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Ein bürokratischer Alptraum, der Existenzen zerstört US-Gefängnisse: Wenn der Algorithmus Nein sagt …

Politik

Vor einem Jahr änderten die US-Einwanderungsbehörden Software zur Risikobewertung. Nun sitzen Tausende wegen Lappalien in Haft.

US-Gefängnis an der Grenze zu Mexiko in McAllen, Texas, Juni 2018.
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US-Gefängnis an der Grenze zu Mexiko in McAllen, Texas, Juni 2018. Foto: US Government (PD)

11. Januar 2019
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Die Mitarbeiter der US-Einwanderungsbehörde stützen sich bei der Entscheidung, ob Untersuchungshäftlinge bis zum Gerichtstermin gegen Kaution auf freiem Fuss bleiben dürfen, seit 2013 auf die Empfehlung einer Software namens RCA (Risk Classification Assessment). Ein Algorithmus ermittelt anhand von Statistiken, ob ein Sans-Papier auf Kaution freikommt und wie hoch die Kaution sein muss.

Bei dieser Entscheidung spielt es keine Rolle, was das «Vergehen» ist, ob jemand seit Jahrzehnten in den USA lebt oder gerade an der Grenze angekommen ist. Im letzten Jahr änderte die Behörde den Algorithmus und entfernte die Option «freilassen». Das hat ein Sprecher der Behörde gegenüber «Reuters» bestätigt. Die Anzahl der Inhaftierten hat sich seither auf 43‘000 verdreifacht. Tausende sitzen in Haft, bis ein Gericht entscheidet, ob sie überhaupt ein Gesetz übertreten haben. Grösstenteils ohne Vorstrafen und wegen Lappalien.

Ein bürokratischer Alptraum, der Existenzen zerstört

In den ersten 100 Tagen der Trump-Administration sei die Hälfte der Immigranten wegen eines Verkehrsdelikts festgenommen worden, rechnet «Reuters» vor – und dabei sei nicht einmal Trunkenheit am Steuer berücksichtigt.

Die Software stützt sich auf bis zu 178 Fragen, die der betreffenden Person gestellt werden, erklärt «Vice». Darunter sind Fragen zu Familie, Integration, Krankheiten. Die Empfehlung muss mindestens zweimal überprüft werden. Ein Angestellter der Einwanderungsbehörde ICE muss sie nicht annehmen, in der Praxis ist das jedoch meist der Fall. Bereits 2015, als es die «Freilassen»-Option noch gab, wurde die Software in einer Untersuchung des Heimatministeriums als ineffizient bezeichnet. Inzwischen ist sie zu einem bürokratischen Albtraum geworden, der Existenzen zerstört.

Alternativen werden nicht mehr berücksichtigt

Die Entscheidung über Freilassung auf Kaution «ist nicht wie in einem Strafverfahren, wo innerhalb von 48 Stunden entschieden wird, ob jemand ins Gefängnis muss oder nicht», sagt Katherine Evans, die die Einwanderungsklinik am College of Law der Universität Idaho leitet. «Das ist vier bis sechs Wochen später». Bevor sich also überhaupt herausstellt, ob jemand im Gefängnis sein sollte, hat er bereits seinen Arbeitsplatz und sehr wahrscheinlich auch seine Wohnung verloren. Dabei gäbe es Alternativen. Elektronische Fussfesseln etwa oder die als sehr erfolgreich getestete Kontrolle durch Sozialarbeiter.

Es kann auch deutlich länger dauern. Wie im Fall von Morena Vasquez, den «Reuters» dokumentiert hat. Die alleinerziehende Mutter von sechs Kindern lebt seit 23 Jahren in den USA und wartete ein Jahr lang auf ihre Freilassung. Im Februar 2017 war sie losgefahren, um einer Arbeitskollegin einen Schlüssel zu bringen. Als illegale Immigrantin aus El Salvador hatte sie nie die Möglichkeit gehabt, eine legale Fahrprüfung zu machen.

Eine Polizeikontrolle stellte fest, dass Morena Vasquez keinen Führerschein besass und alarmierte die Immigrationsbehörden. Vasquez, deren Mann fünf Jahre zuvor ausgewiesen worden war und infolge eines Autounfalls eine Behinderung hat, stellte mehrere Anträge auf Freilassung auf Kaution – erfolglos. Sie verlor ihre beiden Arbeitsplätze und ihre Wohnung. Ihre sechs Kinder, allesamt US-Bürger, kamen beim Grossvater unter, der gesundheitlich stark eingeschränkt ist. Das Gericht stellte dennoch eine hohe Fluchtwahrscheinlichkeit fest.

Antragsflut und Kostenfalle

Statt die US-Gesellschaft vor gefährlichen Individuen zu schützen, wie es die Trump-Administration angekündigt hatte, steigen die Kosten für «Detention Centers» infolge der Software-Umstellung steil an. Ein Inhaftierter ohne Vorstrafen bleibt für durchschnittlich 63 Tage in Haft (Reuters) und kostet laut «Vice» pro Tag im Schnitt 133 US-Dollar. Er kann eine Anhörung zur Freilassung auf Kaution beantragen, was für US-Gerichte hohen bürokratischen Aufwand bedeutet.

Im Mai 2018 warteten 711'142 Anträge bei den Immigrationsgerichten auf Bearbeitung, mehr als jemals zuvor. Falls die Freilassung auf Kaution möglich ist, ist diese oft so hoch, dass ein inzwischen meist mittellos gewordener Gefängnis-Insasse oder seine Familie sie gar nicht mehr aufbringen können. Der Betroffene stellt also noch einen Antrag, in der Hoffnung auf eine geringere Kaution.

Im September 2017 stellte ein Richter fest, dass Morena Vasquez berechtigt sei, «legal in den USA zu leben und zu arbeiten». Vasquez blieb dennoch in Haft. Die Immigrationsbehörde beurteilte eine Entlassung auf Kaution noch immer als nicht notwendig. Bis zur endgültigen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis könne Vasquez noch immer untertauchen, befand sie. Am 20. Februar 2018 wurde der letzte Antrag verhandelt, diesmal mit Hilfe eines Pro-Bono-Anwalts, den die Schule ihrer ältesten Tochter ausfindig gemacht hatte. Seither ist Vasquez frei, wohnt bei Bekannten, lebt von Gelegenheitsjobs auf dem Bau und sucht nach einer Möglichkeit, ihre Kinder zu sich zu holen.

Daniela Gschweng / Infosperber

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