Am Grenzzaun von Tijuana Mexiko: An der Grenze zwischen Elend und Hoffnung

Politik

Für Migranten, die in Tijuana festsitzen, wird es immer schwieriger, in die USA zu gelangen, die Not immer grösser. Eine Reportage.

Grenze zwischen Mexiko und den USA südlich von San Diego.
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Grenze zwischen Mexiko und den USA südlich von San Diego. Foto: Tony Webster (CC BY 2.0 cropped)

2. September 2019
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Der Fahrer der Stretchlimousine, rotblau-gestreifte Krawatte auf weissem Hemd, wartet auf seine Gäste. Sie kommen von der anderen Seite der Grenze und werden in einem der Lokale absteigen, für welche die Limousine wirbt: Las Chavelas, Hotel Cascadas oder Hongkong Gentlemans Club. Orte mit teurem Champagner und halbnackten Frauen. Unmittelbar hinter dem langen Fahrzeug stossen sich ein paar PendlerInnen durch die Metalldrehtür. Eben noch waren sie in den USA, jetzt stehen sie in Tijuana, Mexiko. Es ist Feierabend und die Grenzgänger kommen nach Hause. Viele von ihnen sind MexikanerInnen, aber auch US-AmerikanerInnen haben sich hier eingerichtet. Sie können sich die Wohnungsmieten in den USA nicht mehr leisten.

Auf der Strasse Richtung San Diego, stauen sich wie immer die Autos. Tijuana gilt als eine der meist frequentierten Grenzübergänge weltweit. Stundenlang stehen die Leute an, bis die US-Behörden Papiere kontrolliert, Gesichter gefilmt und Wagen durchsucht haben – oft mit Hunden.

Während die einen in die USA hineinwollen, werden die anderen rausgeworfen. Fast täglich parkt vor den Toren Tijuanas ein Bus mit Auszuschaffenden. An der Grenze werden den Männern Handschellen und Fussfesseln abgenommen, dann gehen sie durch die Drehtüre in die neue, alte Freiheit: Bye bye United States of America, Bienvenido México! Abgeschobene müssen zehn Jahre warten, ehe sie wieder auf legalem Weg in die USA einreisen können. Aber weil sich viele von ihnen längst in Nordamerika eingerichtet haben, machen sie es wie die verzweifelten Flüchtlinge aus Mittelamerika oder Afrika: Sie gehen über die Grüne Grenze.

Kapitel 1 – Die Liste an der Linie

Es ist kurz nach sieben Uhr morgens, noch ist es ruhig an La Linea, dem Grenzzaun in Tijuana. Die ersten MigrantInnen haben sich unter der Autobahnbrücke aufs Trottoir gesetzt, sie schweigen und beobachten. Auf dem Areal der mexikanischen Grenzschutzbehörde direkt gegenüber richten sich ein paar Frauen und Männer unter einem Sonnenschirm ein – angeblich selber MigrantInnen –, und legen eine Liste auf den Tisch: ein dickes Buch mit Namen und Nummern, teilweise nur mit Bleistift hingekritzelt. Unter der Autobahnbrücke macht das Gerücht die Runde, dass heute endlich wieder ein paar von ihnen durchgelassen werden.

Das war die vergangenen Tage nämlich nicht der Fall. «An fünf von zehn Tagen», erzählt uns Greg* aus den USA, der täglich vorbeikommt, um kostenlos Haferbrei zu verteilen, «wurde keine einzige Person durchgelassen. Deshalb werden die Leute auch langsam nervös.»

Schmieren unter dem Sonnenschirm

Seit etwa zwei Jahren besteht das Listen-System in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana. Alle neu Ankommenden erhalten eine vierstellige Zahl, werden notiert und müssen dann warten bis ihre Nummer aufgerufen wird. Ziel der Übung: eine Art Puffer-Zone zwischen MigrantInnen und eigentlicher Grenze zu schaffen – gemäss Hilfsorganisationen gibt es dafür keine rechtliche Grundlage.

Am Anfang dauerte der Prozess ein paar Tage, dann ein paar Wochen, doch inzwischen warten die MigrantInnen monatelang, bis sie bei der Migrationsbehörde der USA vorsprechen können. Bis vor kurzem, erzählt uns ein Venezolaner, der seit Ende Mai in Tijuana festsitzt, sei die Liste öffentlich zugänglich gewesen. Jeder habe sehen können, wann ungefähr er aufgerufen wird. «Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Es herrscht Willkür und die Leute, die die Liste verwalten, werden geschmiert.»

Diese Beobachtung bestätigen Augenzeugen. Eine freiwillige Helferin aus San Diego erzählt uns, sie habe gesehen, wie eine schwangere Frau einem Mann unter dem Sonnenschirm 400 Dollar gab – und prompt durchgelassen wurde.

An der Grenze zwischen Mexiko und den USA spielt sich seit Jahren ein humanitäres Drama ab. Für Donald Trump ist das jedoch kein Problem, sondern ein Wahlkampfthema. Was die Abschottungspolitik des US-Amerikanischen Präsidenten bewirkt, spiegelt sich im Tod jener MigrantInnen, die es nicht übers Meer, durch den Fluss oder die Wüste geschafft haben. «Es wird alles unternommen, um Migrierende abzuschrecken oder aufzureiben», sagt Greg und schöpft Haferbrei in den Pappbecher eines Obdachlosen. Man sei sich in den USA gar nicht bewusst, welche Strapazen diese Menschen auf sich genommen hätten und welchen Gefahren sie ausgesetzt gewesen seien. «Jetzt sind sie hier, und können den langen Weg nicht einfach zurückgehen.»

Greg glaubt, dass die Verzögerungspolitik Tumps einzig und allein darauf abziele, an der mexikanischen Grenze eine Eskalation zu provozieren. «Dann», so ist er überzeugt, «hat die USA einen Grund, ihre Grenzen ganz dicht zu machen.»

2681, 2682, 2683 …

Plötzlich leert sich der Tisch unter dem Sonnenschirm und zwei Frauen postieren sich hinter den Absperrungen: die eine mit der Liste in der Hand, die andere mit einem Megafon. Dahinter ein paar stämmige Männer, die mehrmals darauf bestehen, nicht fotografiert zu werden. Inzwischen haben sich rund 150 Migrantinnen vor dem Areal versammelt, die meisten von ihnen aus Afrika, Mittel- und Südamerika sowie aus Haiti. Dann werden die Nummern aufgerufen: 2681, 2682, 2683. Die Aufgerufenen gehen an den beiden Frauen vorbei, und unterschreiben auf dem Weg Richtung USA noch einige Papiere.

Später erzählt uns Guerline Josef von der Haitian Bridge Alliance, eine der vielen Hilfsorganisationen vor Ort, dass früher täglich bis zu siebzig Personen durchgelassen wurden. Heute seien es zehn bis zwanzig, «manchmal weniger».

Kapitel 2 – Das Massengrab im Dschungel

Nach wenigen Minuten ziehen sich die Frauen mit der Liste zurück unter den Sonnenschirm und die Menge löst sich langsam auf. Jeremy Mulah* aus Liberia hat gesehen, wie wir die Szenen am Grenzübergang fotografiert haben und bleibt stehen. «Bist du Journalist?», fragt er auf Englisch und sagt dann: «Es gibt einiges zu erzählen.» Ohne grosse Umschweife zieht Jeremy die Ärmel seines dünnen Pullovers hoch und zeigt seine beiden Ellbogen. Narben von Stichverletzungen, dazu ein gebrochenes Schlüsselbein.

Die, die ihm das angetan haben, verlangten von Jeremy, dass er an einem Ritual-Mord teilnimmt und das Blut des Getöteten trinkt. In einigen afrikanischen Ländern werden solche okkulten Rituale immer noch praktiziert. Davon verspricht man sich ausserordentliche Kräfte. «Ich bin Christ», sagt Jeremy während des Gesprächs mehrmals, «ich kann unmöglich an solchen Ritualen teilnehmen.» Seine Weigerung bezahlte der 39-Jährige mit Folter. Und während aus seinem Umfeld immer wieder Leute spurlos verschwanden, realisierte Jeremy Mulah: Der einzige Weg, weiterzuleben, ist die Flucht.

Wie viele andere MigrantInnen aus Afrika kaufte auch er ein Flugticket nach Quito. Denn im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Einreise nach Ecuador sehr einfach. Es war der Beginn einer mehrwöchigen Odyssee, zu Fuss und im Bus. Zwischen Quito und Tijuana liegen mehrere tausend Kilometer.

Jeremy schmierte – wie ihm geraten wurde – die Grenzbeamten in Kolumbien und zahlte auch seine Schlepper für den schwierigsten Teil der Reise: den fünftägigen Marsch durch den Dschungel im Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Panama. Mit weit über tausend anderen Frauen und Männern sei er unterwegs gewesen, durch Sümpfe gewatet und durch Flüsse geschwommen. Nachts versuchte er, so gut und sicher wie möglich ein paar Stunden zu schlafen. Wer kein Wasser und nichts mehr zu Essen hatte, trank aus dem Fluss und ass, was er fand – oder aber er wurde Teil des Massengrabs. «Ich habe weit über hundert Tote gesehen», berichtet Jeremy. Liegengeblieben am Wegesrand.

Vor anderthalb Monaten kam er in Tijuana an und erhielt dort eine Nummer: etwas über 3800. Heute schläft er in einem Apartment und teilt Küche und Bad mit anderen Männern aus Afrika. Geld schicken ihm Freunde und Familie, die schon länger in den USA leben. «Anders könnte ich hier gar nicht überleben. Ich habe schliesslich keine Arbeitsbewilligung.» Und auch der Gang über die Grüne Grenze kommt für ihn nicht in Frage. «Ich möchte die Gesetze hier einhalten.»

Die Menschen aus Afrika, die in Tijuana auf Einlass warten, kommen aus Eritrea, aus dem Südsudan, aus Senegal, Liberia oder dem Kongo. Die grösste Community stammt allerdings aus Kamerun. Gemäss dem Onlineportal «Heraldo de Mexico» sind Mitte Juli hundert weitere MigrantInnen aus dem ostafrikanischen Staat in Tijuana eingetroffen. Viele von ihnen haben weder Geld für Essen noch ein Dach über dem Kopf. Aber in Kamerun zu bleiben, war für sie keine Option. Weil sie der englischsprachige Minderheit angehören, wurden sie von der französischsprachigen Mehrheit über Monate hinweg verfolgt, unterdrückt oder gefoltert. Inzwischen herrscht Bürgerkrieg. Laut UNO gibt es mehr als eine halbe Million Vertriebene.

«Geht nach Kanada!»

Zu ihnen gehören auch jene KamerunerInnen, die sich auf der anderen Seite des Rio Tijuana – einer beispiellosen Kloake – in einem heruntergekommenen Haus eingerichtet haben, nur wenige Meter vom «Sicherheitskorridor» für TouristInnen entfernt. Auch Jeff*, Anfang 50, steht vor dem Haus. Auch er stammt ursprünglich aus Kamerun, lebt aber seit über zwanzig Jahren in San Diego. Heute hat er La Linea überschritten, um zu sehen, was er für seine geflüchteten Landsleuten tun kann, wie er sagt.

Offenbar hat er sich dazu etwas Mut antrinken müssen, sein Atem riecht streng nach Alkohol. «Ich sage euch», beginnt Jeff und gestikuliert wild, «es bringt nichts, wenn ihr in die USA wollt. Dort wartet nur der Tod auf euch. Besser ist Kanada, dort ist die Einreise viel einfacher.» Die Männer, die ihm zuhören, mustern ihn von oben bis unten. Er mag zwar einer von ihnen sein, doch weder wurde er in den letzten Monaten bedroht oder gefoltert, noch musste er durch den Dschungel.

Die tote Schwester im Arm

Etwas abseits der Menschentraube fragen wir einen der Zuhörer, kaum älter als 25, die Baseball-Mütze tief im Gesicht, ob die Horrorgeschichten aus dem panamesischen Dschungel tatsächlich wahr seien. Er holt sein Handy aus der Hosentasche und zeigt uns zwei Videos. Im ersten watet rund ein Dutzend Afrikaner durch einen Fluss. Einigen von ihnen steht das Wasser bis zur Brust, anderen bis zum Hals. Ihr Hab und Gut tragen sie auf dem Kopf.

Das zweite Video zeigt einen jungen Mann, der ebenfalls im Wasser steht. Doch statt seinen Sachen hält er den leblosen Körper einer Frau in den Händen. «Das ist seine Schwester», sagt der Kameruner mit der Baseball-Mütze und wartet noch ein paar Sekunden, bis er das Video wegdrückt. Der Mann auf dem Bildschirm schreit und weint in die Kamera und versucht den durchnässten BH seiner Schwester zurechtzurücken. Sie soll wenigstens jetzt, da sie nicht mehr ist, ihre Würde wieder erhalten.

Kapitel 3 – Die HelferInnen mit dem Rücken zur Wand

Wer ins Kulturzentrum Espacio Migrante möchte, muss zuerst an einem Türsteher vorbei. Dieser verlangt Name, Ausweis und Grund des Besuchs und vergewissert sich dann bei seinen Vorgesetzten, ob er die schwere Metalltür öffnen soll oder nicht. Rund um das Gebäude, wenige Meter von La Linea entfernt, wurde ein hoher Zaun gebaut. Er soll die MigrantInnen schützen, die sich hier juristisch beraten lassen, an Einzel- oder Gruppentherapien teilnehmen, Englisch- oder Spanischkurse besuchen oder in der Herberge übernachten. Denn seit kurzem patrouilliert die mexikanische Migrationsbehörde durch Tijuana – und zwar in Begleitung des Militärs. Sie kontrolliert Pässe und Papiere und sperrt jene Menschen ein, die die Auflagen nicht erfüllen. Es sind die Vorboten dessen, was sämtliche Grenzstädte des Landes in den nächsten Wochen erwarten wird. Denn die Regierung in Mexiko-City hat dem Druck Washingtons inzwischen nachgegeben und 15'000 Streitkräfte der Guardia Nacional beauftragt, bei MigrantInnen härter durchzugreifen.

Der Rassismus in Tijuana

Nach ein paar Minuten empfängt uns Paulina Olvera Cáñez, Gründerin und Präsidentin der Non-Profit-Organisation Espacio Migrante. Erst vor wenigen Tagen, erzählt Paulina, sei ein Pickup der Migrationsbehörde vorgefahren, im Schlepptau ein Militärfahrzeug. «Über vierzig Minuten haben sie beobachtet, was rund ums Kulturzentrum passiert.» Tags darauf sei eine Bewohnerin von Espacio Migrante auf offener Strasse verhaftet worden; gestern wiederholte sich das Ganze mit einem Mann aus Haiti. Beide wurden dank der Intervention von Anwälten wieder freigelassen.

«Natürlich hat das bei unseren Bewohnern grosse Angst ausgelöst», sagt die 31-Jährige. Einzelne verlassen die Unterkunft kaum noch und hoffen darauf, dass am Grenzübergang bald ihre Nummer aufgerufen wird. Andere wiederum stellen sich darauf ein, längere Zeit in Tijuana zu bleiben. «Die Stadt ist längst nicht mehr nur ein Durchgangsort», gibt Paulina zu bedenken. «Tijuana ist das Auffangbecken jener, die es nicht in die USA geschafft haben, für die aber eine Rückkehr in die Heimat keine Option ist.» Die hiesigen Behörden würden sich schwer tun mit dieser neuen Situation. «Es herrscht wenig Bereitschaft, den Migranten ihre Grundrechte zuzugestehen, etwa in Sachen Bildung», sagt die Mexikanerin. «Eher wird ignoriert oder diskriminiert.»

«Drecksarbeit der USA»

Im Süden Mexikos, an der Grenze zu Guatemala, sind die Kontrollen bereits im Juni massiv verschärft worden – teilweise durch staatliche Sicherheitskräfte, die im Umgang mit MigrantInnen kaum ausgebildet sind. Deshalb stehen die lokalen Hilfsorganisationen in Alarmbereitschaft und versuchen jeden Verstoss gegen die Menschenrechte schriftlich festzuhalten.

Auch an der Nordgrenze würde nun genauer hingeschaut und die MigrantInnen besser über ihre Rechte aufgeklärt, sagt Paulina Olvera Cáñez. «In Mexiko ist Migrieren kein Delikt. Unser Land erledigt einfach die Drecksarbeit der USA. Doch die Verantwortung für die aktuelle Situation liegt in Washington.» Schliesslich sei es die US-Regierung gewesen, die etwa den Putsch in Honduras 2009 unterstützt habe und diversen Präsidenten Mittelamerikas bis heute die Stange halte – obwohl deren Länder in Armut und Gewalt versinken. «Die US-Regierung will nicht wahrhaben», sagt die Spezialistin in Lateinamerika-Fragen, «dass ein Grossteil der Migration durch ihre aggressive Aussenpolitik ausgelöst wird.»

Kaum noch Platz in den Unterkünften

Ein paar hundert Meter westlich von Espacio Migrante steht eine weitere der knapp zwanzig Flüchtlingsunterkünfte in Tijuana. In dieser Gegend der Stadt sind die Trottoirs abgewetzt, Pfützen aus Motorenöl säumen den Strassenrand. Nahe dem Eingang zur Unterkunft, spaziert eine junge Familie aus El Salvador an einem Mann vorbei, der sich gerade eine Spritze in die Kniekehle setzt.

Eine Journalistin und ein Fotograf aus den USA verlassen das Büro von José María García Lara, kurz Chema genannt, der wegen seiner Erfahrung und Offenheit ein beliebter Gesprächspartner ist. Der 52-Jährige ist Direktor von Juventud2000, einer Bürgerinitiative, die in ihren Zelten rund 140 Personen beherbergt. Viele der BewohnerInnen stammen aus Honduras und El Salvador, bis vor kurzem lebten sie auf der anderen Seite von La Linea. Sie sind vor ein paar Stunden oder Tagen deportiert worden und stehen vor dem Nichts.

Chema ist besorgt über die Ankündigungen der US-Regierung, bald massiv mexikanische Sans-Papiers ausschaffen zu wollen. Zunächst hiess es, dass gegen rund 2000 Personen in zwölf US-Städten gezielt vorgegangen werden soll. «Wir sind gar nicht vorbereitet, so viele Menschen auf einmal aufzunehmen», gibt Chema zu bedenken und verweist auf die hohe Belegung der Herbergen Tijuanas. Er selber könne höchstens noch zehn Personen aufnehmen.

Derzeit macht in der Stadt das Gerücht die Runde, die Zentralregierung wolle bald mit dem Bau einer riesigen Unterkunft beginnen. Wann und wo ist allerdings nicht bekannt.

Kleider waschen in der Kloake

Die Ankommenden und Deportierten, denen niemand aus der Familie regelmässig Geld schickt, haben letztlich nur eine Option: die Strasse. Am Rio Tijuana haben sich ein paar MigrantInnen bei einem Schacht eingerichtet, trotz des unerträglichen Gestanks. Einige waschen ihre Kleider in der Kloake, andere haben längst aufgegeben, möglicherweise schon vor Jahren. Sie schlafen auf Parkbänken, essen aus Mülltonnen und führen Selbstgespräche.

«Das ist die andere Seite der aktuellen Migrationspolitik», kommentiert Chema, «jene, die niemand hören und über die niemand sprechen will. Die Menschen sind irgendwann derart verzweifelt, dass sie in eine Depression fallen, Alkohol und Drogen konsumieren und schliesslich in der Gosse landen.»

Wer es vorher schafft, das Elend von Tijuana hinter sich zu lassen, tut dies meist still und leise. «Nur ganz selten sagen die Migranten, wohin sie als nächstes gehen», so der Direktor der Bürgerinitiative.

Kapitel 4 – Die Schwangeren aus dem Eisfach

María hat es auf die andere Seite der Grenze geschafft. Nach mehrwöchiger Flucht zusammen mit ihrem Mann verbrachte sie die letzten drei Nächte in einer der sogenannten «Ice-Boxes» am Stadtrand von San Diego. Sie verliess ihr Dorf in der Provinz Michoacán an der Pazifikküste Mexikos, weil sich dort Drogenbanden, Bürgerwehren und staatliche Sicherheitskräfte seit Jahren blutige Kämpfe liefern. Mitten in der Schusslinie steht das Haus ihrer Familie. Immer wieder habe sie sich während den Schiessereien unter dem Bett verstecken müssen, erzählt María. Irgendwann wurde die Situation unerträglich. Da packten María und ihr Mann ihre Sachen und brachen nach Kalifornien auf. Familienmitglieder und Nachbarn seien bereits dort, – «ja fast das halbe Dorf».

Über zwei Monate warteten sie in Tijuana, bis ihre Nummer aufgerufen wurde. Dann wurden die beiden getrennt: Der Mann kam in einen Zellentrakt für Männer, María in einen für Kinder und Frauen, viele von ihnen schwanger. Dort lief rund um die Uhr die Klimaanlage – daher die Bezeichnung «Ice-Box». Auch das Licht brannte ohne Unterbruch. «Man wusste nicht, ob Tag oder Nacht war», erinnert sich María, «die Zelle hatte keine Fenster». Den Raum teilte sie sich mit acht anderen Personen, ebenso die Toilette, die sich ebenfalls in der rund 20 Quadratmeter grossen Zelle befand, abgetrennt nur durch eine hüfthohe Mauer ohne Tür.

Die Kälte sei unerträglich gewesen, «doch unsere Bitten, die Klimaanlage auszuschalten, wurden ignoriert.» Eine der Frauen sei über zehn Tage in der «Ice-Box» gewesen und habe schwere Atemprobleme bekommen. Doch der Arzt, nachdem sie verlangt hatte, sei nie aufgetaucht.

Sorgen um den Ehemann

«Es wird alles unternommen, um Migrierende abzuschrecken oder aufzureiben», hatte Greg gesagt, der junge Aktivist mit dem Haferbrei. María wurde abgeschreckt und aufgerieben. Doch nach drei Tagen wurde sie plötzlich freigelassen und in einen Bus nach Los Angeles gesetzt. Sogar das Ticket für die Weiterfahrt war bezahlt, offenbar von einem Verwandten in den USA. Ausser ihrem Koffer, dem Handy und den Kleidern, die sie trägt, hat sie alles in Michoacán gelassen.

All dies erzählt die Mittdreissigerin frühmorgens bei «Dennys», einer US-amerikanischen Restaurantkette, während sie auf den nächsten Bus wartet. Kaum ist die Sonne an diesem 4. Juli aufgegangen, dem Unabhängigkeitstag der USA, strömen Eltern mit ihren Kindern ins Lokal und bestellen riesige Frühstückssteller. María nippt an ihrer Tasse Kaffee, mag die Pancakes eigentlich gar nicht aufessen. Nach dem Aufenthalt in der «Ice-Box» sei ihr Magen durcheinander und sie mache sich Sorgen um ihren Mann. Er wartet in seiner Zelle in Tijuana immer noch auf seine Freilassung. Ob er die Geburt seines ersten Kindes in den USA miterleben wird, ist ungewiss. María ist im siebten Monat schwanger.

Romano Paganini / Infosperber