Furcht und Hoffnung in einer neoliberalen Gesellschaft Das politische Erdbeben in Chile

Politik

Chile wird seit Freitag, dem 18. Oktober 2019, von gewalttätigen Protesten in einem Ausmass erschüttert, das man seit der Diktatur nicht mehr gesehen hat.

Proteste in Santiago de Chile, November 2019.
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Proteste in Santiago de Chile, November 2019. Foto: Mascha (PD)

13. November 2019
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Die Regierung hat den Ausnahmezustand ausgerufen, das Militär patrouilliert die Strassen der grossen Städte des Landes, neben zahlreichen friedlichen Protesten kam es zu unglaublichen Zerstörungen, Brandschatzungen und Plünderungen. Offizielle Zahlen sprechen bis jetzt von 15 Toten [Stand: 22.10.], das teilweise brutale Vorgehen des Militärs lässt aber leider noch mehr Opfer erwarten. Das bis dahin so stabile lateinamerikanische Land wird von unvorhergesehenen Erschütterungen erfasst, die Schatten der Militärdiktatur von Augusto Pinochet sind zurück, die Tage seit dem 18. Oktober haben jetzt schon historische Bedeutung angenommen.

Was ist passiert?

Anfang Oktober wurden die Preise für die Metro um 30 Pesos (ca. 4 Cent) erhöht. Seit Montag dem 14. Oktober gab es dagegen friedliche Proteste in der Form, dass grössere Student*innengruppen zusammen die Metro genommen haben, ohne zu bezahlen („evadir“). Darauf hat die Regierung reagiert, in dem einzelne Metrostationen geschlossen wurden und die Polizei verstärkt gegen diese Gruppen vorgegangen ist. Das führte zur Ausweitung der Proteste und am Freitag, den 18. Oktober, zu ersten gewalttätigen Zerstörungsaktionen in der Metro. Die Regierung hat wiederum nur mit Gewalt darauf reagiert und am Freitagabend den Ausnahmezustand ausgerufen und die Kontrolle über Santiago an einen General übergeben. Das erste Mal seit Ende der Diktatur, dass aus politischen Gründen der Ausnahmezustand ausgerufen wurde und Militär in den Strassen patrouillierte!

Das führte zu einer Eskalation der Proteste, so dass am Samstag, den 19. Oktober, zahlreiche Menschen zu friedlichen Protesten (Cacerolazos – eine aus der Diktatur bekannte Protestart, bei der auf Töpfe geschlagen wird, um seinen Unmut auszudrücken) zusammengekommen sind. Gleichzeitig eskalierten diese Proteste in unglaublichen Plünderungs- und Brandstiftungsorgien, so dass samstags und in der Nacht von Samstag auf Sonntag zahlreiche Metrostationen zerstört, fast alle grossen Supermärkte in Santiago ausgeplündert und angezündet, überall Strassenbarrikaden errichtet wurden und sich die Proteste – auch in dieser gewaltsamen Form – über das ganze Land ausgebreitet haben. Dazu erheblich beigetragen hat wiederum die Regierung bzw. die Massnahme, für Samstagnacht eine Ausgangssperre zu deklarieren (toque de queda) – das erste Mal seit der Diktatur! Dies führte nur zu noch mehr Protesten, denn das Militär war unfähig, alle Plünderungen und Proteste zu kontrollieren (was vorher abzusehen war – man kann nicht an jede Ampel einen Polizisten stellen!).

Die Proteste, Plünderungen und Brandstiftungen gingen den ganzen Sonntag und in der Nacht auf Montag weiter und seit Montag, den 21. Oktober, versucht Santiago (und das restliche Land) wieder einigermassen zur Normalität zu kommen, allerdings fährt nur eine Metrolinie (und auch die nur halb). Schulen und Unis sind geschlossen. Die Ausgangssperre für die Nacht gilt auch noch am Dienstagabend. Der Diskurs der Regierung betonte dabei ab Sonntag, den 20. Oktober, fast nur noch die Gewaltaspekte: der Präsident behauptete, man führe einen „Krieg“ gegen mächtige Organisationen, die die Plünderungen zu verantworten hätten.

Die Kriegsrhetorik hat zwar in den folgenden Tagen zum Glück auch Widerspruch erfahren von Oppositionspolitikern, der Justiz und dem militärischen Machthaber über die Region Santiago, aber es geht von Seiten der Regierung jetzt vor allem darum, die Gewalt in den Vordergrund zu stellen. Tatsächlich haben die gewalttätigen Plünderungen unglaubliche und überraschende Ausmasse angenommen. Das Ganze erscheint wie eine Katharsis, ein zerstörerischer Karneval, absolut undenkbar für Chile bisher, der so weit gegangen ist, dass Gruppen anfingen, Privathäuser zu plündern und die Nachbarn begannen, sich zu organisieren, um sich zu verteidigen. Viele Menschen haben tatsächlich Angst, um ihren Arbeitsplatz (weil der in Flammen steht) oder um ihre Sicherheit.

Was bedeutet das?

Es gibt viele Elemente, die eine Rolle spielen: In den Tagen von Freitag, den 18., bis Sonntag, den 20. Oktober, hat die Regierung die Kontrolle über das Land verloren, es gab eine Leerstelle in der Macht, das Gewaltmonopol war zwischenzeitlich aufgehoben, was direkt zu diesen Plünderungen geführt hat. Unmittelbare Gründe dafür sind, dass die Regierung viel zu panisch und repressiv reagiert hat. Durch den Ausnahmezustand und die Ausgangssperre hat sie sich jeglichen Handlungsspielraums beraubt, die Gewaltdrohung – und Umsetzung hat diesmal nicht funktioniert, denn die Menschen haben nicht mehr diese Angst vor dem Militär wie noch zu Zeiten der Diktatur. Das Ganze ist so aus dem Ruder gelaufen, dass es militärisch gar nicht zu kontrollieren war. Das führte zur Kritik an der Regierung, sie wäre nicht präsent, was wiederum am Sonntag dann die Kriegsäusserung des Präsidenten nach sich zog, der jetzt Autorität zeigen will.

Gleichzeitig, und das ist ein zweites Element, ruft die Regierung zu einem Dialogforum mit allen beteiligten Institutionen auf, um die profunde soziale Krise im Land anzugehen. Der Präsident hat schon am Samstag die Metropreiserhöhung zurückgenommen und am Dienstag alle Parteien zu einem Dialog über die neue soziale Agenda aufgerufen. Tatsächlich wird in allen Interviews, die die Medien mit Bürger*innen durchführen, erwähnt, dass man zwar die Gewalt ablehne, aber mit den Protesten grundsätzlich einverstanden ist.

Diese Katharsis des Wochenendes hat die Chance gebracht, endlich tatsächlich über umfassende Reformen an Chiles neoliberalem System zu reden. Alle Politiker*innen sind sich im Klaren darüber, dass jetzt ein neuer Sozialpakt angestrebt werden muss, wenn die Kontrolle über das Land wiederhergestellt ist. Die Proteste werden auch nicht so schnell wieder abnehmen – es protestieren sogar Menschen in den besser gestellten Vierteln der Mittel- und Oberklasse und die cacerolazos gehen auch am vierten Tag unvermindert und jetzt völlig friedlich weiter. Warum ist das Thema „soziale Probleme“ so bedeutend? Damit sind wir bei mittel- bis langfristigen Elementen des Ausbruchs:

Die Metropreiserhöhung war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Chile schien zwar wie das stabilste Land der Region, tatsächlich aber nur auf Kosten von unglaublichen sozialen Unterschieden. Grosse Teile der Bevölkerung profitieren nicht von Wirtschaftswachstum und Stabilität, sondern leben am Existenzminimum. Das Gehalt ist teilweise sehr niedrig, die Preise für Wasser, Strom, Gas (alles privat), Transport, Gesundheit, Bildung (ebenfalls alles privat) sind aber sehr hoch, häufig höher als in Europa. 60 Prozent der Menschen kommen mit ihrem Einkommen nicht bis ans Monatsende. Der Neoliberalismus, der seit 40 Jahren in Chile vorherrscht, hat eine absolut ungerechte Gesellschaft geschaffen. Dazu kommt, dass fast alle Politiker*innen dieses System so verinnerlicht haben, dass Reformvorschläge häufig blockiert werden.

Beispiele nur aus den letzten Monaten zeigen dies und erklären die Wut der Menschen an diesem Wochenende: Seit Monaten wird ein Gesetz debattiert, dass die Arbeitszeit auf 40 Stunden reduzieren soll (Umfragen ergeben eine grosse Mehrheit in der Bevölkerung dafür, die Regierung blockiert aber), einige Tage vor Ausbruch der Proteste wurde wieder der Fall einer Frau debattiert, die ihre Rentenersparnisse ausgezahlt haben möchte (das ist nicht möglich in Chile, hier wird die Rente in einen privaten Fond eingezahlt und man muss selbst an der Börse damit spekulieren – der Gewinn kommt häufig den Fondsbesitzern zugute und man selbst bekommt nur das, was einem ausgerechnet wird (in monatlichen Zahlungen mit der Rechnung, dass man mindestens 101 Jahre alt wird!).

Dazu kam jetzt die Metropreiserhöhung, an der man schön das dahinterliegende Verständnis der Gesellschaft in Chile aufzeigen kann: Im Fall des Protestes gegen die Preiserhöhung fiel der Regierung nichts anderes ein, als erstens die Leute aufzufordern, früher aufzustehen (dann ist die Metro noch billiger) und zweitens dann lieber Metrostationen ganz zu schliessen, als die Evasion zuzulassen (Logik: lieber fährt gar keiner, als dass ich es zulasse, dass eine Gruppe Student*innen fährt, ohne zu bezahlen!). Noch deutlicher wird es bei den Metropreisen insgesamt.

Die sind nämlich zur Rushhour am höchsten, also dann, wenn alle Arbeitnehmer*innen fahren müssen (Logik dahinter, die für das ganze Land gilt: Ich mache Politik, damit private Firmen höheren Gewinn machen, nicht damit die Menschen einen Nutzen haben). Diese Logik unterliegt sämtlichen sozialen Institutionen in Chile. Die Menschen haben sich zwar daran gewöhnt, weil viele dieser Institutionen grundsätzlich gut funktionieren (die Metro war das beste Beispiel, da sie gut funktionierte, von über drei Millionen Chilenen jeden Tag benutzt wurde, deutlich die modernste in Lateinamerika war und den Stolz aller Chilenen darstellte), aber die neoliberale Logik führt eben auch zu diesen krassen sozialen Ungleichheiten, die jetzt hinter diesem Protestausbruch stehen.

Dazu kommt, ein weiteres Element, dass sämtliche Institutionen, die für den Staat und seine Anerkennung stehen, in den letzten Jahren in Diskredit geraten sind. Die Politiker der aktuellen rechten Regierung haben sich häufig unter der Diktatur bereichert (so der Präsident selbst, der auch schon Steuern hinterzogen hat („evadir“ – aber in anderer Grössenordnung als die Student*innen in der Metro), aber die Korruptionsskandale haben auch die Oppositionspolitiker*innen (die ja nach der Diktatur selbst lange an der Macht waren) erfasst, und, viel schlimmer, auch die Institutionen des Gewaltmonopols, die Polizei und das Militär, und zwar an ihrer Spitze. Es gab grosse Skandale um Generäle, die Lustreisen auf Staatskosten unternommen haben. Dazu kommt, dass auch die katholische Kirche durch den Missbrauchsskandal als moralische Stimme komplett ausfällt, so dass es kaum Institutionen gibt, die mit der Reputation ausgestattet sind, dass die Bevölkerung auf sie hören würde. Auch das hat den Ausbruch und das Anhalten der Proteste verstärkt.

Insgesamt haben die Politik und die Regierung durch ihr Verhalten den sozialen Pakt aufgekündigt, die Politiker haben in den letzten Jahren (beispielhaft dafür das „Steht doch früher auf“ des Transportministers in der Woche nach der Metropreiserhöhung) völlig unsensibel auf Forderungen und Probleme aus der Bevölkerung reagiert. Der Präsident hat Chile noch am Mittwoch zu einer „Oase“ in Lateinamerika erklärt. Das führt dazu, dass die ärmeren Schichten jetzt auch nicht einsehen, warum sie den Sozialpakt respektieren und – bildlich gesprochen – an der roten Ampel stehen bleiben sollen. Denn darauf beruht ja dieser Pakt, dass sich die Bürger*innen an Regeln halten, die man mit Gewalt gar nicht durchsetzen kann. Das passiert gerade nicht mehr. Was sind die Folgen?

Das ist nicht einfach zu beantworten. Die Tage besitzen auf alle Fälle historisches Ausmass. Es gibt Ängste vor einem neuen Putsch – am 17. Oktober noch unvorstellbar – und Gerüchte, dass die Gewalteskalation vom Militär und von der Polizei selbst angefacht würde. Berichte in den alternativen Medien über Militärgewalt nehmen zu. Das Militär löst die friedlichen Proteste nach der Ausgangssperre mittlerweile sehr gewalttätig auf, wobei auch direkt in die Menge geschossen wird. Grundsätzlich scheint die Möglichkeit eines Putsches oder Auto-Putsches eher unwahrscheinlich, denn die Situation ist historisch anders als zur Zeit des Militärputsches unter Augusto Pinochet 1973 und die Rechte hat kaum Gründe für eine Militärregierung, deren Legitimierung sehr viel schwieriger wäre.

Die Regierung hat auch in den Tagen nach Ausbruch der Proteste mehr als nur ungeschickt reagiert. Eigentlich müsste sie geschlossen zurücktreten, denn sie ist die Hauptverantwortliche für das Chaos, das Chile ja auch wirtschaftlich zurückwerfen wird, wenn man bedenkt, wie lange es dauern und wie viel es kosten wird, bis alles wieder aufgeräumt ist. Das wird aber wohl nicht passieren. Die meiner Meinung nach wahrscheinlichste Prognose ist, dass das Militär solange die Kontrolle behalten wird, bis das staatliche Gewaltmonopol wiederhergestellt ist, dann wird es zahlreiche Dialogforen geben, eventuell der eine oder andere Minister zurücktreten und grosse Versprechungen auf umfangreiche Änderungen angekündigt werden … und am Ende wenig dabei herauskommen. Die Gewaltorgien und Plünderungen haben der Masse als Katharsis gedient, sie wird danach wieder leichter zu kontrollieren sein. Das ist eine persönliche, eher pessimistische Einschätzung.

Es kann aber auch zu tatsächlichen Veränderungen führen. Die klassenübergreifenden Proteste werden wohl wirklich nicht so schnell abflauen, allen politisch Beteiligten ist klar, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss und die Tage nach dem 18. Oktober könnten als grundsätzliche Wende in die chilenische Post-Diktatur-Geschichte eingehen. Am Dienstag nach den Protesten wurde das Projekt zur 40-Stunden-Woche wieder in die Diskussion im Parlament aufgenommen, eine schon lange von der Oppositionspartei Frente Amplio (Breite Front) vorgeschlagene Reduzierung der sehr hohen Diäten der Parlamentarier scheint nun beschlossene Sache zu sein und der Präsident kündigte in der Nacht einen umfassenden Sozialpakt an.

Dieser enthält zahlreiche Massnahmen, wie das Einfrieren der Strompreise, eine Versicherung, um die Preise für Medikamente zu reduzieren, einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn, eine Steuererhöhung für die reichsten Chilenen, eine Umverteilung zwischen reichen und armen Kommunen und einen besseren Schutz für Opfer von Gewalttaten. Der Ausnahmezustand wurde allerdings noch nicht aufgehoben und tatsächliche Strukturreformen oder gar eine neue Verfassung, wie es grosse Teile der Bevölkerung fordern, enthielten die Ankündigungen allerdings nicht. Wie viel davon tatsächlich umgesetzt wird, ob sich die Regierung nach der Beruhigung der Lage halten können wird und wie lange die umfangreichen, friedlichen Proteste noch weiter gehen, ist am vierten Tag des politischen Erdbebens in Chile noch nicht abzusehen.

Auf mittelfristige Sicht müsste eigentlich die nach dem uruguayischen Modell vor einigen Jahren gegründete linke Oppositionspartei Frente Amplio von den Protesten profitieren, deren Kandidatin bei den letzten Präsidentschaftswahlen immerhin 20 Prozent der Stimmen gewinnen konnte, sie präsentiert sich nur innerlich häufig zerstritten und ohne klare Führungsfigur. Die rechtskonservativ-populistische Partei nach dem Modell Bolsonaro, Trump, etc. scheint gerade keinen Profit aus dem Unmut schlagen zu können, da ihre Führungsfigur ebenfalls in einen Korruptionsskandal verwickelt ist und daher eher zurückhaltend reagiert.

Für die Chilenen selbst bedeuten die historischen Tage seit dem 18. Oktober 2019 sowohl Hoffnung als auch Furcht. Eine in der vorigen Woche noch undenkbare Furcht vor einer neuen Militärdiktatur und eine vor kurzem ebenfalls noch undenkbare Hoffnung auf ein Ende des unmenschlichen neoliberalen Systems.

Stephan Ruderer / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 443, November 2019, www.graswurzel.net

Stephan Ruderer ist Professor für Lateinamerikanische Geschichte in Santiago de Chile