Nationalmoral im Europa der Nach-Nachkriegzeit Tag der Befreiung von Auschwitz
Politik
Auschwitz ist „Erinnerung“ aus der „ein Auftrag“ „erwächst“ (1): Ein solcher Auftrag für die Toten ist es, als tote Mahnmale an die Notwendigkeit des heutigen Europa und seiner Werte zu erinnern.
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29. Januar 2015
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Gerichtet an die letzten Überlebenden von Auschwitz fasst Merkel das in folgenden Worte: „Gleichwohl haben Sie mit dafür gesorgt, dass Erinnerung über Generationen hinweg wachbleibt – dass aus ihr auch künftig Lehren gezogen werden können. Sie haben uns damit ein grosses, ein wichtiges Geschenk [!] gemacht, für das ich Ihnen von ganzem Herzen danken möchte. Denn wir dürfen nicht vergessen. Das sind wir Ihnen schuldig. Das sind wir den vielen Millionen Opfern schuldig. Und das sind wir uns selbst schuldig, die wir heute leben und eine gute Zukunft gestalten wollen.“
Die heutige Demokratie ist dann auch die erhabenen Grösse, die den Toten einen moralischen Wert gibt: Das gebietet schon der Anstand gegenüber den Toten, die ja andernfalls ohne tieferen Sinn und höheren Zweck umgekommen wären. Und damit leisten die Leichen von einst einen immer aktuellen Beitrag zur bedingungslosen Wertschätzung der Sache, die alle Opfer überdauert hat: Ganz grundsätzlich setzen sie die Nation mit ihren sämtlichen gegenwärtigen Ansprüchen ins Recht, beglücken deren Anhänger mit dem unwiderleglichen Gefühl, gegen alle denkbaren Anfeindungen im Recht zu sein. Und verdienen deshalb eine Gedenkstätte, an der dieses nur den jeweiligen Stammesgenossen zustehende und verfügbare Rechtsbewusstsein zu Hause ist.
Dass die Juden gerade für diesen höheren Zweck – jener der Nation – dahingeschlachtet wurden, ist auch Herrn Gauck bekannt. Dass es sich dabei allerdings nur um einen Missbrauch des eigentlich guten Vaterlandes gehandelt haben kann beweist dieser in seiner Rede zynischer Weise mit dem Patriotismus der Juden selbst, die für diese Nation geopfert wurden:
„Ich spreche von Willy Cohn. Er stammte aus einer gut situierten Kaufmannsfamilie und unterrichtete an einem Breslauer Gymnasium. Er war ein orthodoxer Jude, tief verbunden mit deutscher Kultur und Geschichte, im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz. Unter dem NS-Regime verlor Cohn seine Arbeit, er verlor Freunde und Verwandte durch Selbstmord und Ausreise. Er ahnte das Ende, als ihn Nachrichten von der Errichtung der Ghettos im besetzten Polen erreichten und von Massenerschiessungen in Lemberg. Doch obwohl er all dies wusste, bewahrte sich Cohn eine nahezu unerschütterliche Treue zu dem Land, das ihm das seine schien. “Ich liebe Deutschland so”, schrieb er, “dass diese Liebe auch durch alle Unannehmlichkeiten nicht erschüttert werden kann. […] Man muss loyal genug sein, um sich auch einer Regierung zu fügen, die aus einem ganz anderen Lager kommt.” Cohns Loyalität, deren Unbedingtheit uns fast unbegreiflich erscheint, weil wir den weiteren Verlauf der Geschichte kennen, Cohns Loyalität wurde auf das Bitterste enttäuscht.“
Darüber sind die guten Patrioten dann immer am tiefsten enttäuscht von „ihrem“ Deutschland: Lauter Unschuldige hat es getroffen, insbesondere ganz unterschiedslos auch Frauen und Kinder. Bei den Männern hat es sich zu einem guten Teil um fraglos gute Deutsche gehandelt, sogar um mit Orden ausgezeichnete Weltkriegsteilnehmer! – kaum eine Erinnerung schenkt sich den Hinweis, viele Opfer seien allemal bessere Patrioten gewesen als ihre deutschtumbesessenen Verfolger. Widerständler waren sie auf alle Fälle nicht, vielmehr wehrlose Zivilisten, die für ihre Verfolgung durch die Nazis weder Grund noch Anlass geboten haben. Dass Menschen nach ihrer Volkszugehörigkeit unterschieden sind und sortiert gehören und ihnen demgemäss das Recht auf ein Dasein in einem bestimmten Land zusteht oder nicht, ganz gleich, wie eingehaust sie dort sind, gehört nicht zu den Punkten, über die sich die demokratische Erinnerung empört – viel eher ist das für Führung wie Staatsbürger selbstverständlich.
Aufruf gegen „Überfremdung“ können demokratische Verantwortungsträger schon deswegen gut verstehen, weil sie die ersten sind, die da „Gefahren“ diagnostizieren und bei sich selbst vorbedachte und bürokratisch ordentliche Abhilfe anmahnen. Bestimmte Volksgruppen zu identifizieren und im Zweifelsfall als fremd zu deklarieren gehört also auch zum Demokratischen Alltag. Nur umbringen hätte man sie nicht müssen, unschuldig wie sie waren…
Freilich, auch das ist dem realistisch denkenden Staatsbürger geläufig und nur bedingt abscheulich, dass gelegentlich „Unschuldige“ von Staats wegen liquidiert werden: Im modernen Krieg trifft die Wucht militärischer Gewalt und Vernichtungskunst allemal wehrlose Patrioten, die weder dem eigenen noch irgendeinem feindlichen Staat je Grund und Anlas geboten hätte, sie massenhaft umzubringen. Ohne eigene Zutun werden sie dem Kriterium des „normalen“ politischen Rassismus subsumiert: Sie gehorchen einem zum Feind erklärten Staat, gehören also dem verkehrten Volk an. Die Vollstreckung des in dieser Subsumtion enthaltenen Todesurteils überlässt kein Staat einem spontanen Volkzorn; ein jeder bereitet sich mit einer eigenen Bürokratie und ganzen Industriezweigen geradezu planwirtschaftlich darauf vor und lässt die nötigen Aktionen mit perfekter Technologie durchführen…
Da aber wissen die Staatsbürger lauter gute Gründe und gerade die finden sie nicht bei der Judenvernichtung: Was die Nazis so endgültig disqualifiziert, ist der Befund, dass sie für ihren Völkermord keine besseren Gründe gehabt haben als pure ideologische, an die heute, im Unterschied zu damals eben, kein Mensch mehr glaubt – es gibt ja auch die Staatsgewalt nicht mehr, die ihren Volkgenossen diesen Glauben abverlangt hat. Keiner der damals angeführten Gründe hält einer kritischen Prüfung durch den Bundespräsidenten stand: „Der Jude der Antisemiten war kein Wesen aus Fleisch und Blut. Er galt als das Böse schlechthin und diente als Projektionsfläche für jede Art von Ängsten, Stereotypen und Feindbildern, sogar solchen, die einander ausschliessen.“
Erst beim Rassenwahn als einzigem erkennbaren Beweggrund eines akribisch durchgeführten Völkermords an den Juden, da endlich, ist der betroffene Patriot sich also sicher, dass die Naziherrschaft zu weit gegangen und nicht zu rehabilitieren ist – und sogar da muss die grosse Zahl und die absolute Unauffälligkeit der Mehrzahl der Opfer im zivilen Leben der Nation immer hinzugedacht werden: Der nicht minder total angelegte Genozid an Europas Zigeunern lässt saubere Deutsche schon wieder an eventuell doch akzeptable Beweggründe denken; und wäre die Zahl der Opfer nicht garantiert siebenstellig, dann hielte sich das nachträgliche Entsetzen auch schon wieder in den Grenzen eines mehr routinemässigen Bedauerns über ein „dunkles Kapitel“ der Geschichte, wie es im Leben jeder Nation irgendwann vorkommt… Das „Nie wieder“ – der zentrale Auftrag der deutschen Regierung für Merkel und Gauck ist dabei die nicht fehlbare Rechtfertigung der demokratischen Herrschaft: Das gesamte demokratische Staatsleben geht in Ordnung, solange sich dort nicht wieder eine fanatische Mannschaft zum Ermorden von Juden verabredet – was ja wirklich nur selten zur Räson eines Staates und zu der des neuen Deutschland tatsächlich nicht gehört.
Damit allein geben sich die demokratischen Führer der BRD allerdings noch nicht zufrieden. Auschwitz dient in seiner heutigen Form als Ort der nationalen Erinnerung nicht nur zur Legitimation der heutigen Nation nach innen – solange der Staat seinen „Nie wieder“ Auftrag erfüllt – sondern auch nach aussen: „Was ist es wert, fragte Buergenthal, dieses “Nie wieder”, das zentrale Versprechen nach Auschwitz? Gab es nicht – so Buergenthal damals – Kambodscha, Ruanda und Darfur? Gab es nicht – so könnten wir hinzufügen – Srebrenica? Und gibt es heute nicht Syrien und Irak? Auch wenn hier die Verbrechen nicht die Dimension nationalsozialistischen Mordens erreichten und erreichen, so sei es doch schrecklich entmutigend, erklärte Thomas Buergenthal, und ich zitiere, “wenn Genozid und Massenmord fast Routine werden”. Wenn die Welt “Nie wieder” erkläre, aber “die Augen vor dem nächsten Genozid” verschliesse.“
Auch in Zukunft werden also die Toten des deutschen Nationalismus noch als Lehrstück hinhalten müssen, für ein Deutschland, dass nicht nur „Nie wieder Krieg“ sondern auch „Nie wieder Auschwitz“ gelernt hat – und so gerne einmal seinen Imperialismus begründet. Das hat der erste aussenpolitische Anwendungsfall dieser deutschen Nationalmoral im Europa der Nach-Nachkriegzeit drastisch vorgeführt: Im Streit um einen Balkan-Einsatz der Bundeswehr konnten sich die Vertreter der Einmischungs- wie der Nichteinmischungskalkulation auf die „Erblast“ des faschistischen Krieges als Verpflichtung für heute berufen – wegen der Verbrechen, die die deutsche Wehrmacht als loyale Armee unter Hitler in Jugoslawien verübt hat, sollte die Bundeswehr nach der einen Meinung nicht, nach der anderen erst recht „wieder“ dorthin gehen. Klar ist seither, dass Deutschland seinen nächsten Kriegseintritt, egal gegen wen, auf jeden Fall aus besonders tief empfundener antifaschistischer Verantwortung beschliessen wird. Und darauf bereiten Merkel und Gauck uns vor – 70 Jahre nach Auschwitz.
Fussnoten:
[1] http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/01/2015-01-26-merkel-auschwitz.html
[2] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundestag-Gedenken.html
[1] http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/01/2015-01-26-merkel-auschwitz.html
[2] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundestag-Gedenken.html