktionsmitteln gemeinschaftlich“, denn wenn „das Recht auf Leben gleich ist, ist das Recht auf Arbeit gleich und so auch das Recht auf Aneignung“3.

Weitaus weniger bekannt ist der zweite Schluss, dass „Eigentum Despotismus“ ist. Eigentum „verletzt Gleichheit durch das Recht auf Ausschluss und Zunahme, und Freiheit durch Despotismus.“ Eigentümer_in sei somit „synonym“ mit „souverän“, da sie_er „seinen Willen als Gesetz aufzwingt, und weder Widerspruch noch Kontrolle erfährt“, da „jeder Eigentümer unabhängiger Herrscher in seiner Sphäre des Eigentums“ sei. Anarchismus im Gegensatz dazu sei „das Fehlen von Meister oder eines Souveräns“. Wie es Proudhon 1846 sagte: „Eigentum, was uns frei machen sollte, macht uns eigentlich zu Gefangenen. Was sage ich? Es degradiert uns indem es uns gegenseitig zu Tyrannen und zu Bediensteten macht“4.

Daher wird Eigentum aus zwei miteinander verbundenen Gründen abgelehnt: Es produziert Beziehungen zwischen Menschen, welche durch Repression und Ausnützung gekennzeichnet sind. Die „Abschaffung menschlicher Ausbeutung durch seine Mitmenschen und die Abschaffung menschlicher Regierung über seine Mitmenschen“ seien „das Gleiche“ da: „was in der Politologie Autorität genannt wird, ist analog und gleichbedeutend mit dem Begriff des Eigentums in der politischen Ökonomie“. Diese Zwei Auffassungen überlappen sich und sind identisch“. Das „Prinzip der AUTORITÄT entwickelte sich durch Eigentum und durch den Staat“. Und somit „ist ein Angriff auf das Eine, auch ein Angriff auf das Andere“.

Assoziation müsse beide ersetzen; sonst würden die Menschen „zueinander als Über- und Unterlegene bleiben. Und es würden zwei Kasten, jene der Meister und jene der Lohnarbeiter, fortbestehen. Dies wäre widersprüchlich zu einer freien und demokratischen Gesellschaft“.5

Der grosse Widerspruch Proudhons

Déjacque zielte auf den grossen Widerspruch in Proudhons Ideen, nämlich seine energische Verteidigung des Patriarchats. Hiermit gab es eine Vereinigung – die Familie – in der es immer noch „Überlegene und Untergebene“, Meister und Bedienstete geben würde. Im Gegensatz zu seiner penetranten Kritik an Eigentum und Staat wurde diese spezifische Unterordnungsbeziehung mit dem rohsten Sexismus begründet und Verteidigt.

Wie in Dejacques Brief ersichtlich ist, war ihm Proudhons Werk gut bekannt. Dadurch wusste er gut, was in daran störte. Er beginnt mit einer offensichtlichen Anspielung auf den Leitspruch von Proudhons Schrift Le Representant du Peuple bezüglich der Revolution 1848: „ Was ist der Produzent? Nichts. Was sollte er sein? Alles!“. Danach bezeichnete Déjacque ihn als einen moderaten („juste-millieu“) Anarchisten, als eher „ein liberaler“ statt eines „wahren Anarchisten“ oder eines „LIBERTÄREN“. Er wusste, dass juste millieu („goldener Mittelweg“ oder „glückliches Medium“) gebraucht wurde, um zentristische politische Philosophien zu beschreiben, weche zwischen den Extremen lagen. Es wurde auch mit der französischen Juli-Monarchie (1830-1848) verbunden, welche vordergründig versuchte, eine Balance zwischen Autokratie und Demokratie zu finden: „Wir werden versuchen in einem juste millieu, in einem gleichen Abstand zu Exzessen der Volksmacht, wie auch des Missbrauchs königlicher Macht zu bleiben“ (in den Worten König Louis-Phillipes).

Als die Spannungen zwischen monarchischen Prinzipien und republikanischen Idealen zu stark wurden und das Regime 1848 gestürzt wurde, hoffte Déjacque dass der offensichtliche Widerspruch zwischen Proudhons Anarchie für Gemeinschaft und Arbeitsplatz und das Patriarchat zuhause zugunsten eines konsistenten Anarchismus abgelehnt würde. Die Vorstellung, dass die Familie von freier und gleichheitlicher Vereinigung ausgenommen sein sollte, war unhaltbar, ein Affront gegen Logik und Freiheit. Deswegen war es libertär – um Freiheit in alle Vereinigungen zu tragen, welchen wir vordergründig frei entscheidend beitreten.

Eine weitere Innovation war die Ausweitung von Proudhons Kritik an Eigentum von den Produktionsmitteln auf die Produkte der Arbeit selbst. Er erkannte an, dass Proudhons Marktsozialismus – Arbeiter_innenkooperativen verkaufen ihre Produkte an andere Arbeitende – kurz nach einer Revolution notwendig sein könnte. Jedoch argumentierte er schon 20 Jahre vor Kropotkin und Reclus, dass dies nicht das Höchste sei, was erreichbar sei. Freiheit sei am besten verteidigt durch freien Zugang zu sowohl den Produktionsmitteln wie auch den Produkten selbst. Wie er es in seiner Schrift „Austausch“ ausdrückte, welche in Le Libertaire 1858 erschien:

„Sollten die Arbeiter prinzipiell das Produkt ihrer Arbeit besitzen? Ich zögere nicht zu sagen: Nein! Auch wenn ich weiss, dass eine Menge Arbeiter aufschreien werden. Hört, Proletarier, schreit auf, schreit so laut ihr wollt. Doch dann hört mich an: Nein, es ist nicht das Produkt ihrer Arbeit, worauf die Arbeitenden Anspruch haben. Es ist die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, welcher Natur sie auch sein mögen. Im Besitze unseres Arbeitsprodukts zu sein heisst nicht, im Besitze dessen zu sein, was uns nützlich ist. Es heisst, im Besitze des Produkts unserer Hände zu sein, was anderen nützlich sein könnte aber vielleicht nicht uns. Und ist nicht jeglicher Eigentum Diebstahl?“.

Wie zu erwarten bei einem Kurzbrief, muss Déjacques Kritik ausgeführt werden. Sein Umriss des Anarcho-Kommunismus ist zu abhängig von harmonischen Fügungen bezüglich dem Ausgleich zwischen Produktions- und Konsummenge – oder kapitalistisch ausgedrückt, Angebot und Nachfrage – auch wenn der Brief wichtige Probleme anspricht – Bedürfnisse und Pflichten halten sich nicht einfach die Wage. Proudhon erkannte, dass Freiheit den kollektiven Besitz an den Lebensmitteln (Arbeitsplatz, Land, Meer) bedarf, um Hierarchien zu vermeiden. Déjacque ging noch weiter und argumentierte, dass für ein ganzheitliches Leben auch die Produkte selbst kollektiviert sein müssten.

Bevor wir den späteren Gebrauch des Begriffs „Libertarian“ diskutieren, müssen wir feststellen, dass trotz seiner gerechtfertigten Kritik an Proudhons Sexismus auch Déjacques Verteidigung von D'Héricourt nicht frei davon war. Am offensichtlichsten wird dies am galanten Bedürfnis, eine Frau zu verteidigen, welche Proudhon selbst in die Schranken weisen konnte. D'Héricourt war führende Sozialistin der Cabet-Fraktion, Feministin, Autorin, und eine professionelle Hebamme – und wie Déjacque und Proudhon an der Revolution 1848 beteiligt. Sie schrieb unter anderem Repliken auf Proudhons sexistische Essays und wusste sich daher selbst zu wehren.

Eigentum ist Diebstahl: über die „libertäre“ Heuchelei 6

Alle Anarchist_innen sind sozialistisch, aber nicht alle Sozialist_innen sind anarchistisch. 100 Jahre nachdem Déjacque den Begriff libertär geprägt hat, war es auch so, dass alle Anarchist_innen libertär, aber nicht alle Libertären anarchistisch waren. Dennoch waren sie bis dahin zumindest links aussen. Über die nächsten 60 Jahre änderte sich dies so, dass in den USA – und bis zu einem gewissen Grad auch in Grossbritannien - „libertarian“ nun genau das Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung hatte. Murray Rothbard, ein Begründer der sogenannten „libertären“ Rechten, bringt Licht in den Prozess dieses Begriffwandels:

„Ein befriedigender Aspekt unseres Aufstiegs zu einiger Bekanntheit [in den späten 1950ern, anm. d. Autors] ist, dass ‚unsere Seite' erstmalig in meinem Leben ein wichtiges Wort unserer Feinde erobern konnte. (…) ‚Libertarians' (…) war lange einfach nur ein nettes Wort für linke [sic!] Anarchisten. Also für Anarchisten gegen Privatbesitz in kommunistischer oder anarchistischer Tradition. Aber jetzt haben wir es übernommen und es entspricht nun mehr der Etymologie; da wir Befürworter individueller Freiheit sind und damit auch des individuellen Rechts auf Eigentum“.7

Erinnern wir uns, was dieser Befürworter des individuellen Rechts auf Eigentum über Namen und Labels zu sagen hat:

„Jedes Individuum einer freien Gesellschaft hat das Recht, im Besitz seiner Selbst zu sein und auch exklusiven Gebrauch seines Besitzes zu haben“. In seinem Eigentum ist sein Name, das linguistische Label, das einzigartig seines ist und ihn identifiziert. Ein Name ist essentieller Teil einer Identität und deshalb sein Besitz (…). Verteidigung von Person und Eigentum (…) beinhaltet die Verteidigung jedes einzelnen Namens oder der Marke einer Person gegen Fälschung und Hochstapelei.8

Das „bedeutet das Verbot“, den (Marken-) Namen anderer zu übernehmen und sich als diese auszugeben. Denn dies sei „ein Missbrauch des Eigentumsrechts“ am „ einzigartigen Namen und Individualität“. Gleichsam wäre „der Gebrauch des Namens ‚Hershey' durch andere Schokoladenproduzenten gleich einem invasiven Akt des Betrugs“. Begründet wird dies damit, dass „ein Name ein eindeutig identifizierendes Label für eine Person (oder eine kooperativ handelnde Gruppe von Personen) und damit eine Eigenschaft einer Person und seiner Energie ist“ und somit „ein Attribut eines Arbeitsfaktors“ ist.9 Wenn jemand etwas „kauft oder erbt“, das gestohlen wurde, so gehe diese Sache zurück an die herstellende Person „oder ihre Nachkommen, ohne Kompensation an den momentanen Besitzer des ‚Titels' kriminellen Ursprungs. Wenn also ein Besitztitel kriminellen Ursprungs ist, und das Opfer oder seine Nachfahren gefunden werden können, sollte der Titel sofort zurückgegeben werden“.10

Die Heuchelei Rothbards ist offensichtlich. Laut seinen eigenen Aussagen gibt Rothbard somit zu, dass er mit dem Namensklau einen „invasiven Akt des Betrugs“ gegen das „Recht auf Eigentum des Einzelnen“ begangen hat. Wenn er und seine Gefolgschaft tatsächlich Prinzipien hätten, welche über ihren Fetisch für Eigentum und ihr Dasein als Schreihälse für die ökonomisch Mächtigen hinausgehen würden, dann würden seine heutigen Jünger_innen aufhören, den Begriff libertarian zu verwenden und ihn den modernen Nachfolger_innen von Joseph Déjacque zurückgeben – also den „Anti-Privateigentums-Anarchisten der kommunistischen oder syndikalistischen Sorte“.

Es könnte eingeworfen werden, dass Anarchist_innen Rothbards Sicht auf Eigentum nicht teilen. Das stimmt, wir setzen uns für Rechte und weniger für Eigentumsrechte ein. Und wir gebrauchen den Begriff immer noch – in Amerika war zum Beispiel von 1954 bis 1965 die kommunistischan-archistische Libertarian League aktiv.11 Und doch sah Rothbard seine Vorurteile und Wünsche als „Naturgesetz“, also in unserer „Natur“ als Menschen. So müsste wohl wie Erdanziehung sein „Naturgesetz“ auch auf jene wirken, welche nicht daran glauben. Ausser er sieht – wie jene, welche die Eingeborenen enteigneten – Sozialist_innen als Untermenschen.

Aber auf der anderen Seite braucht sein „Naturgesetz“ - nicht wie die Gravitation – (staatliche) Söldner_innen zu dessen Durchsetzung. Wir wissen also wann und wieso der Begriff „libertarian“ durch die Rechte übernommen wurde: sie sahen, wie Linke den Begriff gebrauchten und entschlossen, ihn zu stehlen. Am Anfang dieses Wortklaus gab es in den USA noch einen politischen Diskurs, aber heute hat die rechte Aneignung den Ursprung des Wortes verdrängt – zum Beispiel gründete u.A. Sam Dolgoff 1986 die Libertarian Labor Review, aber schon 1999 musste das Blatt in Anarcho-Syndicalist Review (ASR) unbenannt werden, da Verkäufer_innen immer wieder auf die ursprüngliche linke und wahre Bedeutung des Begriffs hinweisen mussten!

Wie gelang es ihnen, „libertarian“ ins genaue Gegenteil zu verkehren? Teilweise durch die finanzielle Unterstützung von grossen Unternehmen, welche ihre Position, Macht und Privilegien in der Gesellschaft sichern wollten; Wohlstand verzerrt das Ergebnis des „Marktplatzes der Ideen“ wie in allen kapitalistischen Märkten. Andererseits schafften sie es auch durch die unlibertärste aller Taktiken: Die Gründung einer politischen Partei – der Libertarian Party – welche sich um die Wahl in politische Ämter bemüht.

Wenn für Anarchist_innen Eigentum Diebstahl ist, dann ist für Rothbard Diebstahl anscheinend Eigentum. so wie er die Landenteignung der Indigenen als legitim erarchtete, so machte er auch eine Ausnahme beim Begriffsklau von „libertarian“, nach dem er seine Ideologie benannt hatte. Wir sollten also nicht überrascht sein über die Heuchelei, denn sie widerspiegelt auch die wahre Geschichte des Kapitalismus' - welche sich nicht mit Rothbards „So-ist-es-nun-mal-Stories“ seines idealisierten Kapitalismus decken, den es ausser in seiner fiebrigen Stirn nirgends gegeben hat.

Eigentum ist Despotismus

Wenn die „Libertarians“ ihre Ideologie ernst nehmen würden, dann würden sie aufhören, den Begriff zu gebrauchen. Eigentumsrechte sind nur für jene, welche die Allmenden bzw. Gemeingüter gestohlen haben. Sie sind nicht für jene, welche sie auch tatsächlich benutzt hatten. In dem zeigen sie mehr die Realität denn das Ideal ihres verehrten Kapitalismus. Aber was ist mit Rothbards anderer Behauptung, dass „vom Gesichtspunkt der Etymologie“ er und seine Kolleg_innen berechtigt seien, den Begriff von seinen Schöpfer_innen und vorherigen Nutzer_innen zu stehlen?

Sind die „libertarians“ wirklich libertär? Die kurze Antwort ist Nein. Um dies zu beweisen könnten wir auf die anarchistischen Denker_innen verweisen, welche schon lange festgestellt haben, dass autoritäre Beziehungen – die Hierarchien – auf Wohlstandsungleichheiten basieren. Das müssen wir jedoch nicht mal, da Rothbard selbst genug Beweise für die autoritäre Natur des Kapitalismus liefert.

Rothbard behauptet, der Staat „fordert für sich selbst das Gewaltmonopol, das Monopol auf Entscheidungsmacht über ein Territorium“. Doch vergraben in einer Endnote des Kapitels gibt er zu dass „offensichtlich, in einer freien Gesellschaft Smith die ultimative Entscheidungsmacht über sein Eigentum, Jones über seines, etc“ hat.7 Das ist die Macht von „Privateigentum“, denn es kann Schlechtes („ultimative Entscheidungsmacht“ über ein gegebenes Gebiet) in etwas Gutes („ultimative Entscheidungs- macht“) verwandeln. Tatsächlich deutet Rothbard auf die identische soziale Beziehung hin, welche Anarchist_innen zwi schen Staat und Eigentum aufzeigen:

„Wenn man dem Staat sein eigenes Territorium zuspricht, dann ist es rechtens, dass dieser Regeln aufstellt, welche für alle in diesem Territorium Lebenden gelten. Er kann legitimerweise Privateigentum beschlagnahmen oder kontrollieren, da es in seinem Gebiet kein Privateigentum gibt, da der Staat das ganze Land und den Boden besitzt. Solange der Staat seinen Subjekten erlaubt, sein Land zu verlassen, so kann gesagt werden, dass der Staat wie jeder andere Landbesitzer agiert, der Regeln auf seinem Land aufstellt“ (170). Rothbard ist nicht gegen Autoritarismus an sich. Wenn der Staat in seinen Augen ein legitimer Landbesitzer oder Kapitalist wäre, dann wäre seine autoritäre Natur für ihn vollkommen in Ordnung.

Tatsächlich lesen wir erstaunt, dass dieser „Libertäre“ alle Freiheiten, welche wert sind diesen Namen zu tragen, eliminiert. Denn es gebe keine „Menschenrechte welche nicht auch Eigentumsrechte“ seien. Denn „eine Person hat kein ‚Recht auf freie Meinungsäusserung'; was sie hat, ist das Recht eine Halle zu mieten und zu allen Menschen zu sprechen, welche das Gebiet betreten“. Sie „hat kein Recht zu sprechen, sondern nur eine Anfrage“, worüber der Besitzer des Geländes „entscheiden muss“. Bezüglich der Versammlungsfreiheit haben Eigentümer_innen „das Recht zu entscheiden, welche Personen auf ihre Strasse dürfen“ und „haben das absolute Recht zu entscheiden, ob Streikende die Strasse benutzen dürfen.

Arbeitgeber_innen können unverzüglich Leute feuern“ welche einer Gewerkschaft beitreten“. Zusammengefasst gibt es keine Rechte „welche über die Eigentumsrechte einer Person in einer Situation hinausgehen“. (113-6, 118, 132, 114). Die „Freiheit“ eines Bosses seine Angestellten zu zwingen, Anti-Gewerkschafts-Propaganda zu schauen oder alle zu entlassen, welche ihre Meinungs-, Versammlungs- oder Organisationsfreiheit gebrauchen ist kaum Freiheit: Es ist Macht, Authorität, Archie.

Ironischerweise zeigt dies Rothbard selbst auf wenn er ein hypothetisches Beispiel verwendet: Der König eines Landes, bedroht durch eine Bewegung der „Libertarians“ antwortet auf diese durch „die Anwendung einer durchtriebenen List“. Er „erklärt seine Regierung für aufgelöst, doch bevor er dies tut, verteilt er das gesamte Land seines Königreichs in seinen eigenen und seiner Angehörigen ‚Besitz'“. Statt Steuern zahlen die Menschen nun Miete und der König „reguliert die Leben all seiner Untergebenen, welche auf seinem Land leben“ nach seinem Willen. Rothbard gibt zu, dass die Leute nun „ unter einem Regime leben würden, welches nicht weniger despotisch wäre, als jenes, das sie so lange bekämpft hatten. Vielleicht wäre es tatsächlich noch despotischer, da nun der König und seine Verwandten für sich selbst das libertäre Prinzip des absoluten Rechts über Privateigentum behaupten könnten. Eine Absolutheit, welche sie sich vorher wohl nicht getraut hätten zu behaupten“.

Während Rothbard diese „durchtriebene List“ ablehnt, entgeht ihm, dass sein eigenes Beispiel seine Behauptung Lüge straft, dass der Kapitalismus das einzige auf Freiheit basierende System sei. Wie er selbst argumentiert, haben Eigentümer_innen nicht nur das gleiche Machtmonopol über ein Gebiet wie der Staat, es ist nämlich sogar despotischer, da es auf dem „absoluten Recht auf Privateigentum“ basiert. Er sagt sogar, dass der Staat sein Gebiet theoretisch besitzt, „macht den Staat, wie auch den König im Mittelalter, zu einem feudalen Lehnsherrn, welchem zumindest theoretisch alles Land in seiner Domäne gehört“ (171). Er merkt jedoch nicht, dass dies im sogenannten „libertarian“ Regime alle Kapitalist_innen und Grundherr_innen auch zu feudalen Lehnsherren macht. Kurz gesagt: Rothbard gelangt dazu, extrem autoritäre Beziehungen und Organisationen zu legitimieren. Mehr noch gibt er zu, dass seine Organisationen und Beziehungen identisch mit den vom Staat geschaffenen sind.

Dies wird „liberarian“ genannt, weil durch Eigentum produzierte Hierarchien „freiwillig“ seien und die Leute ihren „Konsens“ zu diesen Autoritäten geben würden. Niemand zwinge einen dazu, für spezifische Arbeitgeber_innen zu arbeiten und alle hätten die gleiche Chance – wie unwahrscheinlich es auch ist – selbst Chef_in oder Grundherr_in zu werden. So wie in einem demokratischen Staat niemand dich zwingt, in diesem Staat zu bleiben und alle die Chance – wie unwahrscheinlich es auch sein mag – Präsident_in oder Politiker_in zu werden. Dass manche (politische oder ökonomische) Machthaber_innen werden können, stellt sich nicht dem Grundsatzproblem: Sind die Leute frei oder nicht? Es ist eine seltsame Ideologie, welche sich freiheitsliebend gibt und doch Fabrikfeudalismus und eine Oligarchie am Arbeitsplatz begrüsst und trotzdem die identischen Untergebenen-Beziehungen eines Staates ablehnt.

Der Kontext in dem Menschen ihre Entscheidungen treffen ist wichtig. Anarchist_innen haben lange argumentiert, dass eine Klasse bzw. die Arbeiter_innen wenig Chance haben, nicht mit der kapitalistischen Oligarchie „einverstanden“ zu sein. Die Alternative wäre entweder der Hungertod oder schreckliche Armut. Rothbard verwirft dies, indem er solche ökonomische Macht verleugnet (221-2). Er ist einfach zu widerlegen – indem man ihn selbst zitiert. Zum Beispiel mit seinen Kommentaren über die Abschaffung von Sklaverei und Leibeigenschaft im 19. Jahrhundert:

Die Körper der Unterdrückten wurden befreit. Aber das Eigentum, das sie selbst erarbeitet und verdient hatten, blieb in den Händen ihrer ehemaligen Unterdrücker. Mit der ökonomischen Macht immer noch in ihren Händen, fanden sich die ehemaligen Meister schon bald wieder als Quasi-Meister über die nun freien Bewohner und Landarbeiter. Die Bediensteten und Sklaven hatten zwar Freiheit gerochen, aber wurden grausam von ihren Früchten verdrängt“. (74)

Wenn also die „Kräfte des Marktes“ („freiwilliger Tausch“) in die Konzentration von Eigentum führen, ist dies unproblematisch und stellt die Frage nach (Mangel an) Freiheit für die Arbeiter_innenklasse nicht. Wenn aber Menschen in der gleichen Situation sind, aber nun durch offenen Zwang, dann ist es ein Fall von „ökonomischer Macht“ und „Meistern“!

So viel zu „jeder [würde] absolute Freiheit geniessen“ und dass Rechte „zu jemandes Freiheit und Eigentum universal sein müssen“ (41, 123). Dass es Rothbard gelingt, sich in seinem eigenen Buch zu widerlegen, ist ein typisches Beispiel dafür, wie die Macht einer Ideologie ihre eigenen Anhänger_innen blendet.

Iain McKay

zuerst im Englischen erschienen in: Anarcho-Syndicalist Review #71/72

Übersetzung: FAT / Di schwarzi Chatz 53

Fussnoten:

1 Da der Begriff Libertär im Deutschen Sprachgebiet immer noch linksradikal geprägt ist, wird in diesem Artikel der englische Begriff Libertarian gebraucht, wenn es um die rechtextreme Ideologie des „Anarcho“-Kapitalismus' geht.

2 („150 Years of Libertarian“, Freedom 69, 23-24)

3 Property is Theft! 117-118, 112, 95

4 Property is Theft! 133, 132, 135, 248

5 Property is Theft! 503-506, 583

6 Der Abschnitt „Libertarian or Anarchist?“ im Original wurde ausgelassen. Dieser behandelt eine kurze Geschichte des Begriffs nach der Begründung, welche für diese Serie nicht relevant ist.

7 The Betrayal of the American Right, 85

8 Man, Economy and State, 670-671

9 Man, Economy and State 671, 679

10 The Ethics of Liberty, 56

11 Sam Dolgoff, Fragments, 74, 89