Gefangen zwischen Bürokratie und Kapital Venezuela: Gegen den Putsch, aber nicht für Maduro

Politik

Was geht da eigentlich in Venezuela? Es ist natürlich schwierig durch die politische Gemengelage einer Region auf der anderen Seite der Welt zu blicken.

Nicolas Maduro in Caracas, Januar 2019.
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Nicolas Maduro in Caracas, Januar 2019. Foto: Presidencia El Salvador (PD)

11. Februar 2019
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Vor allem für diejenigen, die Nachrichten nicht auf Spanisch verfolgen können. Was nicht so schwierig ist, sind einige Fakten zusammen zu suchen und sich die taktischen und strategischen Ausrichtungen bestimmter Bewegungen, und dessen Umsetzung anzuschauen.

Ja, Venezuela erlebt aktuell einen schleichenden Coup. Und offensichtlich haben die USA sowie ihre Handlager wirtschaftliche sowie geopolitische Interessen in dem südamerikanischem Land. Selbstverständlich stellen wir uns als Linke gegen die imperialistische Aggression und auf die Seite der Arbeiter*innenklasse Venezuelas. Dies steht ausser Frage.

Aber verteidigen wir deswegen die venezolanische Regierung unter Führung der PSUV (»Partido Socialista Unido de Venezuela«, Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas)? Verteidigen wir den durch parlamentarisch-demokratische Wahlen gewählten Präsidenten Nicolás Maduro? Und wie halten wir es generell mit dem chavismo?

Bereits 2011 fasste der Soziologe Heinz Dietrich, Autor von »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts« (1996) und zeitweise informeller Berater Hugo Chávez, in seinem Aufsatz »In Venezuela gibt es und wird es keinen Sozialismus geben« zusammen, was zentral für die Diskussion um Venezuela und die Frage des Sozialismus ist. Dietrich wirft Chávez und seinem Apparat vor, maximal sozialdemokratische Reformen angestrebt zu haben. Den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ habe er lediglich als diskursive Taktik benutzt, um Teile der Bourgeoisie zu erschrecken und um die Massen sowie die chavista–Bürokratie zu aktivieren. Es wäre ihm und seiner Partei nicht um mehr als eine nachgeholte bürgerliche Entwicklung nach keynesianischem Modell gegangen.

Dies bestätigt Manuel Sutherland in seiner Analyse vom 5. August 2018: Wir können „beobachten, dass die bolivarische Wirtschaftspolitik nicht im geringsten zu tun hat mit einem revolutionären antikapitalistischen Wandel, oder einer Wandlung der sozialen Beziehungen in der Produktion“.

Weiter wirft Dietrich, Chávez vor, keinen Plan hin zu einer sozialistischen Wirtschaft vorgelegt zu haben. Daher seien seine Wiederwahlen zum politischen Hauptziel mutiert; vergessen wurde der Übergang zu einer möglichen postkapitalistischen Gesellschaft. Dietrich verteidigt die Sozialreformen, die unter Chávez Regierung implementiert wurden, sowie seine Politik der lateinamerikanischen Integration und des – zumindest rhetorischen – Antiimperialismus (die USA haben Venezuela auch unter Chávez weiterhin 70% des Öls abgekauft). Dietrich schliesst mit dem Ausblick ab, dass ein wahrer »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« nur durch die eigenständige Mobilisierung der venezolanischen Bevölkerung eine Chance der Realisierung hätte.

Gefangen zwischen Bürokratie und Kapital

Wie Marea Socialista, eine marxistische Gruppierung welche einst Teil der PSUV war, am 24. Januar 2019 treffend in einem Artikel, beschreibt ist die einfache venezolanische Bevölkerung seit Monaten müde des Hungers und der Angriffe auf ihre Arbeiter*innenrechte. Die fehlende gesundheitliche Versorgung, der Zusammenbruch der öffentliche Dienstleistungen, der Korruption in der Partei und in den staatlichen Behörden sowie der täglichen Repression. Natürlich ist hierfür nicht nur der Staatsapparat verantwortlich – die Sanktionen und die generelle Isolation Venezuelas in den letzten Monaten sind Produkt imperialistischer Einschüchterungspolitik. Marea Socialista beschreibt wie viele Venezolaner*innen dem Aufruf Guaidó gefolgt sind, gegen die Regierung zu protestieren – und zwar nicht nur Bessergestellte. Nicht, weil sie ihn so super finden, sondern weil sie einfach nicht mehr können. Die explosionsartige Migration in Nachbarländer zeichnet ein ähnliches Bild ab.

Natürlich steht aber auch ein guter Teil der Bevölkerung hinter Maduro. Allen voran die Beamt*innen. Der Staat, den Maduro und seine Partei nach wie vor regieren, zahlt ja auch ihre Gehaltschecks. Wie unabhängig sollen all diese Leute sein, die z.B. ihre Wohnungen, welche sie über Chávez' misión vivienda erhielten, verlieren könnten, sollten sie als Kritiker*innen der Regierung in Erscheinung treten?

„Das Ergebnis ist, dass die Polarisierung wiederhergestellt wird, zwischen den Politikern einer korrupten Regierung, die die Macht kontrolliert, und den Parteiparlamentariern der grossen Geschäftsleute, die die Arbeiter ausbeuten“ so Marea Socialista. Bezogen auf die Arbeiter*innenbewegung und die Gewerkschaften zeichnen sie ein düsteres Bild: „Unsere Gewerkschaften und Volksorganisationen sind weitgehend zerstört, korrumpiert oder dem Staatsapparat untergeordnet, und ein anderer Teil hat seine politische Unabhängigkeit zugunsten der Führer der reichen Klasse, die uns ausbeutet, abgegeben“.

Die Reconquista

Der peruanische Soziologe Alberto Adrianzén schreibt in seiner Kolumne in der peruanischen Tageszeitung La República am 7. Februar 2019: „Meine Hypothese ist, dass wir von einem Moment der relativen Autonomie in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, der während des so genannten ‚progressiven Zyklus' stattfand, zu einem anderen von völliger Unterordnung übergehen“. Schlussendlich gehe es nicht nur ums Öl, denn konservative Regierungen, die einem vom Imperium geschriebenen Skript folgen müssten, würden eingesetzt; „das würde bedeuten, undisziplinierte Demokratien wie Lula's, Chavez's oder Evo's oder Vorschläge wie die Gleichstellung der Geschlechter zu beenden“.

Der Angriff auf Venezuela ist also kein rein venezolanisches Thema. Er betrifft ganz Lateinamerika. Nach Adrianzén war der Coup in Brasilien der erste Schlag, gefolgt von Venezuela. Hiernach könnte es nicht unwahrscheinlich Bolivien treffen. Und dann natürlich: Kuba.

Es gibt viele Marxist*innen die feststellen, dass es in Venezuela nie Sozialismus gegeben hat. Es gab z.B. keine Agrarreform – warum nicht? Warum wurde auf der Basis des Ölverkaufs keine stabile Industrialisierung vorangetrieben? Wenn es keine unabhängige, dezentralisierte Arbeiter*innenbewegung gibt, wie können die Bedürfnisse und Forderungen unserer Klasse artikuliert werden?

Manuel Sutherland beschreibt den Bolivarischen Prozess als „eine Variante der Wirtschaftspolitiken, die sich herleiten aus dem sogenannten Erdölrentismus und die es bereits während der ersten Amtszeit des Venezolanischen Präsidenten Calos Andrés Pérez (1974-1979) gab. Die ideologischen Teile und einige Diskurse in antiimperialistischer und antiunternehmerischer Manier verwirren die meisten Analysten, die nur die Reden der Präsidenten studieren, anstatt ihre konkrete Politik“. Er schliesst ab mit der Beobachtung, dass der Kern von Chávez Wirtschaftspolitik nichts Neues war. „Sie basierte weiterhin auf der parasitären Aneignung der Erdölrente und ihrer Vergeudung“.

Heisst dies nun nicht mehr den täglichen Widerstand der Jugend, der Frauen, der Arbeiter*innen und Bäuer*innen in Venezuela zu beleuchten und nach Kräften zu unterstützen? Heisst dies nun nicht auf Demos in Solidarität mit Venezuela zu gehen? Natürlich nicht! Aber nicht mit der Nationalflagge der venezolanischen Bourgeoisie. Man kann die radikalen Reformen des Prozesses, der Bolivarische Revolution genannt wird, verteidigen und gleichzeitig auf die herrschende politische Clique samt wirtschaftlichen Freund*innen zeigen, welche durch ein verqueres Verständnis von ‚Sozialismus in einem Land' de facto Teile einer Sozialdemokratie in einem Land' realisierte, ohne für die Arbeiter*innenklasse als Klasse eigenständigen Organisierung und Autonomie zu gewährleisten.

Eleonora Roldán Mendívil / lcm