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Syrien: Provozierter „Konfessionskrieg“ als Machtinstrument

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Schlachtfeld Irak und Syrien Provozierter „Konfessionskrieg“ als Machtinstrument

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Politik

Schlachtfeld Irak und Syrien: Die Menschen im Mittleren Osten sind auf der Suche nach einem Leben jenseits von Religiosität, Nationalismus, Dogmatismus, Fanatismus, Macht und kapitalistischer Ausbeutung.

Bombardierung von IS-Stellungen in der syrischen Stadt Kobane durch die US-Luftwaffe am 16. Oktober 2014.
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Bombardierung von IS-Stellungen in der syrischen Stadt Kobane durch die US-Luftwaffe am 16. Oktober 2014. Foto: PersianDutchNetwork (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 22. Dezember 2014
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Syrien und in den letzten Monaten auch der Irak sowie
der gesamte „konfliktreiche“ Mittlere Osten befinden
sich in einer krisenhaften Übergangsphase. Momentan
erleben wir dort eine weite Teile der Region betreffende
„provozierte“ Eskalation. Gruppen von Sunniten
und Schiiten intensivieren jeweils ihre Machtpolitik und
forcieren auf unterschiedliche Weise gewaltförmige
Auseinandersetzungen. In diesem Rahmen werden
auch Menschen anderer Religionsgruppen, Ethnien
oder politischer Meinung terrorisiert, verfolgt, vergewaltigt
oder massakriert. Millionen von Menschen
wurden zur Flucht getrieben. Die êzîdischen Kurden in
Şengal (Sindschar) sind die letzten Opfer auf diesem
systematisch provozierten Schlachtfeld.

Davor waren
bereits die Turkmenen in Tal Afar, davor die Christen
und Schabak-Kurden in Mûsil (Mosul), davor Kurden,
Araber und Suryoye aus verschiedenen Städten in
Syrien von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit durch die fanatischen Dschihadisten
der Gruppe Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS),
neuerdings nur noch Islamischer Staat (IS), einen der
aggressivsten und menschenverachtendsten künstlich
erzeugten Akteur in der Region, betroffen.
Genau betrachtet geht es in den Auseinandersetzungen
nicht, wie gern in den Medien behauptet wird,
um den Streit zwischen Religionsgruppen oder konfessionelle
Unterschiede, sondern um die Ausweitung
von Macht in allen Lebensbereichen der Menschen.

In
erster Linie handelt es sich um einen Verteilungskrieg,
der von internationalen Mächten und Akteuren in der
Region zur Durchsetzung wirtschaftlicher, politischer
und strategischer Interessen und zur Sicherung des
Zugriffs auf Ressourcen geführt wird. Es geht um die
Neuordnung des Mittleren Ostens – und diese Neuordnung
hat auch Auswirkungen auf die gesamte
Weltordnung. Die Verletzung von Freiheitsrechten, die
Aushebelung demokratischer Standards, die Verletzung
der Menschenwürde und von Frauenrechten,
die Ausbeutung von Ressourcen und die Instrumentalisierung
der Forderungen von Menschen in demokratischen
Aufständen sind bei dieser Neuordnung einkalkuliert
und untrennbar miteinander verbunden.
Und es geht gegen die Errungenschaften der Revolution
in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien), ein
Beispiel eines demokratischen Lösungsmodells für die
gesellschaftlichen Probleme, das in der Region bisher
einmalig ist. Das System des „Demokratischen Konföderalismus“
gibt der Gesellschaft die Möglichkeit,
auf basisdemokratischer Ebene mit selbstverwalteten
Strukturen ihre Belange selbst in die Hand zu nehmen.
Somit entwickelt sich die Region zu einem eigenständigen
Subjekt in Unabhängigkeit von anderen Grossmächten.

… Schiiten versus Sunniten?

In den regionalen und internationalen Medien werden
die Konflikte, bzw. der Gesamtkonflikt, allerdings
vollkommen anders dargestellt und gedeutet. Es wird
behauptet, dass der Iran, das sich in einem intensiven,
von aussen befeuerten Stellvertreterkrieg befindliche
Syrien, der bis vor kurzem noch von Nuri al-Maliki
dominierte Irak, die Mehdi-Brigaden im Irak, die radikalislamische
Hamas, die Hisbollah im Libanon und die
in einer passiven Rolle mitwirkenden Staaten Jemen
und Bahrain einen schiitischen Block bilden würden.
Dagegen stünde der rivalisierende sunnitische Block
unter der „Führung“ Saudi-Arabiens, Katars und der
Türkei mit den von ihnen geförderten dschihadistischen
Banden und Terrorgruppen – allen voran der Islamische
Staat IS, die Al-Nusra-Front als Vertreterin von
Al-Qaida und weitere.

Auch den Muslimbrüdern nahestehende
Organisationen in Jordanien und Ägypten
sowie die Mehrheit der syrischen Auslandsopposition
und die kurdische PDK (Partiya Demokrat a Kurdistanê,
Demokratische Partei Kurdistan) von Masud
Barzanî werden diesem Spektrum zugeordnet.
Mit einem Anteil von ca. 85% bilden die Sunniten,
neben ca. 10% Schiiten, die grösste Konfessionsgruppe
im Islam. Der „Unterschied“ ist auf einen ca. 1400
Jahre alten Konflikt zurückzuführen. Zentraler Streitpunkt
zwischen Sunniten und Schiiten ist, vereinfacht
gesagt, wer die Moslems nach dem Tod des Propheten
Mohammed führen sollte. Hier liegt eine der Wurzeln
einer bis heute andauernden und auch historisch gern
von Kolonialmächten instrumentalisierten Auseinandersetzung
um Einfluss und Macht. Auch wenn es in der
Geschichte zu blutigen Konfrontationen kam, waren
die grössten Wunden des äusserst komplexen Konflikts
im Grunde genommen in den letzten Jahrzehnten in
gewissem Masse geheilt.

… US-Intervention

Seit der Intervention der USA und ihrer Verbündeten
im Irak im Frühjahr 2003 hat sich im Mittleren Osten
und in weiten Bereichen des „islamischen Raums“ die
sunnitisch-schiitische Kontroverse allerdings erneut
ausgebreitet und vertieft. Die Intervention mündete in
einem schrecklichen Bürgerkrieg. Unter der Herrschaft
Nuri Al-Malikis haben sich die Verhältnisse im Gegensatz
zu vorher umgekehrt. Unter Saddam Hussein hatte
die jahrzehntelang politisch dominierende Minderheit
der Sunniten die Bevölkerungsmehrheit der marginalisierten
Schiiten unterdrückt und von politischer Teilhabe
ausgeschlossen. Nun dominieren die Schiiten die
Sunniten und verwehren ihnen die Teilhabe.
Provozierter „Konfessionskrieg“
als Machtinstrument
Seit 2003 beherrschen aufgrund dieser Auseinandersetzung
Terror- und Selbstmordanschläge, Morde an
Sunniten und Schiiten den politischen Alltag im Irak.

2011 zogen sich die US-amerikanischen Soldaten
aus dem Irak zurück, Tausende von ihnen hatten zuvor
ihr Leben verloren. Einer US-Studie zufolge starben
während des Irak-Krieges und der anschliessenden
Besatzung mindestens 500.000 Iraker. Und das ist
eine „niedrige Schätzung“, schrieb die
Süddeutsche Zeitung im Oktober letzten
Jahres. Seit 2003 hat sich auf diesem
irakischen Schlachtfeld zudem u. a. die
Gruppe Islamischer Staat (IS), zunächst
unter dem Namen Tawhid und Dschihad,
gebildet und entwickelt. International
wurde sie ab 2013 unter dem Namen
ISIS im syrischen „Stellvertreterkrieg“
bekannt. Berüchtigt ist diese Terrorbande
durch die von ihr verübten Kriegsverbrechen
und Massaker. „Diese Ereignisse
sind eine Folge der amerikanischen
Intervention von 2003“, sagt dazu der
Nahostexperte Dr. Michael Lüders im
Gespräch mit der Deutschen Welle.

… andere Faktoren sind identitätsbestimmend

In den letzten Jahren scheint sich der sunnitisch-schiitische
Konflikt auch durch die demokratischen Aufstände,
die oft „Arabischer Frühling“ genannt werden,
vertieft zu haben. Es kam zunehmend zu einer Polarisierung
und militärischen Auseinandersetzung zwischen
Akteuren der „beiden Gruppierungen“. Ausgehend von
den gegen totalitäre Herrschaftsformen gerichteten
demokratischen Aufständen in Nordafrika und im Mittleren
Osten sind interreligiöse Konflikte revitalisiert
worden. Wir dürfen dabei nicht ausser Acht lassen,
dass diese Konflikte von regionaler und internationaler
Seite ausreichend mit geschürt wurden. „Dabei ist es
ebenso unzutreffend, von rein religiösen Motivationen
auszugehen, wie von der Vorstellung zweier in sich
geschlossener homogener sunnitischer und schiitischer
Identitäten. Historische und aktuelle Konflikte waren
immer eingebunden in politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Prozesse, und jenseits von Gruppenzuordnungen
zu Sunniten und Schiiten waren und sind oftmals
ganz andere Faktoren identitätsbestimmend“, schrieb
Dr. Sigrid Faath in ihrer Forschungsarbeit „Rivalitäten
und Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten in Nahost“
für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
(DGAP).

Dieser Analyse zufolge sind also politische, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Prozesse identitätsbestimmend
– und ein damit verbundenes Streben nach
mehr Herrschaft und Macht. Politisch entwickelten
sich despotische Staatsstrukturen, deren Eliten die
Gewinne aus der Ausbeutung oder dem Ausverkauf
von Ressourcen im Eigeninteresse ausschöpften. Gesellschaftlich
beruhte deren Herrschaft vornehmlich
auf Unterdrückung, Ausgrenzung und Verachtung der
jeweils nicht an der Macht beteiligten religiösen oder
ethnischen Minderheiten.

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen und Kriege
im Mittleren Osten, wie zuletzt die Konflikte in Syrien
und im Irak, können demzufolge nicht einfach als Gegensatz
zwischen Sunniten und Schiiten erklärt werden.
Das ist nur die offensichtliche Oberfläche weit
tiefer greifender und historisch gewachsener Probleme.
Die tiefer liegende Ursache vieler Probleme
und Konflikte ist die Bildung der jeweiligen Staaten
als Folge einer Grenzziehung auf dem Reissbrett
nach dem Ersten Weltkrieg, die hauptsächlich auf
Betreiben der imperialistischen Siegermächte
England und Frankreich umgesetzt worden war.
Die aktuelle Ordnung im Mittleren Osten beruht
nicht auf selbstbestimmten Entscheidungen der
Gesellschaften, sondern vielmehr auf einer von
reaktionären und feudalen Akteuren aufrechterhaltenen
und von regionalen und internationalen
Mächten unterstützten „künstlichen“ Struktur.

… Bildung von Nationalstaaten

„Zu Beginn der Industriellen Revolution vor
mehr als zweihundert Jahren ging die Entwicklung des
Nationalstaates Hand in Hand mit der unkontrollierten
Kapitalakkumulation auf der einen Seite und der
ungehinderten Ausbeutung der schnell wachsenden Bevölkerung
auf der anderen Seite.

Die neue Bourgeoisie,
die aus dieser Revolution erwuchs, wollte sich an
den politischen Entscheidungen und am Staatsaufbau
beteiligen. Der Kapitalismus, ihr neues Wirtschaftssystem,
wurde so zu einem natürlichen Bestandteil des
neuen Nationalstaates. Der Nationalstaat brauchte
die Bourgeoisie und die Macht des Kapitals, um die
auf Stammesstruktur und Erbrecht beruhende alte
Feudalordnung und ihre Ideologie durch eine neue
nationale Ideologie zu ersetzen, die alle Stämme und
Sippen unter dem Dach der Nation vereinte. Auf diese
Weise wurden Kapitalismus und Nationalstaat so eng
miteinander verbunden, dass die Existenz des einen
ohne den anderen unvorstellbar wurde. Infolgedessen
wurde Ausbeutung vom Staat nicht nur erlaubt,
sondern sogar erleichtert und gefördert.“ Diese von
Abdullah Öcalan beschriebene „Erleichterung“ und
„Förderung“ des Kolonialismus haben auch dazu
geführt, dass die kurdische Region auf den Iran, die
Türkei, den Irak und Syrien aufgeteilt wurde. Heute
sind die Kurden, die jahrzehntelang unter dieser
kolonialistischen Aufteilung gelitten haben, ein wichtiger
politischer Akteur, der auf Grundlage eigener
politischer Lösungskonzepte für Stabilität, ein respektvolles
Zusammenleben der unterschiedlichen Religionsgruppen
und Ethnien und Verständigung wirkt.

… kurdischer Widerstand

Unter anderem die PDK und die YNK (Yekîtiya
Nîştimanî ya Kurdistanê, Patriotische Union Kurdistan)
leisteten jahrzehntelang im irakischen Teil Kurdistans
Widerstand gegen Unrecht. Die von Abdullah Öcalan
geführte PKK (Arbeiterpartei Kurdistan) und die in
ihrem Umfeld entstandene neue kurdische Freiheitsbewegung
kämpfen seit mehr als vierzig Jahren gegen
Unrecht und für die legitimen Rechte der Kurden in
der Türkei.
Erst durch diesen Widerstand wurde die
kurdische Frage zu einer „internationalen Angelegenheit“,
die die Entwicklungen im gesamten Mittleren
Osten beeinflusst und momentan im Fokus der neuesten
Ereignisse in der Region steht. Heute führen die PKK
und die kurdische Freiheitsbewegung Verhandlungen
über eine friedliche Lösung, die innerhalb der bestehenden
Grenzen eine Demokratisierung der Türkei
und eine demokratisch-autonome Region Kurdistan
ermöglichen soll. Auf diese Art könnten den Kurden
Rechte und Freiheiten gewährt werden. Auch die
Kurden in Syrien, die jahrzehntelang vom Baath-Regime
unterdrückt und ausgegrenzt wurden, agieren im
Rahmen des Aufstands in Syrien mit einem neuen Politikverständnis
und schlagen friedliche und stabilisierende
Lösungswege vor, die von der Weltöffentlichkeit
wahrgenommen werden. Sie fordern keine Abtrennung
vom syrischen Staat, sondern, als „Dritten Weg“, das
Recht auf demokratische Selbstorganisierung und freie
Entfaltung für sämtliche in Syrien lebenden ethnischen
und religiösen Bevölkerungsgruppen
u. a. in einer
demokratisch-autonomen Region
Rojava. Im Iran fordert
die Mehrheit der Kurden
eine Dezentralisierung der
Macht und demokratische
Reformen, in deren Rahmen
sie sich in einer selbstverwalteten
autonomen kurdischen
Region organisieren können.
Die genannten Lösungsvorschläge
basieren auf dem
Politikverständnis und den
Ideen Abdullah Öcalans.

… die Suche nach Lösung

Durch die „Loslösung von der Forderung nach einem
kurdischen Nationalstaat“ öffnen sich auch alternative
Wege für die Lösung der ethnischen und religiösen
Probleme im Mittleren Osten. Diese Vorstellung mag
idealistisch und utopisch wirken – ihre Umsetzung ist
jedoch nicht unmöglich. „Wir erkannten genauso eine
Verbindung zwischen der kurdischen Frage und der globalen
Herrschaft des modernen kapitalistischen Systems.
Ohne diesen Zusammenhang zu hinterfragen und Alternativen
zu entwickeln, wäre eine Lösung nicht möglich
geworden. Andernfalls hätten wir uns nur in neue Abhängigkeiten
begeben.“ So beschreibt Öcalan seinen
gedanklichen Hintergrund der Distanzierung von der
Forderung nach einem kurdischen Nationalstaat.

Heute führen der Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung
und deren Suche nach einer Lösung sowie
die im Rahmen der Aufstände im Mittleren Osten formulierten
Anliegen zu einem absehbaren dynamischen
Prozess. Schon am 26. März 2003 gelangte über
seine Anwälte folgende Botschaft Abdullah Öcalans
an die Öffentlichkeit: „Die rückständigen Diktaturen des
Mittleren Ostens werden sich auflösen. [...] Das imperialistische
kapitalistische System und der Mittlere Osten
stehen in einem tiefen Widerspruch zueinander. Entweder
werden neue Regierungen in der USA eine andere Politik
betreiben oder der demokratische Frühling der Völker
wird sich entwickeln. [...] Wir durchleben eine
Übergangsphase.“

Die krisenbehaftete Übergangsphase, von der Öcalan
vor mehr als elf Jahren sprach, hält weiter an. Und
diejenigen Akteure, die keine Lösung anbieten können,
erzeugen mit ihrer fatalen Politik terroristische Banden
wie ISIS/IS oder weitere
Extremisten.

… „Good Governance“ statt freier Gesellschaft

Die USA streben mit dem „Greater Middle East Project“
wahlweise eine Aufteilung und Neuordnung des Mittleren
Ostens und Nordafrikas anhand von Trennlinien
zwischen Religionen, Ethnien und Clans oder Regierungswechsel
im eigentlichen Sinne an. Ähnliche aussenpolitische
Konzepte verfolgen
auch die bestimmenden Kräfte
der EU. Dazu sollen entweder Regimewechsel
in bestehenden Nationalstaaten
gemäss dem Motto
„Good Governance“ durchgeführt
werden – was nichts anderes bedeutet,
als dass eine willfährige
Elite eingesetzt wird – oder die
Staaten sollen, wenn das nicht
möglich ist, von innen heraus zerstört
und neu gegliedert werden.
Beides ist fatal und mörderisch.

Denn innerhalb der Grenzen der
bisherigen Nationalstaaten in der
Region wurden die Freiheiten und Rechte der verschiedenen
Bevölkerungsgruppen stets systematisch und oft
auf grausame Weise begrenzt und verletzt. Und diese
beiden Konzepte würden daran nichts ändern.
Folgte man der These „jede Bevölkerungsgruppe
braucht einen Staat“, müsste jeder der Bevölkerungsgruppen,
deren Existenz uns oft erst durch die Rebellionen
in der Region bewusst wurde, ein Nationalstaat
zugestanden werden. Das beträfe dann u. a. die Assyrer
in Syrien, die Tuareg in Nordafrika, die Christen
in Ägypten oder in Syrien, die Turkmenen im Irak und
in Syrien, um nur einige wenige zu nennen. Mehr als
fraglich ist jedoch, ob ein Nationalstaat oder ein Religionsstaat
– ein Kalifat, wie ihn der IS anstrebt – die
einzige Möglichkeit für die gemeinsame Gestaltung
einer Gesellschaft ist?

Es muss doch andere Wege
geben, die das Leiden der Menschen, das Leiden der
verschiedenen benachteiligten ethnischen und religiösen
Gruppen beenden könnten. Neue Wege jenseits
von religiösem Fanatismus, Nationalismus, Dogmatismus, Militarismus, Kapitalismus und Machtfixierung
müssen gewagt werden, um ein respektvolles Zusammenleben
der unterschiedlichen Akteure und Gruppen
in multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften zu
ermöglichen. Egal welches Land in der Region wir uns
ansehen: Die künstlich geschaffenen Grenzen der Nationalstaaten
erzeugen keine Lösung der ethnischen,
religiösen, sprachlichen, kulturellen und weiteren
Spannungen und Probleme.

Im Mittleren Osten und in Nordafrika sind die Staaten
überwiegend so strukturiert, dass auch von aussen
gestützte Gruppen/Familien/Clans unter Zuhilfenahme
des gesamten Staatsapparates über andere Gruppen/
Familien/Clans herrschten und die Ressourcen
sowie die Menschen ausbeuteten. Es gibt kein einziges
Beispiel für eine solche gesellschaftliche Formation,
in der nicht undemokratische Mittel sowie massive
Gewalt gegen ethnische und religiöse Minderheiten
angewandt wurden bzw. werden.

… Aufstand gegen Herrschaft

Es greift zu kurz, die gesellschaftlichen Aufbrüche in
Nordafrika und im Mittleren Osten als „Arabischer
Frühling“ zu bezeichnen. Diese Rebellionen werden
von dutzenden verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen
getragen, von denen wir zuvor oftmals
wenig gehört und gewusst haben. Deswegen wäre
es passender, von einem „demokratischen Aufstand
der Völker“ zu sprechen. Die Völker haben durch die
Aufstände u. a. Husni Mubaraks dreissigjährigeHerrschaft
in Ägypten und die mehr als zwei Jahrzehnte
andauernde Herrschaft von Staatspräsident Zine
el-Abidine Ben Ali in Tunesien beendet. Sie haben
darüber hinaus auch die mehr als vierzigjährige Herrschaft
der Familie Assad in Syrien, den langjährigen
Herrscher Ali Abdallah Saleh im Jemen sowie derzeit
den vierzig Jahre herrschenden Ministerpräsidenten
Prinz Khalifa Ben Salman al-Khalifa (und dessen Clan)
in Bahrein infrage gestellt – und zudem die korrupten
und auf Klientelismus basierenden Staatsstrukturen
aufgedeckt, die jahrzehntelang auf dem Rücken der
eigenen Bevölkerung eigene Interessen und solche aussenstehender
Akteure bedient haben.
Die regionalen
und internationalen Mächte können sich heute nicht als
unschuldig darstellen – als hätten sie nicht gewusst,
was diese autoritären Regime der jeweiligen Bevölkerung
angetan haben. Anstatt die notwendigen Konsequenzen
zu ziehen und die jeweilig Herrschenden zur
Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen
Standards zu bewegen, hat man ihnen jahrzehntelang
u. a. durch politische, militärische und wirtschaftliche
Beziehungen den Rücken gestärkt. Der Machterhalt
der jeweils herrschenden autoritären Akteure in diesen
Staaten diente nicht der Bevölkerung, sondern kapitalistischem
Profitstreben und der Ausbeutung von
Ressourcen. Die Herrscher wurden deshalb legitimiert,
deren Familien und Umfeld zu Milliardären gemacht
und die Bevölkerung in die Armut getrieben.

… „verspäteter Widerstand“

Das, was Öcalan vor elf Jahren als „demokratischen
Frühling der Völker“ beschrieb, benennt der amerikanisch-
iranische Islam-Experte Hamid Dabashi Anfang
2011 als „verspäteten Widerstand“ gegen die vom
europäischen Kolonialismus aufgebauten Nationalstaaten
in der Region.

Dabashi sagt in einem Interview mit Miriam Shabafrouz
über die Staaten, in denen sich Widerstand
entwickelte: „Es sind alles post-koloniale Gesellschaften,
von Marokko bis Syrien, denen eine Art von innerstaatlicher
Tyrannei, die nach Ende des europäischen
Kolonialismus entstand, gemeinsam ist. Es sind falsche
und künstliche postkoloniale Staaten.“ Und führt weiter
aus: „In diesen Teilen der Welt revoltieren die Menschen
erstens: gegen den Kolonialismus, der diese Bedingungen
hervorgebracht hat, zweitens: gegen die innerstaatlichen
Tyranneien, die die koloniale Vergangenheit geerbt
haben, und drittens: gegen das derzeitige imperialistische
Projekt, das den gesamten Globus lenken will. Die
Tatsache, dass diese Revolten stattfinden, ist eine Konsequenz
des dysfunktionalen globalen Kapitalismus, der
systematisch Armut produziert.“

Weitere Staaten, wie z. B. Irak, Iran, Saudi-Arabien,
Katar, Türkei, Jordanien, Kuwait, Oman oder in Nordafrika
Algerien und Marokko, werden ebenfalls
nicht von demokratisch gesinnten Regierungen geführt,
sondern vielmehr von autoritären und korrupten Präsidenten,
Königen, Generälen und Politikern unterdrückt.
Die Notsignale der Bevölkerung sollten gehört werden.
Deren grosse Mehrheit stellt die Staatsapparate
und deren „korrupte Hüter“ infrage – die „Völkergemeinschaft“
tut dies nicht. Ganz im Gegenteil wird
versucht, die genannten Staaten in ihren bisherigen
Strukturen zu erhalten oder mit neuen anderen – aber
vom Prinzip her ähnlich undemokratischen Strukturen
und/oder Machthabern – zu restaurieren. Das kommt
im Grunde genommen dem Versuch gleich, einen Wolf
in ein Schaf zu verwandeln.

… innerlich „verfallen“, äusserlich „schonen“

Es ist jedoch absehbar, dass diese Art Staaten mehr
und mehr innerlich „verfallen“ werden, solange innerhalb
der Gesellschaft keine demokratische Öffnung
des Raumes stattfindet, der momentan von den genannten
Gewaltmonopolen beherrscht wird. Ohne
eine demokratische Öffnung könnte eine weitreichende
neue Form totalitärer Herrschaft im radikalen
und religiösen Gewand hegemonial werden – vor
allem angesichts der katastrophalen politischen und
wirtschaftlichen Lage in der Region. Die radikalen,
dschihadistischen Gruppen gewinnen mehr und mehr
Zulauf, weil sie die Zustände und die berechtigte
Unzufriedenheit der Menschen für ihr politisches Kalkül
ausnutzen und eine scheinbare Alternative bieten.

Der
vermeintlich unausweichliche Konflikt zwischen Sunniten
und Schiiten wird in diesem Zusammenhang mehr und
mehr als Vorwand benutzt, um zu verhindern, dass sich
demokratische Räume im Mittleren Osten öffnen. Um
das zu verhindern, wird der „konfessionelle“ Konflikt
auch von aussen bewusst geschürt und eskaliert.
Der ehemalige US-Sonderbotschafter -Antiterrorkoordinator
und Direktor des „John Sloan Dickey Center
for International Understanding“ sagte dazu im Wall
Street Journal am 24.06.2014: „Nachdem die sunnitischen
Dschihadisten von ISIS im Nordirak eine Stadt
nach der anderen eingenommen haben und schwarz
gekleidete schiitische Milizionäre antraten, um sie zurückzuschlagen,
ist es verlockend, Jahrhunderte altem
religiösem Hass die Schuld für das Chaos zu geben.
Aber der heutige Konflikt ist weniger das unerklärliche
Produkt urweltlicher Missstände als das vorhersehbare
Ergebnis neuzeitlicher Machtpolitik.”

… Interventionen schüren Chaos

Auf die Rolle der USA und europäischer Mächte im
Rahmen dieser Machtpolitik geht Cemil Bayık, der
Kovorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der
Gesellschaften Kurdistans (KCK) kritisch ein und sagt:
„So wie das Nationalstaatsverständnis der kapitalistischen
Moderne wird auch diese neue Kollaborationspolitik
keine Antwort für die Probleme der Region
haben. Denn es trägt in seinem Wesen keinen demokratischen
Charakter. Es wird kein System aufgebaut, das
auf dem demokratischen Leben und der Freiheit aller
ethnischen und religiösen Gemeinschaften basiert, mit
Kollaboration soll die Gesellschaft am Zügel gehalten
werden. Insofern sich nicht von der Politik abgewendet
wird, die Widersprüche immer wieder auszunutzen und
so die Kontrolle zu behalten, ist kein Mittlerer Osten
gewollt, der auf einer demokratischen Gesellschaft
beruht, in dem Widersprüche aufgehoben sind und alle
ethnischen und religiösen Gruppen und andere soziale
Gemeinschaften sich frei organisieren und partizipieren.

Denn eine demokratische Gesellschaft ist eine willensstarke
und gestärkte Gesellschaft, die sich folglich den
Forderungen und Zumutungen der Kräfte von ausserhalb
nicht beugt. Demokratie und Demokratisierung schaffen
im Grunde eine Situation, in der der Einfluss der
herrschenden und ausländischen Kräfte reduziert oder
sogar gänzlich abgebaut ist. In dieser Hinsicht werden
eine Politik und eine Praxis, die eine Demokratisierung
und Befreiung des gesamten Mittleren
Ostens mit sich bringen, die internationalen
Mächte natürlich beunruhigen. Die
werden nicht begeistert sein von einer
freien, auf demokratischer Organisierung
beruhenden Gesellschaft. Insofern
wird, weil die US- und europäische Intervention
im Mittleren Osten und die damit
verbundene Neuordnung der Region die
Gesellschaft nicht befrieden und keine Antwort für deren
Bedürfnisse haben werden, die Position der Gesellschaft
zu Organisierung und Widerstand weiter Gültigkeit
haben. Weder werden die Probleme im Mittleren Osten
verschwinden, noch wird der Widerstand gegen die
Quelle dieser Probleme, nämlich die internationalen
Mächte und deren Kollaborateure, enden.“

… Instrumentalisierung von Religion

Religionsunterschiede oder die Konfession werden
im Mittleren Osten aus den genannten Gründen für
Machtkämpfe instrumentalisiert. So wie die „Hüter
des Nationalstaates“, in dessen Namen die Menschen
unterdrückt und massakriert wurden, sind es jetzt die
Imame, Prediger, Mullahs, Sheikhs (Scheichs), Emire
und Kalifen, die Fatwas erteilen und damit Andersdenkende
im Namen Allahs abschlachten lassen und das
weniger aus religiösen als aus machtpolitischen Gründen
tun. Islam, Christentum, Judentum oder Buddhismus
sind als Religion nicht gefährlich – sie werden lediglich
dann bedrohlich, wenn sie für machtpolitische Zwecke
missbraucht werden. In diesem Kontext sollten wir auch
das Erstarken der geistig im Mittelalter verwurzelten
Gruppe IS/ISIS in Syrien und Irak verstehen.

… Wer steht hinter ISIS/IS?

Es ist allerdings auch notwendig zu sehen: Ohne eine
Unterstützung von ausserhalb Syriens und des Irak
hätte eine Gruppe wie ISIS/IS nicht so schnell wachsen
und Fuss fassen können. „Wer steht hinter ISIS/IS“ ist
die wichtige Frage, die wir uns stellen müssen, um zu
verstehen, wer von deren grausamem Vorgehen profitiert.
Folgt man den Spuren, führen sie von Saudi-Arabien
und Katar über die Türkei und den Kaukasus bis
nach Europa. Haben wir je eine ernsthafte Kritik von
der Regierung Erdogan oder den Regierungen Saudi-
Arabiens oder Katars am IS gehört? Soweit ich weiss,
nicht. Wie konnte sich der türkische Aussenminister Ahmet
Davutoglu erlauben, IS zu verharmlosen, als er am
7. August gegenüber einem türkischen Fernsehsender
erklärte, bei der Organisation handele es sich um eine
wütende Gemeinschaft? Er fuhr fort: „Eine Struktur wie
der IS mag auf den ersten Blick wie eine radikale und
terroristische Organisation erscheinen, aber in ihr sind
Massen organisiert. Im IS gibt es sunnitische Araber und
auch nicht wenige Turkmenen.“

Unterscheiden sich die Islamvorstellungen Erdogans
und Davutoglus von denen des IS, müssten sie ihn doch
kritisieren. In dieser Hinsicht hinterfragt der türkische
Journalist und Autor Cengiz Çandar „Wo steht die
Türkei in Sachen ‚Islamischer Staat'?“
und schreibt: „Das Gespann Erdogan/
Davutoglu hat regelrecht ‚Geburtshilfe'
für den ‚Islamischen Staat' an der
gesamten Südgrenze unseres Landes
geleistet. Dies sollte verhindern, dass
‚kein zweites autonomes Kurdistan entsteht
und um etwaige Forderungen der
Kurden in der Türkei abzuwenden'.“

Er
verweist in seinem Artikel auf Äusserungen
Patrick Cockburns, der in seiner Argumentation
im Artikel „ISIS Consolidates“ noch weiter gehe: „Die
Rolle der Türkei war anders, aber nicht weniger wichtig
als die Hilfe Saudi-Arabiens an ISIS und andere dschihadistische
Gruppen. Ihre wichtigste Handlung war das
Offenhalten der 510 Meilen langen Grenze zu Syrien.
Die irakischen Sicherheitsbehörden vermuten eine grosse Unterstützung der 2011 neu aufgebauten ISIS
durch den militärischen Geheimdienst der Türkei.“
Doch kommen wir nochmals zum Thema Islam und
Konfessionen. Die Probleme des Mittleren Ostens
entstehen nicht durch den Islam oder dessen Konfessionen,
wie gerne behauptet wird. Für ein tieferes
Verständnis ist es wichtig zu sehen, dass die Definition
von Gruppen als dem etwaigen politischen Islam oder
gemässigten Islam zugehörig immer vom Standpunkt
derjenigen Akteure abhängt, die das gerade definieren.
Egal ob in diesem oder anderem politischen
Zusammenhang wird oft durch eine Negativzuschreibung
einer Gruppe als „feindlich“ oder deren
etwaige Negierung versucht, den eigenen
Nationalismus, die eigene autoritäre Politik,
bewusste Umweltzerstörung, Ausbeutung von
Ressourcen (Öl, Wasser, Gas), patriarchale
Unterdrückung und die Unterschiede zwischen
Arm und Reich zu kaschieren.

… Kapitalismus

Es geht mir nicht darum, den Islam in Schutz
zu nehmen. Es geht mir vielmehr darum, die
Probleme richtig zu analysieren. In jeder
Region der Welt, in Afrika, in Asien, in
Südamerika und in Europa werden genau betrachtet
ähnliche Probleme wie derzeit im Mittleren Osten
offensichtlich. Die Ursache dafür können und wollen
wir nicht in Religionskonflikten finden, da es diese in
den betroffenen Regionen offensichtlich überwiegend
nicht gibt. Es wird viel eher deutlich, dass es machtzentrierter
und ungehemmter Kapitalismus ist, durch
den die Rechte und die Würde sowie die Existenz der
Menschen infrage gestellt und angegriffen werden
– durch den die Natur zerstört wird und Ressourcen
ausgebeutet werden. Dieser ungehemmte Kapitalismus
bewirkt eine ungleiche Verteilung, durch die eine kleine
Gruppe in Luxus und Wohlstand lebt und die grosse
Mehrheit der Menschen in absoluter Armut.
Der sich intransparent und mit grosser Geschwindigkeit
– ohne Übergangsphasen – in das Leben der Menschen
im Mittleren Osten schleichende Kapitalismus ist
in vielerlei Hinsicht nicht weniger brutal und wild als
der dschihadistische Islamismus. Gegenseitig unterstützen
sie sich auf dem „Weg in Richtung Chaos“.

Die
Bombardierung von Moscheen, Kirchen und anderen
Gebetsstätten im Irak wird von den Dschihadisten ausgeführt,
die dafür verwendeten Waffen und Bomben
stammen aus der Produktion kapitalistischer Staaten.
Niemand kann rechtfertigen, dass u. a. in den USA,
England, China, Russland, Deutschland und anderen
EU-Staaten produzieren Waffen weiterhin exportiert
werden. Auch bezüglich der Tragödie in Şengal, nach
dem Angriff und dem grausamen Genozid-Versuch
des IS an Êzîden, ist die Diskussion über „notwendige“
Waffenlieferungen schnell in den Vordergrund gerückt
worden – anstatt den nötigen Schutz und die
humanitäre Hilfe in den Mittelpunkt des Denkens und
Handelns zu stellen. Die Aussenminister der Europäischen
Union haben sich am 15.08.2014 auf eine
gemeinsame Erklärung geeinigt, in der sie die Lieferung
von Waffen an Kurden im Irak durch einzelne
EU-Mitgliedstaaten begrüssten. In Sachen Rechte und
Freiheiten für Kurden waren die EU-Staaten noch nie
so schnell und „grosszügig“ wie bei diesem Beschluss
„EU für Waffenlieferungen an Kurden“.

Obwohl den Despoten in der Region durch Waffenlieferungen
sowie bedingungslos gepflegte politische
und wirtschaftliche Beziehungen jahrelang der Rücken
gestärkt und dadurch die Grundlage für diese
Tragödie geschaffen worden ist, lässt sich bisher kein
Bewusstseinsprozess
erkennen. Es waren
doch nicht die
Menschen aus dem
Mittleren Osten,
die die Akteure
in Syrien und im
Irak jahrzehntelang
mit Waffen
versorgt und somit
militarisierte Gesellschaften
ermöglicht
haben.

… Es gibt keinen gerechten Kapitalismus

Die Menschen sind eigentlich nicht gezwungen, zerstörerischen
Ideologien wie dem modernen Kapitalismus
oder dem dschihadistischen Islamismus zu folgen. Unter
den gegebenen Bedingungen haben die herrschenden
Kräfte, die Bourgeoisie und die Vertreter der kapitalistischen
Moderne allerdings nahezu weltweit eine
gesellschaftliche Struktur und Organisierung in ihrem
Sinne etabliert, die dem Rest der Gesellschaft vorschreibt,
dass sie nach ihren Vorstellungen, also denen
der Herrschenden, zu leben haben oder ausgegrenzt
und marginalisiert werden. Die herrschenden Akteure
drängen sozusagen den Gesellschaften ihr System auf,
in dem für den eigenen Profit andere benachteiligt
werden. Es gibt keinen gerechten Kapitalismus, nicht
in Europa, nicht in Afrika, nicht im Mittleren Osten und
nirgends.

Der Verlauf und die Ergebnisse der demokratischen
Aufstände sind noch offen. Möglich ist auch, dass
radikale islamistische Strömungen gestärkt daraus
hervorgehen. Aber diese Ideologien können sich in
den Gesellschaften nicht langfristig tief verankern,
weil sie nicht demokratisch sind und keine alternative
Perspektive zur vorherigen Unterdrückung bieten. Vielmehr
wiederholen sie unter islamistischem Deckmantel
die alte autoritäre, totalitäre und barbarische Praxis
der durch die Aufstände gestürzten oder hinterfragten
Regime.

… Gibt es eine Lösung für die genannten Probleme?

Als Erstes sollten alle internationalen und regionalen
reaktionären Akteure im Mittleren Osten, die an den Konflikten beteiligt sind, ihr politisches und wirtschaftliches
Kalkül ändern und sich nicht mehr hauptsächlich
auf die gewinnorientierte Plünderung der natürlichen
Ressourcen, Wasser, Öl und Gas, konzentrieren. Um
die Lage zu deeskalieren und den barbarischen und
zerstörerischen IS zurückzudrängen, sollten Räume für
zivilgesellschaftliche Organisierung, NGOs und demokratische
Organisationen in der Region geschaffen
werden. Dadurch würde die Möglichkeit eröffnet, dass
die Menschen mitdiskutieren und ihr eigenes Schicksal
bestimmen
können.

Parallel dazu
sollten die
Menschen,
die sich an
den Aufständen
beteiligt
haben, auch
die Möglichkeit
bekommen, den gesellschaftlichen Transformationsprozess
mitzugestalten. Politische und religiöse
Parteien, die durch demokratische Wahlen, nach den
Aufständen in den arabischen Staaten an die Macht
gekommen sind, müssen sich an demokratische Regeln
und die Menschenrechte halten. Dadurch könnte ein
Weg zur gesellschaftlichen Neuorganisierung eröffnet
werden. Unter anderem Frauen, Jugendliche, Studenten
und Arbeiter sollten ihre Organisierung selbst
übernehmen können und dadurch ebenfalls neue demokratische
Strukturen schaffen. Menschen, die nicht
mehr hinnehmen wollen, erniedrigt und von demokratischer
Teilhabe ausgeschlossen zu werden, können
so ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Das ist
ein harter und langer Weg, der nur Schritt für Schritt
gegangen werden kann. Dazu bedarf es Ausdauer,
Geduld und Bewusstsein – da nicht jeder Schritt sofort
als Erfolg wahrnehmbar sein wird und gesellschaftliche
Transformationsprozesse jahrzehntelang dauern
können.

… wofür waren die Aufstände?

Man muss sich auch fragen, aus welchen Motiven die
Menschen die Aufstände durchgeführt haben. Wurden
sie für eine demokratische neue Ordnung in der Region
durchgeführt, so müssen viele Konfliktparteien Abstand
von ihrer bisherigen Politik nehmen. Möchte man
im Mittleren Osten ernsthaft eine demokratische Transformation
beschleunigen, so gibt es Voraussetzungen,
die verschiedene Akteure zu erfüllen haben. Die
kapitalistischen und internationalen Mächte müssten
ihren eurozentrisch-orientalistischen, oberflächlichen
Blick auf die Region ablegen – und daraus Rückschlüsse
ziehen, auf deren Grundlage sie ihre Aussenpolitik
und ihre Beziehungen dementsprechend umzugestalten
hätten. Westliche Ideen und Ideologien lassen sich
im Mittleren Osten nicht so ohne Weiteres umsetzen.
Die gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen und die
historischen Gegebenheiten sind vollkommen andere
als z. B. in den USA oder Europa.

… Orientalismus verschleiert die Wahrheit

Es sollte ein vernünftiger Dialog auf Augenhöhe geführt
werden. Denn der eurozentrische Orientalismus
verschleiert bewusst die Wahrheit über die Gesellschaften
in der Region und bedient in erster Linie
politisches Kalkül und Profitinteressen. Die westlichen
Staaten müssen zudem aufhören, die Region lediglich
als potenziellen Raum zur Ausbeutung von Ressourcen
und zur Sicherung neuer oder alter Absatzmärkte
zu sehen. Der libanesische Analyst Hazem
Saghieh schreibt zu den Folgen einer solch
rückständigen Politik in einem Interview: „Die
konservativen arabischen Monarchien haben
noch eine andere, traditionelle Legitimationsbasis.
Und einige dieser Monarchien, besonders
die in der Golfregion, besitzen aufgrund ihrer
Ölressourcen die Fähigkeit, gesellschaftliche
Loyalitäten zu erkaufen. Somit haben diese
Herrschaften mit den totalitären Regimes im
modernen und ideologischen Sinne wenig zu tun. Vielmehr
stellen sie eine orientalische und primitive Form des
Despotismus dar.“

Diese orientalische und primitive Form des Despotismus
ist heute in der Politik Saudi-Arabiens, Katars und
im Rahmen der AKP-Herrschaft in der Türkei zu beobachten.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu
fragen, auf wessen Kosten der wirtschaftliche Boom in
der Region, wie zum Beispiel in Dubai oder in Doha in
Katar, geschaffen wird. Saghieh hinterfragt diese Art
der Förderung: „Ich denke nicht, dass die gigantischen
Türme in Dubai – im Gegensatz zum Parlament – den
Weg in eine demokratische Moderne ebnen können.
Ich glaube, dass man vielmehr die Grundlagen für eine
zivile Gesellschaft schaffen sollte, jenseits der Autorität
der Religion und der Logik des Familienclans. Die
materielle und architektonische Modernisierung an sich
könnte diese alten, vormodernen Strukturen sogar weiter
fördern.“

Schauen wir uns boomende Länder an, erkennen wir
die Wahrheit in Saghiehs Äusserungen. Sei es in Dubai,
in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Doha in
Katar oder in Hewlêr (Arbil) in der nordirakischen
kurdischen Region, in Riad in Saudi-Arabien oder in
Istanbul oder weiteren Städten in der Türkei, die mit
ihren gigantischen Türmen die Moderne symbolisieren:
Sie erfüllen im Gegensatz zu diesen repräsentativen
„Errungenschaften“ nur wenige Merkmale der Demokratie.
Das allein sollte schon ein Warnsignal sein,
dass eine Politik, die meist an autoritäre Herrscher
und Familienclans gebunden ist, unterlassen werden
sollte. Von internationalen Akteuren wie auch von den
Menschen vor Ort sollten ernsthafte Konsequenzen
gezogen werden.

… Versagen von Nationalstaaten

Die Fixierung auf den Nationalstaat führt ebenfalls in
eine Sackgasse. „Die alte Staatsordnung funktioniert
nicht. Es braucht neue, dezentrale Strukturen für das 21. Jahrhundert. Das Zeitalter des Nationalstaats ist vorbei.“,
schrieb Georg Diez zu Recht in seiner wichtigen
Kolumne „Der Nationalstaat muss sterben“ im Spiegel.
Denn durch die Reproduktion autoritärer gesellschaftlicher
Formationen werden lediglich Akteure stark
gemacht, die einfache, aber oft noch verheerendere
Alternativen anbieten, wie zum Beispiel der IS. Dessen
Massaker sind nur die sichtbare Oberfläche der
beschriebenen tieferen Probleme.

Deshalb muss über
demokratische und friedliche Alternativen nachgedacht
werden, in deren Rahmen alle Bevölkerungsgruppen,
alle Ethnien und alle Religionsgruppen die
Gesellschaft – mit Respekt voreinander – gemeinsam
demokratisch gestalten können. Hierbei statuiert der
Gesellschaftsvertrag, welcher von den Völkern Rojavas
geschlossen wurde, regelrecht ein Exempel. So
kommt jetzt der kurdischen Freiheitsbewegung die
Aufgabe zu, den Widerstand für den demokratischen
Frühling der Völker in der Region voranzutreiben. Der
Schutz der Revolution von Rojava, auch gegen IS, ist
ein gelungenes Beispiel für die Organisierung kollektiven
Widerstands. Eine solche Entwicklung könnte
auch im Irak und in Südkurdistan möglich sein.

Der denkbar schlechteste Weg im Kampf gegen
die Dschihadisten wäre, auf die Unterstützung der
westlichen Mächte, allen voran die USA, zu setzen.
In diesem Kontext ist zu fragen: Wer hat den Irak in
die Krise gestürzt und so den perfekten Nährboden
für radikalislamistische Gruppen hinterlassen? Wer
hat ISIS im Kampf gegen das Baath-Regime in Syrien
überhaupt erst gross gemacht? Die Verantwortung des
Westens ist unübersehbar. Und nun sollen die in erster
Linie für das Chaos in der Region Verantwortlichen
die Sache wieder geradebiegen? Eines ist sicher, eine
demokratische und freiheitliche Perspektive kann nur
aus dem demokratischen Widerstand vor Ort keimen
– nicht durch Intervention
von aussen.

Oder sehen wir uns die
Situation in Israel/Palästina
an. Wie kann
dieser über Jahrzehnte
anhaltende Konflikt,
beide Seiten anerkennend,
gelöst werden? Kann die favorisierte Zweistaatenlösung
überhaupt noch als aktueller Lösungsweg
begriffen werden, ist sie tatsächlich hinreichend für
einen dauerhaften Frieden, ein gleichberechtigtes Zusammenleben?
Wie können beide Seiten nach der langen
Zeit des Krieges gemeinsame Wege entwickeln,
um sich auf Augenhöhe zu begegnen, um ein Miteinander
zu bewirken? Zeigt sich nicht an diesem Konflikt,
in dem zwei Völker ein Territorium als ihr Siedlungsgebiet
beanspruchen, dass das nationalstaatliche Denken
keinen Lösungsweg aufzeigen kann?

… Brücken des Friedens zwischen den Völkern des Mittleren Ostens

Es wäre falsch, das von der kurdischen Freiheitsbewegung
vorgeschlagene Lösungskonzept, ohne den
Sinn dahinter zu verstehen, zu ignorieren. Sämtliche
erwähnten Probleme werden von der kurdischen
Freiheitsbewegung infrage gestellt – und Lösungen
dafür entwickelt. Allein das Diskutieren über diese
Problemfelder gibt den Menschen in der Region Mut,
gegen das scheinbar unabwendbar Vorgegebene zu
rebellieren und Alternativen zu schaffen. „Inmitten des
Chaos im Mittleren Osten zeigen die Kurden in Rojava,
wie eine mögliche Lösung aussehen kann. Indem sie
bewaffnete Konflikte vermeiden und die ‚Demokratische
Autonomie' mit Respekt für alle ethnischen Gruppen
und religiösen Minderheiten aufbauen, präsentieren sie
eine Alternative zu nationalistischen und islamistischen
Staatsmodellen. Ihr Modell ist nicht aus dem Nichts
entstanden. Abdullah Öcalan spricht sich seit vielen
Jahren für eine multiethnische, dezentrale demokratische
Selbstverwaltung aus und straft damit alle Lügen, die
ihm immer noch eine separatistische oder nationalistische
Agenda unterstellen. Wie Nelson Mandela in Südafrika
baut er in Wirklichkeit Brücken des Friedens zwischen
den Völkern des Mittleren Ostens.“

Auch wenn das zunächst lediglich wie ein Modell für
die Lösung der kurdischen Frage aussieht, können viele
Fragen im Mittleren Osten anhand dieser Ideen, die
man auch das „Projekt des Demokratischen Mittleren
Ostens“ nennen kann, gelöst werden. Auch religiöse
Fragen lassen sich auf dieser Grundlage beantworten.
Das gilt vor allem, wenn verschiedene Religions- und
Volksgruppen auf relativ engem Raum miteinander
leben.

Die Akteure, die auf die Konflikte in Syrien, im
Irak und in der Region Einfluss nehmen können,
sollten die Rolle und die Lösungsmodelle der
kurdischen Freiheitsbewegung nicht übersehen.
Die Suche nach Möglichkeiten einer gemeinsamen
politischen Lösung der Konflikte und
einer Entspannungspolitik in Syrien und im Irak
führt auch zu den Ideen der Kurden. Wie z.B.
in Rojava zu sehen ist, können Religions- und
ethnische Gruppen in einer demokratisch-autonomen
oder föderativen Struktur sehr gut gemeinsam leben
und eine positive gesellschaftliche Dynamik des
Verständnisses füreinander entfalten. In Anbetracht
der momentanen Situation in der Region braucht
es dafür aber auch das Recht, sich gegen jede von
aussen kommende Gefahr selbst zu verteidigen. Diese
Erkenntnis bedarf eines Überdenkens der bisherigen
zum Teil auch dogmatischen Politik des Westens. Ein
guter Schritt wäre es, mit Rojava anzufangen und die
dortigen Entwicklungen anzuerkennen – und mit den
sie tragenden Akteuren dort zu reden. Wenn das nicht
der Anfang einer Art Renaissance in der Region werden
kann, was dann?

Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit

Die Fussnoten dieses Textes wurden weggelassen.