Ein Land im Ausnahmezustand Chile: Aufstand der Prekären

Politik

In dem lateinamerikanischen Staat, welcher lange Zeit als «Musterschüler Südamerikas» galt, haben sich die Proteste gegen eine Ticketpreiserhöhung der Metro um gerade mal 5 Rappen zu einem landesweiten Aufstand ausgeweitet.

Blick auf das Zentrum von Santiago de Chile während den Ausschreitungen, Oktober 2019.
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Blick auf das Zentrum von Santiago de Chile während den Ausschreitungen, Oktober 2019. Foto: Carlitos (PD)

21. Oktober 2019
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Als vor einer Woche in Santiago de Chile eine Handvoll Schüler aus Protest gegen die Erhöhung der U-Bahn-Preise von 800 auf 830 Pesos (was umgerechnet rund fünf Rappen entspricht) zu kollektivem Schwarzfahren aufriefen, hätte sich niemand vorstellen können, dass diese an und für sich harmlose Form des zivilen Ungehorsams innerhalb weniger Tagen zu einem landesweiten Aufruhr mit massiven Plünderungen und einer nationalen Ausgangssperre führen würde.

Strukturelle Armut am Rande der Stadt

Doch die Probleme des Landes sind seit Längerem bekannt und die Wut der Menschen in den stetig wachsenden Armenvierteln am Rande der Stadt der Metropolenregion kommt keineswegs überraschend. Während die Oberschicht und der Mittelstand in den letzten Jahren von einem veritablen Wirtschaftsaufschwung profitieren konnte, befindet sich ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in einer prekären Lebenssituation. Mit einem Lohn von wenigen hundert Franken pro Monat und mit Lebensmittelpreisen auf europäischem Level wissen viele Familien schon Mitte des Monats nicht mehr, wie die Ausgaben der nächsten zwei Wochen zu decken sind. Somit ist auch logisch, dass sich die Mehrheit der Leute bei Banken und kleineren Finanzinstituten mit Mikro-und Kleinkrediten zu horribeln Konditionen eindecken und danach oft jahrelang verschuldet sind.

Verschiedene Studien gehen davon aus, dass im Grossraum Santiago zwischen 33 % bis 41 % der urbanen Bevölkerung in den sogenannten Poblaciones leben. Dennoch sollte man sich hier keine Slums im klassischen Stil vorstellen, vielmehr handelt es sich um südamerikanische Barrios mit einigermassen funktionierender, jedoch komplett privatisierter Infrastruktur. Obwohl viele Pobladores unter der achtjährigen Amtszeit der linksgerichteten Michelle Bachelet den Weg in den unteren Mittelstand geschafft haben, ist die strukturelle Armut für einen Grossteil der Bevölkerung an der Peripherie der Grossstadt immer noch knallharte Realität. Um die Gründe für diese tief verwurzelte Prekarität zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick in die jüngere Geschichte des Landes.

Die neoliberale Diktatur

Als 1973 der demokratisch gewählte Sozialist Salvador Allende vom chilenischen Militär unter Führung von Augusto Pinochet unter tatkräftiger Mithilfe der USA ermordet wurde, begann nach dem Putsch eine bis dahin nie da gewesene Privatisierungswelle das Land zu erschüttern. Neben einer restriktiven Geldpolitik und der Abschaffung von Sozialausgaben galt Diktator Pinochet's besonderes Augenmerk der wirtschaftsliberalen Reform. Er besetzte wichtige Ministerien mit Ökonomen rund um den Zirkel der «Chicago Boys», bei welchen es sich um eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler handelte, welche in den USA studiert haben und von den Ideen der neoliberalen Vordenker Friedrich August Hayek und Milton Friedman mehr als nur angetan waren.

Unter dem Protektorat der USA wurden in der Folge die Staatsunternehmen privatisiert und dem internationalen Kapital Tür und Tor geöffnet. Der US-Ökonom Milton Friedman war angesichts der so noch nie gesehenen Zusammenarbeit eines diktatorischen Regimes mit dem freien, liberalen Wirtschaftsmarkt komplett begeistert und nannte es später »Das Wunder von Chile».

Diese Umstrukturierungsmassnahmen hatten unter anderem zur Folge, dass die Disparität in der Gesellschaft rapide zunahm, der informelle Sektor des Landes sprunghaft anstieg und grosse Teil der Bevölkerung immer tiefer in die Armutsfalle rutschten. Durch die einseitig beschleunigte Kapitalakkumulation und die Privatisierung des Bildungssektors bildete sich ein starres Klassensystem, welches bis heute tief in der chilenischen Gesellschaft verankert ist. Viele Gesetze der Pinochet-Diktatur sind bis heute in Kraft und sind mit ein Grund, warum in den letzten Jahren die Schüler und Studenten immer wieder und unermüdlich auf die Strasse gingen, um gegen ein System zu protestieren, in dem die Oberschicht ihren Kinder an Privatschulen zu horrenden Preisen eine Top-Ausbildung beschaffen, wogegen die Menschen aus den ärmeren Vierteln kaum eine Chance auf einen offenen Studienplatz erhalten.

Aufgestaute Wut

Nachdem die gut organisierten und über Jahre andauernden Studentenproteste in diesem Jahr etwas abgeflaut waren, hat sich derzeitig der nächste Funken entzündet. Nach Berechnungen der Fundacion Sol muss eine Person, die für den Mindestlohn arbeitet, 21 % seines Gehaltes für die U-Bahn ausgeben. Die Eskalation der erneuten Proteste gegen die Erhöhung der Ticketpreise ist somit keine wirkliche Überraschung - und es geht definitiv nicht nur um die Metropreise. „Ich protestiere wegen der ganzen Ungerechtigkeit, wegen der Gewalt und weil unsere Stimme nie gehört wird“ erklärte eine Demonstrantin gegenüber dem chilenischen Online-Magazin politika.cl.

Zuerst waren es vereinzelte U-Bahn-Stationen, die angegriffen und in Brand gesteckt wurden. Mit dem völlig unverhältnismässigen Einsatz von Schusswaffen von Seiten der chilenischen Militärpolizei sorgten die Sicherheitskräfte schon zu Beginn der Proteste für eine Eskalation der Gewalt. Mehrere Jugendliche wurden mit Schussverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert. Die Reaktion der Strasse kam postwendend - der Aufstand breitete sich rasend schnell aus. Wie schon oft zuvor strömten die Leute aus den Randbezirken zu tausenden in die Innenstadt, um ihrem Unmut über ein System, dass die Mittellosen kategorisch ausgrenzt, Luft zu verschaffen. Bemerkenswert ist, dass die Ausschreitungen nicht wie sonst üblich, nur an wenigen Hotspots, sondern asynchron und an unzähligen Orten stattfanden. Dabei wurden landesweit über 60 Supermärkte, mehrere Bürogebäude von Banken und Versicherungen und massenhaft kleinere Ladenlokale geplündert und in Brand gesteckt. Barrikaden wurden gebaut, Busse gingen in Flammen auf und zahlreiche Polizeiautos wurden zerstört. Inzwischen spricht die Regierung auch offiziell von mehreren toten Demonstranten.

Die Reaktion des Staates

Schon Stunden später hat sich die Protestwelle auf andere grössere Städte (Iquique, Antofagasta, La Serena) des Landes ausgeweitet. Die Regierung verhängte in der Hauptstadt umgehend eine Ausgangssperre, welche von 22.00 Uhr – 7.00 Uhr gilt und das erste Mal, seit der Pinochet-Diktatur Ende der 1990 Jahre, wieder in Kraft tritt. Der eigens ernannte verantwortliche General Javier Iturriaga del Campo erklärte in den Medien, dass der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, um «die öffentliche Ordnung und die Ruhe der Einwohner Santiagos sicherzustellen und sowohl privates als auch öffentliches Eigentum zu schützen». Auf den diversen Plätzen der Metropole tauchten schlagartig gepanzerte Fahrzeuge mit schwerbewaffneten Einheiten des chilenischen Militärs auf.

Trotz der massiven Einschüchterung von Seiten der Regierung ist der Rückhalt der Protestierenden in der Bevölkerung enorm: An vielen Strassenecken gab es Cacerolazos, eine traditionsreiche, lautstarke Protestform aus der Zeit der Militärdiktatur, bei der mit Kochlöffeln auf Pfannen und Topfdeckel gehämmert wird. In der Hafenstadt Valparaiso, in der ebenfalls Plünderungen stattfanden, beschwerte sich der linke Bürgermeister Jorge Sharp (Frente Amplio) öffentlich gegen die Verhängung der Ausgangssperre und den Einsatz des Militärs in seiner Stadt.

Ob sich die Proteste mit Waffengewalt und kleinen Zugeständnissen auf die Schnelle eindämmen lassen, muss stark bezweifelt werden. Der Protest der Marginalisierten hat eine lange Tradition und verfügt über eine enorme Kontinuität. Bereits unter der Militärdiktatur von Pinochet waren neben den Studenten die Pobladores trotz massiver Repression die treibende Kraft im Widerstand gegen das totalitäre Regime.

Offensichtlich ist aber, dass von der aktuellen Regierung um den neoliberalen Dollarmilliardär Sebastián Piñera mit Sicherheit keine tiefgreifende Verbesserung der Lebensumstände erwartet werden kann, auch wenn er nun über die Fernsehkanäle verlauten liess, dass er die Stimme seiner Landsleute mit Demut vernommen habe und zu Gesprächen bereit sei. Verschiedene Organisationen, Gewerkschaften und studentische Verbände haben bereits für heute Montag zum Generalstreik aufgerufen.

Ricardo Tristano