Realpolitik und Fundamentalismus Kopflos in Riad

Politik

Anlässlich der Charlie-Hebdo-Attacken: Wer was gegen den Dschihadismus tun will, kann damit anfangen, die Wahabiten-Diktatur in Saudi-Arabien zu bekämpfen.

US-Aussenminister John Kerry bei einem Besuch in Riad mit Saudi-Arabiens König Abdullah ibn Abd al-Aziz am 4. November 2013.
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US-Aussenminister John Kerry bei einem Besuch in Riad mit Saudi-Arabiens König Abdullah ibn Abd al-Aziz am 4. November 2013. Foto: DS (PD)

13. Januar 2015
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Es gibt sehr viele Dinge, die man nach den Anschlägen in Paris sagen könnte: Wir könnten uns über den Dschihadismus unterhalten und wie ihm beizukommen ist. Wir könnten uns über die Heuchler in Politik und Redaktionsstuben auslassen, die jetzt alle Charlie sein wollen, aber doch nur Arschlöcher sind. Wir könnten über die Leichenschänder von Front National bis Pegida reden und über deren ekelhafte Instrumentalisierung der Toten. Wir könnten uns ansehen, welche Debatten jetzt kommen, von Vorratsdatenspeicherung über strengere Asylgesetze bis zu Ausbau von Geheimdienstbefugnissen. All das wäre wichtig und richtig, aber wir haben uns für etwas anderes entschieden, weil das meiste schon gesagt wurde.

Wir haben uns dafür entschieden, euch auf ein Land hinzuweisen, dass in den Debatten um Islamismus und Dschihadismus nicht die zentrale Rolle einnimmt, die es einnehmen sollte. Ein Land, zu dem unsere „westliche Wertegemeinschaft“ freundschaftliche Beziehungen pflegt, mit dem wir handeln, das wir mit Waffen beliefern. Ein Land, das Menschen, die von der Staatsideologie abweichen, köpft, auspeitscht, wegsperrt. Dieses Land heisst Saudi-Arabien.

Kopf ab

„Saudi-Arabien verurteilt diese feigen Attacken, die der Islam wie andere Religionen zurückweist“, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Saudi-Arabiens kurz nach den Terrorattacken auf Redaktionsräumlichkeiten des Satiremagazins Charlie Hebdo. Doch zur selben Zeit, als der saudische Botschafter in Frankreich zusammen mit anderen Exponenten der diverser Herrschaftscliquen in Paris an der Grossdemonstration nach der Bluttat islamistischer Dschihadisten vergangene Woche teilnahm, ereignete sich in Dschidda, Saudi-Arabien, etwas anderes: Der Blogger Raif Badawi wird an Händen und Füssen gefesselt auf dem Platz vor einer örtlichen Moschee vorgeführt. Er erhält vor Zuschauern die ersten 50 von 1.000 Peitschenhieben, die zusammen mit 7 Jahren Haft seine Strafe ausmachen. Sein Vergehen: Er hat die religiösen Autoritäten des Islam in Frage gestellt.

In Saudi-Arabien sind Strafen wie diese keine Seltenheit. Auf „Delikte“ wie Blasphemie, Ehebruch, Homosexualität, „Aufruf zu atheistischen Gedanken“ oder Hexerei (ja, wirklich) stehen drakonische Strafen bis hin zur Todesstrafe, die ganz traditionell durch Enthauptung vollstreckt wird, dutzende Male jährlich. 19 Menschen waren es alleine im August 2014, die auf öffentlichen Plätzen mit einem Krummschwert enthauptet wurden. Unter den 19 waren 8 Menschen, die aufgrund irgendwelcher „gewaltloser Delikte“ angeklagt waren, 7 vermeintliche Drogenschmuggler, ein „Zauberer“ und eine psychisch kranke Person.

Allle Ungläubige ausser wir

Ideologische Grundlage dieses „Strafrechts“, wenn man das so nennen will, ist der Wahabismus, die Staatsreligion Saudi-Arabiens, die im wesentlichen eine extrem traditionalistische, vernunftfeindliche Auslegung des Islam darstellt. Die auf den im 18. Jahrhundert wirkenden Kleriker Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhāb zurückgehende Lehre zeichnet sich durch einen extremen Purismus in der Koran-Auslegung aus, sowie durch eine strenge Auslegung des Tauhid, des Bekenntnisses zur Einheit Gottes.

Die starke Betonung des Tauhid in dieser Form des Salafismus hat unmittelbar politische Konsequenzen, die sich darin ausdrücken, dass alle abweichenden Muslime zu Ungläubigen oder Heuchlern erklärt werden, weil sie angeblich „Shirk“, Vielgötterei, begehen. Dieselbe verengte Islaminterpretation ist es, die diverse Dschihadisten von Al Qaida bis Islamischer Staat (IS) antreibt, abweichende Muslime zu ermorden.

Saudi-Arabien ist seit langem damit beschäftigt, diese reaktionäre und grundsätzlich zum Terrorismus gegen Andersgläubige tendierende Variante des Islam zu exportieren. 1962 gründete der spätere König Saudi-Arabiens, Faisal ibn Abd al-Aziz, die Muslim World League (MWL), deren Ziel die Verbreitung dieser Koran-Auslegung gegen schiitische, sufische oder andere „abweichende“ Strömungen war. Bis heute setzt Saudi-Arabien seine enormen finanziellen Mittel ein, um im Nahen und Mittleren Osten seine Kleriker zu positionieren und andere Islaminterpretationen zu verdrängen.

Die saudischen Kleriker verrichten ihr Werk im Normalfall im Stillen, verbreiten ihre reaktionäre Ideologie unter der Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung. Nur in besonders absurden Fällen, wenn sie etwa Fatwas zur Verteidigung des „Rechts Kinder zu heiraten“ herausgeben, oder wie vor zwei Tagen, wenn sie den Bau von Schneemännern zu „Vielgötterei“ erklären, schaffen sie es in die Schlagzeilen überregionaler Medien.

Realpolitik und Fundamentalismus

Die Unterstützung, die salafistische Mörderbanden in der Region aus Saudi-Arabien erfahren, ist nicht allein ideologischer Natur. Es gab militärische, logistische und politische Unterstützung. Verbunden war diese lange Zeit mit dem Hardliner Bandar bin Sultan. Der extrem antischiitische Politiker und Geheimdienstler war lange Zeit saudischer Botschafter in den Vereinigten Staaten und fiel nicht erst in Syrien durch Unterstützung terroristischer Gruppen auf.

Saudi-Arabien finanzierte und rüstete lange Zeit in Syrien diverse Fraktionen, die dort gegen Baschar al-Assad kämpften aus. Mit Wissen und Unterstützung aus dem Westen. „Danken wir Gott für die Saudis und Prinz Bandar“, sagte der US-Präsidentschaftskandidat der Republikaner, John Mccain, auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014.

Nun allerdings ist das Verhältnis zwischen ISIS und Co. und Saudi-Arabien kein lineares. Saudi-Arabien ist ein kapitalistischer Staat, in dessen Herrschaftsclique es Fraktionen mit unterschiedlichen Interessen gibt. Die Rolle der Staatsideologie ist der Realpolitik untergeordnet und dient vor allem der Stabilisierung der Herrschaft. In dem Moment, wo der exportierte salafistische Dschihadismus selbst wieder zur Gefahr für die herrschende Klasse Saudi-Arabiens wurde, wandte man sich vom Islamischen Staat ab, trat der US-geführten Anti-IS-Koalition bei und begann nun auch juristisch wie politisch-religiös eine Offensive gegen die Dschihadisten.

„Freundschaftlich und spannungsfrei“

Das allerdings ändert weder etwas daran, dass Saudi-Arabien weiterhin seinen Wahabismus exportiert, noch daran, dass es sich um eine auf Ausbeutung und extremer Diskriminierung sowie Repression errichtete kalifatähnliche Diktatur handelt.

Zu dieser hat die „westliche Wertegemeinschaft“ traditionell hervorragende Beziehungen, geschichtlich wie aktuell. „Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Saudi-Arabien sind freundschaftlich und spannungsfrei“, schreibt das Auswärtige Amt. US-Präsident Barack Obama betont immer wieder die Wichtigkeit der „starken Beziehungen“ zwischen den Vereinigten Staaten und der Terrormonarchie, die sich auf so ziemlich alle Bereiche bilateraler Kooperation erstrecken: Militärisch, diplomatisch, wirtschaftlich.

Ihre Wurzeln haben die seit Gründung der Wahabiten-Monarchie andauernden Beziehungen in den geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens: Strategische Ressourcen, eine weltpolitisch wichtige Lage und lange Zeit der gemeinsame Feind Kommunismus waren entscheidend für die Herausbildung der engen Bande zwischen „freiem Westen“ und der Kopfabschneiderdiktatur. Der ehemalige CIA-Direktor Jim Woolsey fasst zusammen: Die Beziehungen waren immer „einigermassen nah und entspannt“, weil man „im Kalten Krieg auf der selben Seite war“. „Die Saudis schätzten unsere Unterstützung und wir ihre gegen den Einfluss der Sowjets im Mittleren Osten.“

Kommen wir zurück zum Ausgangspunkt: Wenn nun, nach den Angriffen von Paris, unsere Politelite Überlegungen anstellt, wie dem Dschihadismus beizukommen ist, finden allerlei reaktionäre Überlegungen statt: Mehr Überwachung, weniger Einwanderung, mehr militärische und polizeiliche Aktionen. Dass es sich dabei um die blanke Instrumentalisierung der Toten handelt, zeigt nicht allein die Unsinnigkeit dieser Vorschläge, sondern vor allem auch die blinden Flecken, die dabei offenkundig sind. Einer dieser blinden Flecken ist Saudi-Arabien. Und solange es diesen gibt, können wir getrost sagen: Steckt euch eure geheuchelte Trauer sonstwohin. Wer zu den Henkern in Riad „freundschaftliche“ Beziehungen pflegt, sollte auch über die Henker von Paris schweigen.

Peter Schaber / lcm