Die Macht der Wirtschaft Österreich: Lockdown Light und Betten-Verwirrspiel

Politik

Obwohl ich kein Freund der Regierung Kurz bin, gebe ich offen zu, dass das Krisenmanagement unserer Bundesregierung während der ersten Corona-Welle überaus erfolgreich war, weshalb in Österreich wesentlich weniger Tote zu beklagen waren als in den meisten anderen europäischen Ländern.

Wiener Innenstadt während des ersten Lockdowns, März 2020.
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Wiener Innenstadt während des ersten Lockdowns, März 2020. Foto: Linie29 (CC BY-SA 4.0 cropped)

11. November 2020
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Mittlerweile ist freilich von ihrer damaligen Souveränität im Umgang mit Corona nichts mehr übrig geblieben. Der von der Regierung verordnete ‚Lockdown light' wird vermutlich dazu ausreichen, die 7-Tage-Inzidenz zu stabilisieren und im günstigsten Fall zu einer Reduktion der täglichen Neuerkrankungen auf 1.500 bis 2.000 führen, aber mit Sicherheit nicht binnen vier Wochen die Rückkehr zur Normalität ermöglichen, nicht einmal zu einer eingeschränkten Normalität.

Laut AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) stehen in Österreich maximal 1075 Intensivbetten für Coronapatienten zur Verfügung, von denen derzeit 495 belegt sind.

Einer von hundert Coronakranken benötigt intensivmedizinische Betreuung, und zwar im Durchschnitt zehn Tage lang. Bei 6.000 Neuerkrankungen pro Tag wären folglich nach zehn Tagen 600 Betten belegt. Und das geht sich (noch) problemlos aus.

Nun ist es aber so, dass die Zahl der täglichen Erkrankungen innerhalb von zehn Tagen von 2.000 auf 5.500 gestiegen ist, und bei einer weiteren Verdoppelung wären die Kapazitäten unseres Gesundheitssystems bereits überschritten.

Folglich war es sogar allerhöchste Zeit für einen neuerlichen Lockdown - immer vorausgesetzt natürlich, dass die von der AGES verwendeten Zahlen auch wirklich den Tatsachen entsprechen.

Im Zusammenhang damit ergeben sich für mich nämlich einige Fragen, auf die mich doch einigermassen nachdenklich gemacht haben:
  • In seiner Erklärung zum Lockdown hat Kanzler Kurz behauptet, die Regierung hätte schon im Frühjahr mit einer zweiten Welle im Herbst gerechnet. Und wenn das stimmt, verstehe ich nicht, warum man die sechs Monate zwischen erster und zweiter Welle nicht dazu genutzt hat, mindestens 500 weitere Personen für die Basispflege auszubilden und weitere 500, bereits in der Krankenpflege tätigen Personen auf ihren Einsatz in der Intensivmedizin vorzubereiten. Dann könnte man nämlich nicht nur 944, sondern 1.444 Coronapatienten intensivmedizinisch betreuen. Zu einer Überlastung des Gesundheitssystems käme es dann erst bei 15.000 Neuerkrankungen pro Tag - und das entspricht exakt den Neuerkrankungen am Höhepunkt der Grippewelle von 2017/2018.
  • In der Kalenderwoche 7/2018, am Höhepunkt der damaligen Grippewelle, betrug die 7-Tage-Inzidenz 1.730 Erkrankte (von 100.000), also mehr als das Fünffache der derzeitigen Corona-Inzidenz (336). Das bedeutet, dass in dieser Woche mehr als 100.000 Österreicherinnen und Österreicher an Influenza erkrankten. In jenem Jahr mussten 17 % der Grippepatienten im Krankenhaus behandelt werden, aber nehmen wir der Einfachheit halber an, dass es in KW 7 nur 10 % waren. Das bedeutet 10.000 Influenzapatienten im Krankenhaus, von denen ein Drittel intensivmedizinische Betreuung benötigte, also mehr als 3.000, und das bei einer maximalen Kapazität von 944. Wie war das damals möglich? Durch wundersame Bettenvermehrung?
  • Laut einer von der OECD im März 2020 durchgeführten Studie verfügt Österreich über 29 Intensivbetten/100.000 Einwohner. Hochgerechnet ergibt das 2.320 Intensivbetten. Konkret sind es sogar noch mehr, nämlich 2.547. Selbstverständlich werden auch genügend Betten für andere Intensivpatienten benötigt, aber zwischen 944 und 2.547 besteht doch ein ganz erheblicher Unterschied.
  • Abgesehen von einem möglichen Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems wurde der neuerliche Lockdown von unserer Regierung damit begründet, durch diese Massnahme den Gastronomen das Weihnachtsgeschäft zu retten bzw. den Hoteliers die Wintersaison. Allerdings handelt es sich diesmal um einen Lockdown Light, der sich damit begnügt, die Lebensqualität und Freiheitsrechte der Bevölkerung drastisch einzuschränken, während Handel, Gewerbe und Industrie uneingeschränkt weitermachen dürfen wie bisher, als würde die Verbreitung des Corona-Virus sich auf den privaten Bereich beschränken.
Der Sinn dieser Strategie ist mir ein Rätsel, denn ich verstehe beim besten Willen nicht, was man sich davon verspricht, Museen zuzusperren, während andererseits - um nur ein Beispiel zu nennen - Schlachthöfe geöffnet bleiben, obwohl allein im Innviertel mehr als 100(!) Coronafälle auf zwei Schlachthöfe zurückzuführen waren.

Der nunmehrige Lockdown Light ist somit unzweifelhaft der Macht der Wirtschaft geschuldet, die ihrem braven Erfüllungsgehilfen Sebastian Kurz die Daumenschrauben angelegt hat, um keine weiteren wirtschaftlichen Einbussen mehr hinnehmen zu müssen. Aus unternehmerischer Hinsicht ist das auch durchaus verständlich, denn wer Macht hat, wird sie auch benutzen. Und wer keine hat, muss sich eben zähneknirschend fügen.

Der von der Regierung verordnete ‚Lockdown light' fordert der österreichischen Bevölkerung grosse Opfer ab, ohne dass sich dadurch an der Corona-Situation etwas Grundlegendes verändert.

Die Gasthäuser werden auch im Dezember geschlossen bleiben, die Wintersaison wird heuer ausfallen und das Thema Corona wird auch im neuen Jahr noch unser ständiger Begleiter sein.

Und irgendwann wird uns allen - also auch der Regierung - nichts anderes mehr übrig bleiben, als die jährliche oder halbjährliche Coronawelle, so wie die Influenza, als unvermeidbares Übel zu akzeptieren, denn kein demokratiegewohntes Volk lässt es sich gefallen, von der eigenen Regierung monatelang weggesperrt zu werden.

Nicht einmal das unsere.

Dietmar Füssel