Reclaim the Streets - Nachtrag zum 1. April 2023 Zürich: Der Kampf um Wohnraum

Politik

Es ist noch nicht lange her, da waren die Zürcher Kreise 4 und 5 noch von der dort wohnhaften migrantischen und Arbeiter:innen-Bevölkerung geprägt.

Prime Tower in Zürich, März 2023.
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Prime Tower in Zürich, März 2023. Foto: Daniel Reust (CC-BY-SA 4.0 cropped)

19. April 2023
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Korrektur
Sie waren belebt, teilweise verrucht, charakterreich. Dann wandelten sich Aussersihl und das Industriequartier zu beispielhaften Gentrifizierungsprojekten. Besserverdienende kamen, die Mieten stiegen, die Quartierbewohner:innen wurde vertrieben und die Profitgier war geweckt.

Heute reihen sich in den beiden Quartieren globale Fast-Food-Ketten an haute-cuisine-Lokale, noble Cocktail-Bars an Appartmenthotels und Marketingfirmen an hippe Designer:innen in Erdgeschossbüros mit grossen Fenstern. Werden Häuser abgerissen, wird nicht mehr Wohnraum geschaffen, sondern die Stockwerkzahl reduziert, um Luxusresidenzen mit höheren Decken für viel Geld vermieten zu können. Eine Kombination aus globalem Einheitsbrei und über-inszeniertem Individualismus.

Der Stadtrat täuscht sich, wenn das Erfolgsmodell der Stadt auf den Steuereinnahmen von UBS, CS und Google beruht. Die Stadt Zürich verödet und mit ihr ihre Bevölkerung. Was Zürich ausmacht, sind die Leute, die in der Stadt wohnen, sie beleben und Freiräume schaffen, nicht für Profit und Konsum, sondern für gemeinschaftsbildende Begegnungen. Doch diese Freiräume sind seit Jahren unter Beschuss und stehen unter Anpassungsdruck - als Vorbild dient Gerolds Konsumgarten mit Bsetzi-Chic. Kreativität und Solidarität sind weder selbstverständlich noch entstehen sie in durchstrukturierten, institutionalisierten Räumen. Wo Mietzwang und bürokratische Vorlagen herrschen, sind keine Freiräume möglich; wo Kultur kostet, werden Leute davon ausgeschlossen.

Wenn es an Wohn- und Freiräumen fehlt, müssen diese erkämpft werden.

Bewegungen wie Reclaim The Streets möchten sich der Kommerzialisierung der Stadt widersetzen. Die Strassen werden für kurze Momente wiederangeeignet, um aufzuzeigen, dass der Widerstand lebt und die Stadt autonom mit Leben gefüllt werden kann.

Am ersten April eigneten sich zeitweise bis zu 2000 Personen kollektiv die Strassen mit Musik, Bars, goldenen Fahnen und Freude an.

Nach der Langstrassenunterführung stellte sich die aufgerüstete Polizei dem Umzug mit Gummischrot und Tränengas in den Weg. Von ihrer Schiesswut zeugt das liegengebliebene Meer an Schrotpatronen und Reizgaspetarden. Die Polizeisperre konnte aber teilweise durchbrochen werden, worauf sich die Demo auflöste.

Das Verhalten der Polizei zeigte einmal mehr, dass die sie keinerlei Probleme mit Gewalt haben. Es ist heuchlerisch, verhält sie sich jetzt wie ein geschlagener Hund. Die Polizei hält ein Gewaltmonopol inne, ihre Aufgabe ist es, gewaltvoll die kapitalistische, ausbeuterische und diskriminierende Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten. Sie greift jene an, die sich dieser Ordnung widersetzen oder Alternativen aufzeigen.

Solange Europaalleen für Grosskonzerne gebaut werden, BIPoc in Morges, Lausanne oder Bex von der Polzei ermodet werden, Umweltschützende in Saint Soline zusammengeschlagen werden, Grenzen militarisiert statt abgebaut werden, Geflüchtete ertrinken und die Nothilfe von staatlicher Seite verhindert wird, Arbeiter:innen ausgebeutet werden, was sind da schon kaputte Fensterscheiben bei Hotelketten oder farbige Betonwände.

Letzlich fürchtet sich die bürgerliche Gesellschaft aber nicht vor kaputten Fenstern, sondern vor der Wut über das Leben in dieser gewaltvollen Gesellschaft. Dass sich das sogenannte „Partyvolk“ an der Langstrasse dagegen mit den Eingekesselten solidarisierte, ist nicht verwunderlich. Tagtäglich schikaniert die Polizei dort Menschen, müssen Nachbar:innen und Freund:innen wegziehen, weil ihre Wohnungen gekündigt werden, um die Preise zu verdoppeln. Kleinbetriebe verlieren ihre Existenz-Grundlage, weil sie noch einem Coop oder Migrolino weichen müssen. Niemand hat die Bewohner:innen dieser Quartiere um ihre Meinung gefragt - Staat und Stadt meinen, über unsere Leben zu verfügen.

Doch es gibt Menschen, die sich dagegen zur Wehr setzen und lieber ein solidarisches Miteinander aufbauen möchten. Menschen, die davon ausgehen, dass Wohlstand wenig mit Geld und viel mit Solidarität zu tun hat.

Diese Menschen wissen, dass dies nur gelingt, wenn sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten können und nicht regiert werden. Widerstand heisst also, sich zu organisieren, Misstände aufzuzeigen und dagegen anzukämpfen. Und sei es manchmal nur, um für kurze Zeit das überarbeitetete und konsumvernebelte Dunkel der Strassen mit leuchtenden Diamanten zu erhellen.

pm