Realpolitik und Staatsbürgertum Jokerlose Karten

Politik

Die politische Morgenröte kommt allenfalls in Nebelschritten. Man spürt nichts von Aufbruch und Umbruch, keinen wirklichen Neuanfang, sondern das Gefühl, auf diese oder jene Weise ähnlichen Gesetzen unterworfen zu sein wie die Menschen anderer Zeiten – überlieferten, eingespielten, scheinbar zementierten.

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Jokerlose Karten. Foto: Calle EklundV-wolf (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

17. Oktober 2013
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Korrektur
Der Anbruch eines völlig neuen Tages in der Politik, da die Unterschiede und Anliegen befriedigend verhandelt werden und die Kunst des Möglichen endlich am Menschen ausgerichtet ist, lässt auf sich warten. Politik ist, ganz im Gegenteil, was auf allen gesellschaftlichen Feldern menschlich versagt. Es sind dann weniger die angehenden als die vorangegangenen Jahrhunderte, die ihren herben Einfluss zeigen, indem sie schon Zerkochtes ewig aufwärmen. Gewiss, irgendwie müssen Menschen zusammen leben, ab einer bestimmten Grössenordnung geordnet, daher irgendwann verwaltet, in jeder Ordnung anders, und doch bei jeder Verwaltung gleich.

Allein, dies sagt nichts über die Tauglichkeit einer besonderen Form des Zusammenlebens aus. Ob sie auch zweckdienlich sei, entscheiden die Interessen und ihr Ausgleich oder ihr Ungleichgewicht. Heutzutage neigt sich die Waage, wie einst, erneut zum Letzteren, zum fehlenden und insofern gestörten Gleichgewicht. Politik beginnt dort, wo viele Menschen auf einmal betroffen sind, die Abertausenden und Millionen also, deren Namen unvermeidbar in der Masse untergehen. Aber wie sieht diese Politik tatsächlich aus?! Regierungskrisen und häufige Kabinettswechsel sind nur Sonderfälle eines auch sonst farcenhaften Politikantentums. Aufgeblasene Zinnsoldaten schwingen grosse Reden für kleine Leute...

Hinter dem Schauspiel indes verbirgt sich ein Machtspiel, meinungsbildend und gleichzeitig gesellschaftsumbildend. Man setzt in der und gegen die Allgemeinheit einen bestimmten Willen durch. So gesehen, verkörpert Politik das Verhältnis aller Gesellschaftsschichten untereinander, ein Kräfteverhältnis übrigens, das beharrlich zugunsten der Besitzenden ausschlägt. Soviel ist mittlerweile unbestreitbar. Unfähig jedoch, Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, hat in dieser Form das Politische ausgedient. Ein schrecklicher Verdacht verdichtet sich alsdann: keine Politik scheint die Richtige zu sein und zugleich keine andere möglich!

Überhaupt ist die Politik zum behördlichen Alltagsgeschäft geworden, und rein geschäftlich wird bei Gesetzgebung und Staatshaushalt denn auch vorgegangen. In diesem engen Rahmen, der mehr als nur administrativ ausfällt, sichert eine Regierung, sei sie nun gewählt oder nicht, den reibungslosen Ablauf für die Lohnarbeit und den Kapitalverkehr, sprich, für Eigentumsvermehrung und Profiterschleichung. Auf dieser Grundlage von Arbeit und Geldwesen funktioniert jeder Staat. Kurz, es geht in erster Linie um Befugnisse und Verfügungsgewalten – und daher um Machtfragen. Wahrscheinlich ist deswegen Staatskunst ein allzu neutrales Wort, um die darunter fallenden Tätigkeiten nüchtern zu beschreiben, denn Macht entbehrt jeder Neutralität.

Zudem wird sie institutionell gefestigt, und die verschiedenen Institutionen machen ein Staatsgebilde erst aus. Mächtig aber ist bekanntlich, wer Geld hat. Nun hat die gesellschaftliche Entwicklung zusehends verdeutlicht, dass die bürgerliche Republik ein Staat der Geschäftsleute ist und ihre Politik nur eine Handelsbeziehung wie jede andere; der zeitgemässe Ausspruch stammt ursprünglich von Marx, einem toten Hund, der allem Anschein nach wieder beisst. Jedenfalls entspricht die saubere Schuldefinition von Politik keineswegs dem schmutzigen Geschäft, das sie in Wirklichkeit ist.

Es wäre insofern unheilvoll, sich aus dieser Richtung die Vorbereitung einer besseren Zukunft oder gar die Ersetzung der bestehenden Ordnung durch eine geschichtlich fortschrittlichere zu erwarten. Und Fortschritt hiesse in so einem Fall schlicht Humankultur: also das Menschliche als Gegenpol zum Entmenschten strukturell zu ermöglichen und organisch zu erweitern, natürlich, im nachhaltigen Einklang mit der Natur. Dem gegenüber versperrt sich der so genannte politische Realismus, das systemintegrierte Bewusstsein, als ein geschlossener Kreis von unhinterfragten Sachzwängen. Nach Innen wird er daran gemessen, ob etwaige Ziele in der gebührenden Kalkulation von Zwecken und Mitteln erreicht oder verfehlt werden, und von Aussen wird er stets darauf geprüft, in welchem Ausmass und wann seine Bewertung realpolitischer Methoden – und zwar strikt nach Merkmalen des Erfolges und der finanziellen Nützlichkeit – eine Politik ohne Moral unterstützt.

Vielleicht ist dies die eigentliche politische Kernfrage, welche lebensnah, wie sie ist, über die etwas lehrhafte Frage hinausgeht, ob zum Beispiel das politische Handeln übergeordneten Massstäben aus Religion und Recht oder einer eigenen Gesetzlichkeit der Staatsräson und des Daseinskampfes unterworfen sei. Tatsache ist, dass die Politik den Staatsbürger nie zum besseren Menschen gemacht und nie charakterlich veredelt hat, geschweige denn kritisch heranbildet und respektvoll behandelt.

Dessen ungeachtet versichert der politische Realismus die Menschen, obwohl sie in der Politik ständig Opfer von Lug und Selbstbetrug sind, dass all die falschen Versprechen, leeren Phrasen und blinden Flecken dort doch nur Kavaliersdelikte seien, dass der rasche Verschleiss ihrer Leitbilder, Werte und Lösungsformeln allfällig oder höchstens zufällig passiere, und dass nicht irgendwelche Klasseninteressen, sondern reine Sachfragen den Charakter und die Qualität politischer Entscheidungen bestimmen. Unter dieser Voraussetzung lässt sich freilich erreichen, dass sich Politkorruption und Wirtschaftskriminalität dann jeder gesamtgesellschaftlichen Erklärung entziehen.

Die Belohnung der Menschen für diese Art von Bescheidenheit, Treue und Versöhnlichkeit würde, so die recht selbständige Logik der bürgerlichen Realpolitik, alsdann das staatlich garantierte, das wohl geordnete, das gute Leben sein – ähnlich wie in Heines Schilderung eines von Sturm und Regen gepeitschten Sklavenschiffes, dessen Seelenverkäufer in der Not die Sklavenfesseln lösen und den Gefangenen sogar die Freiheit versprechen, um sie nach überstandener Bedrängnis und getaner Rettung bequem wieder im Bug anzuketten. In jener Eigenlogik gehört, um Klartext zu sprechen, die Manipulierungsfunktion immerhin zum geistigen Inventar: ehrliche Volksvertreter sind selten, weil sie meist um ein Vielfaches mehr verdienen als das sie wählende Völkchen und in der Folge bald verlernen, es in seinen Nöten überhaupt noch zu verstehen.

Die Realpolitik hat sich in diesem Sinne wirklich verselbständigt und von der allgemeinen Erfahrung stückweise losgelöst, das heisst, ihren angeblichen Realitätssinn eingebüsst. Anhand zahlloser Ergebnisse ist die Scheinheiligkeit ihres Heiligenscheins als solche enttarnt worden, und zwar mehrmals bereits. Skandale und Affären stellen nur die sichtbare Spitze dieses Eisberges dar. Die Erfahrung hat nämlich gezeigt, dass banditische Sitten nicht nur mit der Geldlosigkeit, sondern auch mit dem Geldzuwachs regelmässig auftauchen. Wer sich also von Politikern als einer Berufsgruppe Rettung erhofft, braucht streng genommen nicht sie, sondern einen Seelenklempner zur Heilung eines entweder arglosen oder einfach unselbständigen und vielleicht sogar autoritären Charakters. Politikern zu glauben, Politikern zu folgen, Politiker zu verherrlichen – all das wirkt, wenn man sich die aufgerissenen Augen der ihnen so Zugetanen genauer ansieht, mindestens befremdend, aber mit wachsender Lebenserfahrung sicherlich auch ein wenig abschreckend.

Die jüngere Geschichte, randvoll mit Beispielen abgegebener Verantwortung, vereitelter Zusagen und missbrauchter Macht, hat zur Genüge schon Aufschluss gegeben über derlei Träumereien des Staatsbürgers, welche gefährlich sind wie eh und je und ausserdem ihn, das politische Subjekt, in ein blosses politisches Objekt verwandeln. Staatliche Kontrollmechanismen verkörpern da höchstens vorläufige Massnahmen einer Gesellschaft, die noch nicht gelernt hat, sich gemeinschaftlich den Ursachen ihrer chronischen Sackgassen zuzuwenden. Die Politik löst im Endeffekt keine Probleme, sondern schafft im Gegenteil stets neue. Deswegen können die Menschen insgesamt „nicht geführt werden ohne ein weit verzweigtes, systematisch angewandtes, solide ausgerüstetes System von Schmeichelei, Lüge, Gaunerei, das mit populären Modeschlagworten jongliert, den Arbeitern alles Mögliche, beliebige Reformen und beliebige Wohltaten verspricht – wenn diese nur“ auf jede Form des organisierten Kampfes gegen die herrschende Klasse verzichten! So lautet Lenins Behauptung, eines weiteren verstorbenen Köters, der gewissermassen immer noch zu bellen weiss. Doch, was politische Methoden betrifft, sind die seinigen, wie man weiss, selbst nicht ganz koscher gewesen.

Dem makabren Betrug der angeblich Sachverständigen steht in der Politik fast schattenhaft und immer wieder das tragische Scheitern der Heilsprediger zur Seite: was die ersten zögerlich versprechen und selbst dann bloss in Aussicht stellen, vermasseln die anderen bei ganzem Einsatz. So treibt die konzentrierte Wirtschaftsmacht tendenziell gen politische Machtkonzentration, während eine Machtzerschlagung oft nichts als einen Machtwechsel bedeutet. Leidtragende sind, wie gewohnt, die Bevölkerung. In ihrem hastigen Tun und Treiben ist sie allein aus Zeitgründen mit beidem masslos überfordert. Trotzdem stellt sie sich – obgleich angenommen werden darf, dass sie vorzugsweise einen gefühlsmässigen Zugang zur Sache wählt – sozialen Frieden und individuelles Glück zweifelsfrei anders vor. Zufriedenheit herrscht heute zumindest nicht.

Auch ist das Versprechen bürgerlicher Hochziele von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so recht niemals eingelöst worden, denn der Mensch lebt vielerorts in Abhängigkeit, Entfremdung und Feindschaft. Finanzielles Gedörn und existentieller Kampf säumen vielmehr seinen Weg! Die Politik hat es verabsäumt, die Gesellschaft der Musse und der Sicherheit über das Deklarierte hinaus vorzubereiten. Sie ist bislang in jeder ihrer Formen gescheitert. Frei, gleich und brüderlich: das klingt leider immer noch zu schön, um wahr zu sein! So ein Staat, so eine Gesellschaft, diese Lebensweise existiert überhaupt nicht, und wenn – dann höchstens ansatzweise, als Potenzial. Für die Reichen taugt freilich jeder politische Rahmen und auch der bürgerlich liberale allemal.

Ihr Leben ist ohnehin ein langer Sonntag, wie Georg Büchner sagt. Als das Bürgertum in einem aufgeklärten Geiste dem Adel einst sein Klassenvorrecht gewaltsam entrissen hat, ist im Kern der Gesellschaft schliesslich die bare Losung mit dem leibhaftigen Vorrecht verblieben, als ungelöster Widerspruch. Die strikt lohnabhängige Bevölkerung, ehedem Arbeiterschaft genannt, mag insofern auf diesen sozial nicht gedeckten politischen Cheque des Bürgertums eines Tages zurückkommen, um ihn einzulösen. Es wirkt dann, obwohl sich die Menschen sogar mit einer für sie falschen Ordnung zu arrangieren wissen, als sei eine entscheidende Rechnung in der Politik noch nicht beglichen worden. So lebt denn die Furcht Kains ebenfalls fort, als blinde und lähmende Umsturzangst aller Besitzenden.

Und die geschichtliche Robinsonade des freien Marktes hat trotz aller liberalen Beteuerungen in Wirklichkeit keinen Reichtum der Nationen hervorgebracht, wie ursprünglich angekündigt, sondern bisweilen: Kolonialverbrechen, Grossmachtbestrebungen, Börsenkrachs, Weltkriege, Umweltzerstörung, Blutdiamanten, Hungerrevolten, Putschisten, Zivilisationskrankheiten usw. Das wirkliche Problem einer solchen Politik, die, wie Max Weber sagt, durch ihre allgegenwärtige Kapitalrechnung das Ringen der Menschen untereinander voraussetzt, liegt nicht darin, dass sie schlecht funktioniert und Eigentumsrecht vor Menschenrecht garantiert, sondern eigentlich darin, dass sie sich überhaupt durchzusetzen weiss. Die Verstümmelung des Gleichheitsgedankens bis hin zum formalen Gerüst einer Gleichheit vor dem Gesetz, dessen Rechtsprechung und Verwaltung selbst eine steigende Verselbständigung erfährt, ist bloss noch das letzte Kapitel einer Geschichte der gängigen Gesellschaftsfarce, wo Kautionsbeträge in Millionenhöhe und politische Immunitäten und Geheimdossiers und Günstlingswirtschaften im Ablauf der Dinge überwiegen.

Dass eine so trügerische Umschreibung wie Überflussgesellschaft dann nur noch manische Verhältnisse der Überproduktion sprachlich bemäntelt, muss ebenso einleuchten wie die Tatsache, dass die unsichtbare Hand der Wirtschaft eigentlich eine verschleierte Diktatur des Kapitals meint. Sie wird übrigens für die Demokratie zur gefährlichsten Herausforderung werden, sofern die Politik nur konzentrierte Ökonomik bleibt. Der moderne Mensch ist in alledem notwendig der völligen politischen Vereinzelung preisgegeben. Gesellschaft, das ist dementsprechend nur noch ein Wort, eine gedankliche Einteilung ohne das Bindemittel des Gefühls, eine zum Schein leere Abstraktion, ein notwendiges Übel in etwa, welches dem Individuum in der Gestalt des Staates gegenübertritt – als unpersönliche Macht und ihm übergeordnete Instanz. Vom angeblichen Volkssouverän ist auffallend wenig geblieben.

Die Gesellschaft wird aber oft auf eben diese Weise wahrgenommen, weil allerorts schon öffentlich von den Bedürfnissen der Allgemeinheit, das heisst, vom gesellschaftlichen Interesse locker abstrahiert wird. Die Möglichkeit seiner richtigen Bestimmung wird zwar geleugnet; es selbst ist dabei nicht verschwunden, auch wenn es die Rahmenbedingungen für eine selbständige Aufschlüsselung, Vertretung und Leitung nie geschaffen hat. Fest steht jedenfalls, dass das Allgemeininteresse im Gegensatz zum Einzelinteresse steht. Einen klaren Begriff davon zu haben, ein in der Bevölkerung verfügbares Bewusstsein von der Relevanz dieser Unterscheidung, würde in letzter Konsequenz die Grundlagen innerstaatlichen Zusammenlebens in einige Bedrängnis bringen. Folglich müsste sich die Politik gezwungener Massen mit dem Vorwurf auseinandersetzen, ihre eigentliche Aufgabe, vernünftig zu handeln und zuerst der Allgemeinheit zu dienen, notorisch zu vernachlässigen! Und sie müsste sich ihm früher oder später stellen.

Dass sich die Mehrheit, selbst durch Vorurteile und Sonderinteressen gespalten, auch als solche empfindet und diesen Prozess in Gang bringt, wird jedoch aus heutiger Sicht sozialtechnisch zunehmend unwahrscheinlicher. Der äussere Einfluss auf das menschliche Innenleben ist nahezu total geworden. Dieser wirtschaftliche Totalitarismus äussert sich am krassesten vielleicht noch in der gottgleichen Allgegenwärtigkeit der Werbepsychologie. Man will folglich, was andere wollen, und tut hernach, was andere tun. Eine tatsächliche und ausserdem leicht nachzuweisende Gegenüberstellung von sozialen und privaten Interessen ist weder bei Bildungseinrichtungen noch bei den Medien in voller Schärfe anzutreffen. Nichts lässt einstweilen vermuten, dass die Quantität an isolierten Informationen in eine neue Qualität des Wissens umschlägt. Darüber hinaus hat die politische Phantasie als Fähigkeit, Schöpferisches und daher Neues zu ersinnen und umzusetzen, in dem Masse abgenommen, als die frühere Hoheit der Politik jener der Ökonomie gewichen ist. Das Klirren von Goldbarren übertönt das Geschrei einfach aller Bürgerinitiativen zusammen.

Geld, der heutige Gott, lässt den Menschen, der es erschafft wie früher seine Götter, sehr klein erscheinen. Das Erfundene knechtet plötzlich seinen Erfinder. Und dem ist nun mal so, weil Vermögen alsbald Einfluss bedeutet, dann gemächlich Sonderrechte fordert und letztlich alles daran setzt, um für seine Wahrung beständige soziale Verhältnisse zu sichern und besondere politische Vorstellungen zu formen. Eigentumsverhältnisse wirken in diesem realpolitischen Zusammenhang weitaus unantastbarer als die Menschenrechte.

So herrscht denn eine philosophische Abenddämmerung, in der gerade noch die Umrisse der wichtigsten politischen Frage zu erkennen sind, welche sich im Keime nach der eigentlichen Berechtigung bestehender Verhältnisse erkundigen sollte. Es bleibt vorerst beim Konjunktiv...

Mladen Savić