Widerstand gegen Polizeiübermacht zwecklos Ausschaffungsdeal zwischen Schweiz und Irak?

Politik

S. H. wurde im Oktober 2019 gewaltsam aus der Schweiz in den Irak ausgeschafft.

Militärhelikopter über Bagdad, 2019.
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Militärhelikopter über Bagdad, 2019. Foto: Fdutil (CC BY-SA 4.0 cropped)

4. Mai 2020
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augenauf kontaktierte ihn kurz nach seiner erzwungenen Rückkehr. Er berichtete von der gewaltsamen Ausschaffung, von ungewöhnlichen Vorgängen bei der Papierbeschaffung und einer filmreifen Übergabe an die Behörden in Bagdad. Die Akten bestätigen die unglaubliche Geschichte und werfen Fragen auf über einen geheimnisvollen Deal zwischen der Schweiz und dem Irak.

Im April 2011 reist S. H., ein irakischer Kurde aus Erbil, in die Schweiz ein und stellt ein Asylgesuch. Er wird darauf dem Kanton St. Gallen zugewiesen. Sein Asylgesuch wird zwei Jahre später als «unglaubwürdig» abgewiesen und er wird aufgefordert, das Land innert Monatsfrist zu verlassen. S. H. verweigert eine freiwillige Ausreise aus den im Asylverfahren genannten Gründen: Bei einer Rückkehr in den Irak hätte er lebensgefährliche Konsequenzen zu befürchten.

Das Leben mit Nothilfe in der Schweiz

Nach Ablauf der Ausreisefrist wird S. H. auf Nothilfe gesetzt und einer Kollektivunterkunft zugewiesen. Zwei Monate später folgt der erste Strafbefehl wegen widerrechtlichen Aufenthalts. Es soll nicht der einzige bleiben – S. H. erhält in der Schweiz noch sieben weitere Strafbefehle wegen illegalen Aufenthalts. Die Strafen dafür muss er in Gefängnissen absitzen. Neben diesen Haftstrafen wird noch viermal Ausschaffungshaft angeordnet.

Ausschaffungsversuche

Das Migrationsamt St. Gallen startet mehrere Versuche, S. H. auszuschaffen. Dafür bittet es das Staatssekretariat für Migration (SEM) bereits 2013 um Vollzugsunterstützung. Da zu diesem Zeitpunkt aber nur freiwillige Ausschaffungen in den Irak möglich sind, scheitert der erste Ausschaffungsversuch des Kantons St. Gallen im Frühling 2014. S. H. sagt gegenüber den Behörden klar, dass er keine Reisepapiere unterschreiben werde, da er nicht bereit sei, sich in Lebensgefahr zu bringen.

Die Schweiz und der Irak haben auch heute noch kein offizielles Rückübernahmeabkommen. Grundsätzlich gilt, dass der Irak nur Personen einreisen lässt, die freiwillig zurückkehren. Eine Ausnahme gibt es: Der Irak nimmt Menschen per Zwangsausschaffung zurück, die in der Schweiz in schwerem Masse (Haftstrafen von mehr als sechs Monaten) straffällig geworden sind. Um eine solche Zwangsausschaffung durchzuführen, braucht es eine Einwilligung der irakischen Behörden und gültige Reisepapiere. Das SEM wird mehrmals bei der irakischen Botschaft vorstellig, um diese für S. H. zu erhalten.

Botschaftsvorladung und Papierbeschaffung

Aus den Mails zwischen den Beamt*innen des Migrationsamt St. Gallen und dem SEM wird klar, dass S. H. die Voraussetzung für ein Laissezpasser in den Irak nicht erfüllt. Es fehlt an einem überzeugenden «Hauptdelikt». Die Strafbefehle betreffen nur Bagatelldelikte wie Fahren ohne Führerschein, Verursachen eines Verkehrsunfalls oder eben rechtswidriger Aufenthalt. Auch die Vorladung auf die irakische Botschaft in Bern zur Identitätsabklärung ändert nichts an der Situation. Das SEM schreibt dem Migrationsamt St. Gallen: «Der Konsul hatte in dem vorliegenden Fall noch einige Zweifel, was die Straffälligkeit angeht.

Aus diesem Grund benötigen wir nun Ihre Unterstützung, damit wir den Konsul restlos überzeugen können, uns ein Reisedokument für Herrn H. auszustellen.» Aber auch eine Aufrechnung der einzelnen Hafttage und die darauf folgende Nachbesprechung mit dem irakischen Konsul führen wie vom SEM befürchtet nicht weiter: «Die Rückmeldung des Konsuls war negativ. (…) Ich kann Ihnen mitteilen, dass Ihre beiden Kandidaten (Anmerkung der Red.: Es stand noch ein weiterer irakischer Staatsangehöriger zur Abklärung.) aus Sicht des irakischen Konsuls die Voraussetzungen nicht erfüllen, dass es sich um schwer straffällige Personen handelt.» Der irakische Konsul in Bern hat für S. H. keine Papiere zur Zwangsausschaffung ausgestellt.

Für S. H. scheint im April 2019 alles wieder so zu sein wie zuvor. Er ist auf Nothilfe angewiesen und die Perspektivlosigkeit nimmt ihren Lauf. Alle seine Bemühungen, einen geregelten Aufenthalt zu erlangen, sind zunichte. Doch es kommt noch schlimmer.

Aus dem Nichts tauchen Papiere und Einverständnisse auf

Am 8. August 2019 erreicht das Migrationsamt St. Gallen folgende Nachricht des SEM: «Entgegen der ursprünglichen Rückmeldung vom Dezember 2018 haben die irakischen Behörden Herrn S. H. nun abschliessend identifiziert und sind bereit, auch für ihn ein irakisches Reisedokument auszustellen.»

Darauf meldet das Migrationsamt St. Gallen S. H. sofort bei der Ausschaffungsorganisation swissREPAT für einen Flug nach Erbil an. S. H. wird am 27. August verhaftet und in Ausschaffungshaft gesteckt. Er ist psychisch schwer angeschlagen und hält die dauernden Verhaftungen nicht mehr aus. Zwei Tage später wird er wegen Selbstgefährdung in psychiatrische Behandlung gebracht, wo er die Ausschaffungshaft bis zu seiner Deportation erstehen soll. Am 18. September wird S. H. von der Kantonspolizei St. Gallen direkt aus der psychiatrischen Klinik abgeholt und nach Zürich an den Flughafen gefahren.

Widerstand gegen Polizeiübermacht zwecklos

S. H.s Widerstand gegen die Verfrachtung in das Flugzeug ist zwecklos. Er sieht sich einer Übermacht von drei Polizisten aus St. Gallen, unterstützt durch das Polizeiteam am Flughafen, gegenüber. S. H. wird in einem speziell für Rückführungen konzipierten Rollstuhl fixiert und ans Gate gebracht, wo nochmals zwei Polizeipatrouillen der Kantonspolizei Zürich zur Unterstützung bereitstehen. Er wird an seinen Platz gebracht, auf dem Sitz platziert und fixiert, durch einen Sichtschutz von den anderen Passagieren abgegrenzt. Diese verhalten sich gemäss Polizeibericht «ruhig, kooperativ und verständnisvoll», dies trotz «erheblicher körperlicher Gegenwehr und dem lautstarken Geschrei» vonseiten S. H.

Widersprechende Darstellungen über den «FolterFlug nach Bagdad»

augenauf liegt auch das LOG der Ausschaffung vor, in dem alle Zwangsmassnahmen während einer Ausschaffung rapportiert werden. Dieses scheint auf den ersten Blick vollständig zu sein und deckt sich mit dem Polizeibericht. S. H. bestätigt viele der darin aufgeführten Massnahmen, erklärt aber auch, dass einiges nicht der Wahrheit entspreche. So habe er während der Ausschaffung mehrmals um Wasser gebeten, was ihm jedoch verweigert wurde. Im Polizeibericht wird die Gewaltanwendung ausserdem sehr sachlich beschrieben, für S. H. war das aber mitnichten so. Er hat Verletzungen am ganzen Körper davongetragen, die er von einem Arzt in Bagdad dokumentieren liess. Entsprechende Bilder veröffentlichte der «SonntagsBlick» in seiner Reportage unter dem Titel «FolterFlug nach Bagdad» vom 19. Oktober 2019. S. H. betont mehrmals, dass ihm diese Verletzungen zwar durch die Polizisten zugefügt worden seien. Diese seien aber vom SEM-Mitarbeiter angewiesen worden.

Was lief genau bei der Einreise?

S. H. erzählt weiter, dass ihn die irakischen Behörden in Bagdad gar nicht einreisen lassen wollten. Er habe sein Laissez-passer nie unterschrieben und auch die Papiere, die die Schweizer Beamten bei sich hatten, waren anscheinend nicht ausreichend. Schliesslich habe der SEM-Mitarbeiter seine Beziehungen spielen lassen, um die Behörden in Bagdad zu «überreden».

So ist im Polizeibericht festgehalten, dass S. H. sich in die Unterhaltung des SEM-Mitarbeiters mit dem Immigrationsbeamten einmischte und die Verletzungen durch die körperliche Misshandlung vorzeigte und erneut bekräftigte, nicht in den Irak einreisen zu wollen.

Geheimnisvolle Unterredung

Nachdem S. H. zusammen mit den Polizeibeamten in den Wartebereich verwiesen wurde, wandte sich der SEM-Mitarbeiter an die irakischen Immigrationsbeamten (Zitat Polizeibericht): «Er erklärte dem ranghöchsten (drei Sterne), dass diese Rückführung von oberster Stelle durch das irakische Innenministerium bewilligt wurde. Ausserdem erwähnte er den anstehenden Besuch von hochrangigen Vertretern des irakischen Innenministeriums sowie des Migrationsministeriums in der darauffolgenden Woche in der Schweiz.

Der irakische Immigrationsbeamte teilte A (SEM-Mitarbeiter) in knappem Englisch mit, dass diese Person nicht in den Irak einreisen könne.

Daraufhin erklärte A ihm, dass unter anderem auch der Chef von Interpol Bagdad, General Z, durch die irakische Botschaft in Bern über diese Rückführung vollumfänglich informiert wurde.

Glücklicherweise hatte A die Mobiltelefonnummer des ersten Botschaftssekretärs der irakischen Botschaft in Bern, welcher die Handy-Nummer des Interpol-Chefs hatte. Unbeeindruckt von der frühen Uhrzeit (5.40 Uhr Ortszeit) rief A den General an. Offensichtlich aus dem Schlaf geweckt, bat er, mit einem anwesenden Immigrationsbeamten verbunden zu werden.

Auf einmal wurden wir sehr freundlich behandelt und es wurde uns Kaffee gebracht. Es dauerte rund weitere 40 Minuten, bis der Interpol-Chef persönlich vor Ort erschien. Nach einem kurzen Austausch mit den Immigrationsbeamten begab er sich zu uns und begrüsste uns sehr freundlich. (…) Daraufhin teilte uns General Z höflich mit, dass wir nun gehen können.»

Allein zurückgelassen in Bagdad

Aus Sicht von S. H. verlief das Eintreffen des Interpol-Generals etwas anders. S. H. erzählt, dass ihm der General gesagt habe, er könne schon mit zurückfliegen. Da er aber gar keinen gültigen Reisepass habe, werde er bei der Zwischenlandung in der Türkei stranden und als Kurde sei das vielleicht nicht so lustig. Und darauf sei ihm von den irakischen Beamten befohlen worden, er solle weggehen, sonst müssten sie ihn verhaften. So strandet S. H. in Bagdad, wo er niemanden kennt, und bleibt sich selber überlassen.

Offene Fragen bleiben

Die Geschichte von S. H. wirft viele Fragen auf. Leider können wir momentan nur wenige beantworten und versuchen mithilfe von Parlamentarier*innen an mehr Informationen zu kommen. Durch direktes Nachfragen beim SEM-Beamten, der den Flug in den Irak begleitet hat, kommt Folgendes heraus: Der Irak nimmt per Zwangsausschaffungen ausschliesslich Personen auf, die straffällig geworden sind.

Der erforderliche Grad der Straffälligkeit dabei sei nicht eindeutig, die Antwort scheint unterschiedlich, je nachdem ob Botschaftsmitarbeitende oder die Generäle des irakischen Innenministeriums gefragt werden. Manchmal werden auch bei Bagatelldelikten Reisepapiere ausgestellt, andere Male nicht. Dass der Irak überhaupt straffällige Menschen zurücknehme, sei der grösstmögliche Kompromiss. Der Irak komme dem internationalen Druck damit entgegen. Mehr gehe nicht, da die Führung innenpolitisch unter Druck geriete, wenn zu viele Menschen in den Irak zurückgeschafft würden.

Auf die Frage, weshalb S. H. nicht nach Erbil, sondern nach Bagdad ausgeschafft wurde, meint der SEM-Mitarbeiter, dass aufgrund einer Weisung des EDA keine Abkommen mit der Führung im unabhängig erklärten Kurdengebiet im Irak zu treffen seien. Täglich verkehre aber ein Linienflug für «nur» ungefähr 100 Dollar zwischen Bagdad und Erdil.

augenauf weiss noch nicht, wie genau diese Zwangsrückschaffung trotz den von S. H. nicht unterschriebenen Papieren stattfinden konnte. Wir bleiben aber dran.

augenauf steht auch heute in Kontakt mit S. H. Ihm geht es nicht gut, er versucht langsam Richtung Erbil zu kommen. Sein Wunsch ist, wieder in der Schweiz zu leben – aber legal: ein Leben mit Zukunft.

augenauf