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Hungerrevolte und Ernährungskrise

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Globalisierung und soziale Kämpfe Hungerrevolte und Ernährungskrise

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Politik

Die weltweite Krise des Kapitalismus hat einen zweiten Namen: Zur Kreditkrise gesellt sich die Ernährungskrise.

Proteste in Algerien gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise am 7. Januar 2011.
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Proteste in Algerien gegen die Erhöhung der Lebensmittelpreise am 7. Januar 2011. Foto: Magharebias (CC BY 2.0 cropped)

Datum 24. April 2008
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Über Widerstand und Protestaktionen gegen die Kreditkrise in den wohlhabenderen Ländern ist bisher nichts bekannt. Auf die Ernährungs- und Lebensmittelkrise reagieren die Menschen in vielen Ländern der Welt mit Unruhen, Protestbewegungen und Streiks. Über diese Protestaktionen soll hier berichtet werden.

1. Protestorte (alfabetisch)

Ägypten

Asma Rushdi, eine Mutter von vier Kindern, klagt im Armenviertel von Kairo: "Seit sechs Uhr heute Morgen stehe ich an für Brot. Jetzt ist es neun, und ich habe für meine Familie noch nichts zu essen!" Frau Rushdi wartet in einer langen Schlange vor einer staatlichen Bäckerei, wo rationiertes Brot mit subventioniertem Getreide gebacken wird.

Die Bewohner von Ägypten sind weltweit die grössten Esser von Weissbrot. Sie essen davon 400 Gramm am Tag, die Franzosen nur rund 130 Gramm. Ägypten importiert die Hälfte seines Getreideverbrauches, und die Regierung subventioniert die Brotversorgung der städtischen Armen. Als aber das Importgetreide immer teurer wurde, wuchs die Differenz zwischen dem staatlich subventionierten Getreide und dem Marktgetreide. Ein Sack mit 100 kg subventioniertem Mehl kostete für Staatsbäcker in Kairo nur 2 Euro. Auf dem Schwarzmarkt bekam man um die Jahreswende für den gleichen Sack 250 Euro. Kein Wunder, dass immer mehr Mehl aus den Staatsläden verschwand und auf dem Schwarzmarkt verkauft wurde. Landesweit wurden 12.000 Menschen festgenommen, die auf dem Schwarzmarkt Mehl kaufen oder verkaufen wollten.

Das Mehlangebot nahm nicht ab, es wurde aber im Preis unerschwinglich für die Armen. Die Warteschlangen vor den Staatsbäckereien wurden länger, und die Menschen dort ungeduldiger. In den Warteschlangen kämpften Arme gegen Arme um Brotrationen. In solchen Kämpfen sollen allein in Kairo 11 Menschen ums Leben gekommen sein.

Auf einem Flugblatt vom 6. April 2008 hiess es: "Mubarak verschwinde! Wir riskieren unser Leben beim Anstehen für Brot." Die staatliche Brotausgabe wird nun von Soldaten überwacht.

Seit Dezember letzten Jahres richtete sich der Hass und Ärger auch gegen die Polizei und gegen Händler. In spontanen Protestaktionen wurden Läden leergeräumt. In den folgenden Auseinandersetzungen mit der Polizei kamen nach Polizeiangaben sieben Jugendliche ums Leben.

Um höhere Löhne durchzusetzen wurde von einzelnen Gewerkschaften Anfang April ein eintägiger "Generalstreik" ausgerufen. Dabei kam es nicht zu breiten Arbeitsniederlegungen, aber zu heftigen Demonstrationen und Strassenschlachten mit der Polizei. Bei diesen Aktionen wurden landesweit 500 Personen festgenommen und mindestens 50 Demonstranten verletzt. Streiks und Demonstrationen sind in Ägypten seit langem verboten. Ein erneuter "Generalstreik" ist für den 4. März angekündigt.

Argentinien

Als der argentinische Landwirtschaftsminister Martin Lousteau die Exportabgaben auf Soja und Getreide Anfang des Jahres um knapp zehn Prozent auf 45 Prozent erhöhte, riefen die vier grossen Bauernverbände dagegen zu Streiks und Protesten auf. Landesweit demonstrierten Bauern und errichteten Blockaden auf den Fernstrassen. Durch die Strassensperren kam es zu Engpässen bei der Lebensmittelversorgung in den grossen Städten. Nach 16 Tagen brachen die Bauern ihre Aktionen ab und begannen Gespräche mit der Regierung Kirchner.

Siehe dazu den Indymedia-Bericht Soja-Konflikt in Argentinien. (Allerdings: Argentinische Landwirte, die Soja oder Weizen für den Export produzieren, sind in der Mehrzahl keine kleinen Campesinos, wie dieser Bericht unterstellt.)

Burkina Faso

Burkina Faso gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Ein Grossteil der Bevölkerung lebt noch von Subsistenzwirtschaft und ausserhalb kapitalistischer Märkte. Die Subsistenzwirtschaft reicht vielleicht notdürftig für den eigenen Lebensunterhalt, aber nicht für die Versorgung der städtischen Bevölkerung. Deren Lebensmittel müssen importiert werden. Anfang Februar hatte die Regierung zwar sinkende Importzölle, aber gleichzeitig steigende Preise für Lebensmittel und für Benzin bekannt gegeben. Gegen steigende Preise brachen immer wieder spontane Protestaktionen mit Demonstrationen, Blockaden und Plünderungen von Geschäften aus. Jugendliche bauten im Kampf mit der Polizei Strassensperren und zündeten Autoreifen an.

Daraufhin riefen am 20. Februar verschiedene Gewerkschaften und soziale Verbände zu einem zweitägigen Generalstreik am 8. und 9. April 2008 auf. In allen Städten fanden Demonstrationen statt. Transportarbeiter und Taxifahrer blockierten tagelang den Verkehr in der Hauptstadt Ouagadougou. Die Polizei sprach von 264 Verhaftungen. Soldaten marschierten auf, um den Regierungspalast zu bewachen. Bettina Engels berichtete bei Labournet Germany: „Seit einer Woche protestiert die Bevölkerung im westafrikanischen Burkina Faso gegen die drastisch steigenden Lebensmittelpreise. Heute versammeln sich die DemonstrantInnen in der Hauptstadt Ouagadougou.

In der letzten Woche fanden zeitgleich Proteste in Bobo-Dioulasso, der zweitgrössten Stadt des Landes, der drittgrössten Stadt Ouhigouya im Norden und der Provinzhauptstadt Banfora im Südwesten statt. In Bobo-Dioulasso greifen die DemonstrantInnen Regierungsgebäude an, setzen Geschäfte, Autos und Tankstellen in Brand. Eine Delegation der Regierung wird mit Steinwürfen empfangen. 100 DemonstrantInnen werden festgenommen. Die Proteste setzen sich am nächsten Tag fort.

Auch Händler und Geschäftsleute beteiligen sich. Die Proteste richten sich gegen die beständig steigenden Preise von Basisgütern wie Reis, Speiseöl und Seife im zweitärmsten Land der Welt. Nach Angaben der Regierung sind die Preise zwischen 10 und 65 Prozent gestiegen. ... Die Regierung hat Massnahmen zur Preiskontrolle angekündigt…“

Elfenbeinküste

Die Elfenbeinküste importiert mehr als die Hälfte ihres jährlichen Reisbedarfs. Gegen die steigenden Lebensmittelpreise hatte es an verschiedenen Orten spontane Aktionen gegeben.

In einer organisierten Demonstration zogen dann Anfang April rund 1500 Frauen aus den Armenvierteln durch das Viertel der Reichen in Abidjan, der früheren Hauptstadt der Elfenbeinküste, mit den Rufen: "Wir haben Hunger!" und "Eure Preise bringen uns um!" Die Polizei griff die Demonstration an und verletzte mindestens 12 Personen, darunter auch JournalistInnen.

Als Reaktion auf die Proteste schaffte die Regierung die Importsteuer für Reis, Seife, Speiseöl und Milch zeitweise ab und halbierte die Mehrwertsteuer auf diese Produkte von 18 auf neun Prozent.

Haiti

Aus einer spontanen Hunger-Revolte wurden in Haiti bald organisierte politische Proteste gegen die Regierung und deren internationale Helfer. In Haiti, dem ärmsten Staat Amerikas, hatten sich die Reispreise in den letzten Monaten verdoppelt, auch Bohnen und Brot wurden immer teurer. Zunächst gab es immer wieder spontane Protestaktionen auf den Strassen der Hauptstadt Port-au-Prince, Supermärkte wurden gestürmt. Jugendliche lieferten sich Strassenschlachten mit der Polizei. Mindestens fünf Menschen kamen dabei ums Leben.

Oppositionsparteien begannen die Proteste zu unterstützen und zogen vor den Präsidentenpalast von Rene Preval. UNO-Soldaten schützten den Palast mit Panzern und gingen gewaltsam gegen Demonstranten am Flughafen der Stadt vor. Sechs Menschen sollen bei den Kämpfen ums Leben gekommen sein, darunter ein bei der UNO beschäftigter Polizist. Nach offiziellen Angaben wurden 200 Personen verletzt. Der Präsident entliess seinen Premierminister.

Honduras

Aus Honduras werden die jüngsten Protestaktionen gemeldet. Zehntausende Demonstranten errichteten am 17.04.2008 (?) Strassensperren in der Hauptstadt Tegucigalpa und anderen Städten des Landes. Die Regierung setzte die Armee ein. Es gab Verletzte.

Indien

Indien war lange Jahre landwirtschaftliches Exportland und begann erst vor zwei Jahren Weizen zu importieren. Im Laufe des letzten Jahres wurden Grundnahrungsmittel wie Hülsenfrüchte, Reis, Mehl und Öl immer teurer. Indien hat inzwischen ein Exportverbot für Reis erlassen, um den wachsenden eigenen Bedarf zu decken.

Die allgemeine Preissteigerungsrate liegt bei sieben Prozent, aber Lebensmittel sind um 20 Prozent und mehr im Preis gestiegen. Die Lebensmittelteuerung ist das Hauptgesprächsthema in Indien, auf der Strasse, in den Zeitungen, in den Parlamenten. Die "Times of India" schreibt: "Ein Gang zum nächsten Gemüsehändler um die Ecke fühlt sich an wie ein Besuch in einem der modernen, schicken Einkaufszentren Delhis. Man kann sich die Auslagen anschauen, aber bezahlen kann man nichts."

Indonesien

Anfang Januar zogen 10.000 Demonstranten vor den Präsidentenpalast der indonesischen Hauptstadt Jakarta, weil sich die Preise für Sojabohnen in einem Jahr verdoppelt hatten. Um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu gewährleisten, wurden vorläufig sämtliche Reisexporte eingestellt und die Importzölle gesenkt. Indonesien ist der drittgrösste Reis-Produzent der Welt, muss aber gleichzeitig einen Gutteil dieses Grundnahrungsmittels importieren.

Jemen

Die Jemeniten haben im Schnitt etwas mehr als einen Euro pro Tag zur Verfügung – sie gehören zu den Ärmsten der Welt. Der Weizenpreis hatte sich im Jemen verdoppelt, Grundnahrungsmittel wie Reis und Speiseöl sind ebenfalls um ein Vielfaches teurer geworden. Tausende Jemeniten sind seit Ende März auf die Strasse gegangen, um dagegen zu protestieren. Genauere Informationen über Ablauf und Hergang der Proteste habe ich nicht gefunden.

Kamerun

In Kamerun kam es zu mehrtägigen Massendemonstrationen wegen der hohen Benzin- und Lebensmittelpreise sowie zu Protesten gegen Präsident Biya, der in dem Land seit 1982 regiert und seine Amtszeit bis 2011 verlängern lassen will. Mindestens sechs Menschen wurden bei Unruhen allein in der Hauptstadt Jaundé getötet, die Gesamtzahl der Toten dürfte deutlich höher liegen. Angefangen hat alles am 23. Februar mit einer spontanen Demonstration von mehreren hundert Menschen in Newtown, einem armen Vorort von Douala. Die Polizei griff die Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas an, die wehrten sich mit Steinwürfen. Bei dieser Auseinandersetzung sollen zwei Menschen ums Leben gekommen sein.

Am 24. Februar riefen die Taxifahrer Doualas zu einem Streik gegen die hohen Benzinpreise auf. Seit diesem Tag kam es in allen Städten des Landes zu Protestaktionen, obwohl die Taxifahrer ihren Streik nach zwei Tagen abbrachen, um sich von dem "jugendlichem Vandalismus" zu distanzieren. Überall im Land zogen Jugendliche durch die Städte, plünderten Geschäfte, bauten Barrikaden und zündeten Autos an - die Symbole des Wohlstands. Der öffentliche und private Verkehr kam zum Stillstand. In den Strassen von Douala lagen Leichen. (IRIN, 27.2.2008). Insgesamt sollen 40 Menschen bei den Protesten ihr Leben gelassen haben. Andere Medien melden über 100 Tote. Ein in die Enge getriebener Polizist soll von der Menge gelyncht worden sein.

Wenige Tage nach Beginn der Protestbewegung trafen Vertreter der Weltbank, des IWF und der Afrikanischen Entwicklungsbank zu Geheimgesprächen mit Regierungsvertretern von Kamerun zusammen. (Camerun Tribune, 25.2.2008).

Marokko

In Marokko wurde die erste Brotdemonstration am 23. September 2007 gegen eine staatlich verordnete Preiserhöhung mit einigen tausend Teilnehmern in Sefrou organisiert. Die Demonstration wurde von Polizei und Armee angegriffen. Es gab mindestens 50 Verletzte. Dem folgte eine Strassenblockade in der Hauptstadt Rabat. Nach mehreren Demonstrationen wurde die Preiserhöhung zurückgenommen.

Mauretanien

Das Land Mauretanien importiert 70 Prozent der im Land verbrauchten Lebensmittel. Im November 2007 protestierten in der Hauptstadt Nouakchott rund 1.000 Menschen gegen die gestiegenen Mehlpreise. Bei der Niederschlagung der Demonstration durch die Polizei kam sechs Menschen ums Leben. Andere Meldungen sprechen von einem Toten und 13 Verletzten.

Mexiko

Tortillas, das Brot der Mexikaner, wird aus Maismehl gefertigt. Seit dem Freihandelsabkommen mit den USA aus dem Jahr 1994 wurde zunehmend billiger Mais von dort importiert. Die mexikanischen Landwirte mussten auf andere Produkte ausweichen. Inzwischen wurde amerikanischer Mais immer teurer, nicht zuletzt wegen der Produktion von Bioethanol. Am 1. Februar 2008 gingen in Mexiko City und anderen Städten 75.000 Menschen gingen auf die Strasse, um dagegen zu demonstrieren. Dieser Protest ging als "Tortilla-Krise" durch die Medien.

Mosambik

Fast der gesamte Weizenverbrauch des Landes muss importiert werden. Wegen einer Missernte im Land ist auch der Mais knapp. Die Preise steigen im Land. Die blutigen Proteste Anfang Februar in der Hauptstadt Maputo entzündeten sich an Preissteigerungen für Fahrpreise und für Benzin. Bei diesen Unruhen tötete die Polizei einen Demonstranten und verletzte 63 mit scharfer Munition. Siehe den Bericht von Labournet.

Peru

Am 20. Februar 2008 endete ein zweitägiger Bauernprotest mit Demonstrationen, Blockaden und Besetzungen im ganzen Land gegen ein anstehendes Freihandelsabkommen für landwirtschaftliche Produkte mit den USA. Präsident Alan Garcia rief den Notstand aus. Seine Polizei tötete einen der Demonstranten. Siehe den Bericht von Labournet

Senegal

In Dakar, der Hauptstadt des Senegal, hatte eine Vereinigung der Senegalesischen Verbraucher (ASCOSEN) trotz Verbot zu einer Demonstration gegen die Lebensmittelteuerung aufgerufen. Die Polizei griff die Demonstranten mit Tränengas und Schlagstöcken an. Später besetzte die Polizei eine private TV-Station, um die Berichterstattung über die Proteste zu verhindern. Der Demonstration war ein Konflikt der Regierung mit den Strassenhändlern vorausgegangen. Um seine Hauptstadt für die Konferenz der 57 islamischen Staaten zu "verschönern" hatte Präsident Wade den Strassenhandel in der Stadt verboten. Daraufhin bekämpften Jugendlich Polizisten, die das Verbot durchsetzen wollten, verwüsteten Luxushotels und Regierungsgebäude. Das war ihre Antwort auf die präsidiale "Stadtverschönerung".

2. Die Teilnehmer der Proteste

An den Hungerrevolten und Protestaktionen gegen die Lebensmittelkrise beteiligen sich zwei grosse Bevölkerungsgruppen mit mehreren Unterteilungen: Auf der einen Seite die Bauern, auf der anderen Seite die Städter.

2.1. Kleinbauern

Die Bauern sind von der Lebensmittelkrise zweifach betroffen. Soweit sie nur für den eigenen Lebensunterhalt und für lokale Märkte produzieren, wird ihre Lage durch die Globalisierung der Landwirtschaft immer prekärer. In Südamerika sind es oft indigene Bevölkerungsteile. Kleine Bauern zählen weltweit zu den Verlieren der Globalisierung. Sie haben keine ökonomischen Druckmittel und können sich nur Gehör verschaffen durch gewaltsame und spektakuläre Aktionen (Blockaden, Zerstörungsaktionen u.ä.). Sie müssen immer damit rechnen, dass gegen ihren Protest die Armee eingesetzt wird. In Mexiko, Peru und Indonesien haben sich Kleinbauern in grösserer Zahl an den Aktionen beteiligt.

2.2. Weltmarktbauern

Die Zukunftsaussichten der Bauern, die für den Weltmarkt produzieren, sind gut. Sie zählen zu den Gewinnern der Globalisierung. Sie spielen - wie in Argentinien - eine wichtige Rolle für die Volkswirtschaft und die Staatsfinanzen. Sie können ihre Regierung unter Druck setzen und tun das auch, sobald sie ihre Interessen gefährdet sehen. Sie erreichen ihre Ziele (Abkommen mit der Regierung) oft schon mit symbolischem Protest, der nicht wirklich schmerzt. Die Exportbauern organisierten die Proteste in Argentinien, allerdings mit einem sehr "schmerzenden Protest", mit Blockaden der Zufahrtsstrassen der grossen Städte.

2.3. Die Städter

Die Bewohner der Städte in aller Welt produzieren keine Lebensmittel, sondern müssen ihre Lebensmittel kaufen. Sie sind direkt von Preissteigerungen betroffen, und je ärmer sie sind, desto härter trifft es sie.

Die Zahl der Städter wächst viel rascher als die Gesamtzahl der Weltbevölkerung. Es ist also nicht die Zunahme der Weltbevölkerung, die eine schnell wachsende Nachfrage für Lebensmittel verursacht, sondern es ist besonders die Zunahme der Stadtbevölkerung in aller Welt. Das Jahr 2008 ist da ein historischer Wendepunkt: Zum erstenmal seitdem es die Menschheit gibt, leben mehr Städter auf der Erde als Landbevölkerung.

Triebfeder der anwachsenden Stadtbevölkerung ist die kapitalistische Industrialisierung und Globalisierung. Durch Einbeziehung von immer mehr Ländern und Gebieten in die Geldwirtschaft des Weltmarkts werden die selbständigen, kleinen Produzenten ruiniert und als arbeitssuchende Massen in die Städte gespült.

Die grosse Masse der weltweiten Stadtbevölkerung, in China wie in Europa oder Afrika, stellen einerseits Lohnarbeiter und andererseits Subproletarier ohne Einkommen oder ohne festes Einkommen. Soweit Städter wohlhabend sind, können sie eine Lebensmittelteuerung verkraften. Von den Konsumausgaben der Wohlhabenden machen Lebensmittel nur 10 bis höchstens 25 Prozent.

Ärmere geben bis zu 90 Prozent ihres Geldes für Lebensmittel aus. Da ist kein Puffer. Steigen die Lebensmittelpreise, dann fehlt ihnen das Geld um Essen zu kaufen. Sie hungern. So kommt es, dass Menschen an Hunger leiden und an Hunger sterben, obwohl in der Welt genug Lebensmittel produziert werden, um alle Menschen satt zu machen.

An den Protesten gegen die Lebensmittelteuerung in diesem Jahr beteiligten sich in der Anfangsphase meist nur das städtische Subproletariat, die Arbeitslosen, die Jugendlichen, die Marginalisierten.

Als ungeplante, spontane Aktion der marginalisierten Städter entstanden die Hungerproteste in Ägypten, Burkina Faso, Haiti, Jemen, Kamerun, Mosambik, im Senegal.

Als geplanter und organisierter Protest begannen die Aktionen in Argentinien, in der Elfenbeinküste, in Honduras, Indonesien, Marokko, Mauretanien, Mexiko und Peru.

Auf unorganisierten Protest blieb nur die Bewegung in Jemen (?) beschränkt.

Das städtische Subproletariat hat meist keine Organisationen, keine Vertreter, keine Stimme, die gehört wird, es hat keine wirtschaftlichen Druckmittel, um Forderungen durchzusetzen. Um sich Respekt oder einfach nur Aufmerksamkeit zu verschaffen, bleiben den Marginalisierten nur Zerstörungsakte oder Verkehrsblockaden. Zerstörungsakte richten sich entweder gegen Symbole der Macht (Regierungsgebäude, Polizei- und Armeefahrzeuge) oder gegen Symbole des Reichtums (Autos, Luxushotels). Politischer Druck konnte damit nicht aufgebaut werden, wenn sich andere gesellschaftliche Gruppen von diesem "Vandalismus" distanzieren, weil es ihnen schwer fällt, Aktionen der Marginalisierten in ihre eigene politische Strategie zu integrieren.

Dennoch schlossen sich in verschiedenen Ländern nach einigen Tagen oder Wochen organisierte Kräfte (soziale Verbände, Gewerkschaften, Parteien) dem unorganisierten Protest in folgenden Ländern an: Ägypten, Burkina Faso, Haiti, Kamerun, Mexiko. Durch die gemeinsamen Aktionen von Organisierten mit Unorganisierten wurde die Konfliktlage in einem Land entschärft und befriedet (Kamerun, auch Senegal?), aber in vier Ländern wurde der Protest dadurch intensiviert und verstärkt: In Ägypten, Burkina Faso, Haiti und Mexiko.

Auf hauptsächlich organisierten Protest stützten sich die Bewegungen in Argentinien, in der Elfenbeinküste, in Indien und Indonesien. Als Folge dieser geplanten und organisierten Aktionen waren in diesen Ländern keine Toten und nur wenige Verletzte zu beklagen.

3. Die Protestaktionen

Die Aktionen spielten sich meist in den Städten und dort auf den Strassen ab. Organisierter Protest begann meist in der Hauptstadt. Unorganisierte und spontane Aktionen startete auch in anderen Städten und sprang dann auf die Hauptstadt über.

Es gab Selbsthilfeaktionen wie Plünderungen von Geschäften (Ägypten, Burkina Faso, Haiti, Kamerun) Es gab aktive Zerstörungshandlungen wie Verwüstung von Luxushotels und Abfackeln von Autos in Haiti und im Senegal.

Sehr häufig wurden die Strassen mit Barrikaden blockiert, teils um wirtschaftlichen Druck auszuüben (Argentinien, Peru, Mexiko, Burkina Faso, Marokko, Mosambik, Peru), teils um die bewaffnete Staatsmacht in ihrem Eingreifen zu behindern (Haiti, Honduras).

Wo bewaffnete Kräfte der Staatsmacht (Polizei, Armee) die Protestbewegung bekämpfte, wurde ihr gewaltsamer Widerstand, aber ohne tödliche Waffen, entgegengesetzt. Insgesamt sind bei der Protestbewegung mindestens 64 Menschen ums Leben gebracht worden (nach anderer Zählung waren es 131), davon zwei Vertreter der Staatsmacht. 325 Menschen wurden mit Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert.

Daneben gab es "klassische" Protestformen wie Streiks und Demonstrationen in Ägypten, Burkina Faso, Argentinien, Elfenbeinküste, Indonesien, Kamerun.

Über 12.000 Menschen wurden bisher im Zusammenhang mit der Lebensmittelkrise verhaftet und eingesperrt. Als Reaktion auf die Proteste haben einige Regierungen mit Steuernachlässen auf Lebensmittel und mit Exportbeschränkungen ihrer heimischen Lebensmittelproduktion reagiert. Aber nirgends sind die Probleme aus der Welt geschafft. Mit weiteren Protesten in diesen und in weiteren Ländern ist zu rechnen.

4. Zu den Ursachen

Als Ursache der Lebensmittelkrise wird meist auf die Angebotspalette der weltweiten Landwirtschaft hingewiesen: aufwändige Fleisch- statt resourcenschonende Pflanzenkost, Mais für Benzin statt für Nahrung, teurer Weizen und Reis statt billige Kartoffeln, gesunde Biofood versus manipulierte Genfood usw. In dieser Argumentation wird jedoch der Agrarweltmarkt als Faktum vorausgesetzt und akzeptiert.Denn bevor sich irgendwelche Preissteigerungen zum Beispiel durch amerikanische Biosprit- oder südamerikanische Fleischproduktion auf die Lebensmittelpreise in Afrika, Mittelamerika oder Asien auswirken können, mussten diese Länder erst einmal in das Netz des landwirtschaftlichen Weltmarkts hineingezogen werden.

Über Haitis Probleme schreibt Alexander King : "Haiti ist ein klassisches Opfer westlicher 'Politikberatung'. Es waren Weltbank und die US-amerikanische Entwicklungshilfeagentur USAID, die dem Karibikstaat in den 80er Jahren eine streng neoliberale Handels- und Wirtschaftspolitik aufgezwungen haben. .... 1986 Jahr trat ein neues Handelsrecht in Kraft, das die Importsteuern auf Nahrungsmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs drastisch senkte. Nach Ansicht der Weltbank wurde den Haitianerinnen und Haitianern so ein besserer Zugang zu günstigeren Nahrungsmitteln ermöglicht: Die Nahrungsmittelimporte sollten ansteigen, das Angebot vergrössert werden. Zugleich war klar, dass die massenhafte Einfuhr von preiswerten Waren, etwa Reis und Geflügel aus den USA, lokale Landwirtschaftsproduzenten verdrängen würde."

Über Indonesien schreibt ein attac-Newsletter : "Als Folge der asiatischen Finanzkrise von 1997 verfügte der internationale Währungsfonds (IWF) weit reichende Handelsliberalisierungen als Bedingung für einen Kredit über mehrere Milliarden Dollar an Indonesien. Diese Bedingungen hiessen, Zollsenkungen und das Ende der Regulierungen durch das BULOG, der staatlichen Nahrungsmittel-Ankaufs- und Verteilungs-Agentur. Indonesien senkte die Einfuhrzölle unter 5%, auch für Grundnahrungsmittel aus eigener Produktion. Der Zoll für Sojabohnen und Reis wurde auf Null gesenkt, für Mais auf 5%.

Die Folgen dieser Liberalisierung waren dramatisch. Importe überfluteten das Land. Über Nacht verdreifachten sich die Reis-Importe und stehen nun bei 3,5 Mio. Tonnen pro Jahr. Die Zuckerimporte schnellten von 20% des Inlandsverbrauchs auf 50% empor. Der Sojabohnenimport erreicht mindestens 50% des Inlandsverbrauchs. Am deutlichsten spürt man die Auswirkungen auf die Beschäftigung im ländlichen Bereich bei Soja. Gab es 1996 noch 5 Millionen heimische Soja-Produzenten waren es 2001 nur mehr 2,5 Millionen."

Auch wenn es nicht so geplant war, die Agenten der Globalisierung haben immer mehr Agrarländer nach dem Rezept der Drogenhändler in den Weltagrarmarkt gezogen. Man lockt zunächst mit billigem "Stoff", und wenn die Konsumenten daran gewöhnt sind und keine anderen Bezugsquellen mehr haben, dann müssen sie kräftig löhnen. Das ist das Stadium, das jetzt auf dem Weltmarkt für Lebensmittel erreicht ist.

Aus der Grafik rechts auf der Übersichtskarte ("Weltmarktpreise 1991-2007) ist ablesbar, dass zwischen 1991 und 2001 die Weltmarktpreise für wichtige Lebensmittel stagnierten oder gar sanken. Erst seit 2005 beginnt der rasante Preisanstieg. Man sieht auf der Länderliste "Teure Importe von Lebensmitteln" wie viel mehr arme Länder für Lebensmittelimporte bezahlen müssen.

5. Was hat die Revolte bewirkt? (Update vom11.05.2008)

In fast 30 Ländern der Welt führtenstark steigende Lebensmittelpreise zu heftigenProtestbewegungen. Entgegen anfänglichen Befürchtungen vonpolitischen Beobachtern stürzte nur die Regierung von Haitiüber die Protestbewegung. Abgesehen von fortgesetzten Demonstrationen und Streiks in Ägypten, Marokko undJordanien ist die Protestbewegung nun nach zwei, drei Wochen abgeflaut. In den meisten Fällen konnten die Regierungendie Protestbewegungen beruhigen, indem sie auf Probleme undForderungen der Protestbewegung eingingen.

DieRegierungen von Ägypten und von Pakistan haben verbilligteBrotmarken an die städtische Armutsbevölkerung ausgegeben,die am stärksten unter den gestiegenen Lebensmittelpreisenzu leiden haben. Die Regierung von Indonesien hat dieSubventionen für Reis um 60 Prozent erhöht. EinigeRegierungen haben Exportbeschränkungen fürGrundnahrungsmittel erlassen, um das Angebot im eigenenLand zu steigern. In mehreren arabischen Ländern wurdenLöhne angehoben. Syrien hob die Löhne für Lohnarbeiter imStaatsdienst um 25 Prozent an, Ägypten hob diese Löhne sogarum 30 Prozent an.

Aus den internationalenSofort-Programmen, die Weltbank und IWF vollmundigangefordert hatten, ist - wie erwartet - nichts geworden.Die weltweite Lebensmittelkrise ist aus den Schlagzeilenverschwunden. Das scheint die neue Medienmasche zu sein: Daes in aller Welt wenig zu berichten gibt vonstaatsmännischen Erfolgen, Glücksgefühlen und politischenHelden, da konzentrieren sich Politiker und Medien auf immerneue weltweite Bösewichter in China/Tibet, Myanmar (Burma),im Iran, in Zimbabwe oder auch auf österreichischePatriarchen mit Privatverliesen. Die neue Medien-Botschaftlautet: Schlimmer als bei uns ist es (fast) überall!

Die Grundproblematik, dass immer mehr Menschen,die bisher recht und schlecht Lebensmittel selberproduzieren konnten, durch den globalisierten Kapitalismusproletarisiert werden und dann Lebensmittel kaufen müssen, schwelt aber weiter und wird sich in den nächsten Jahreverschlimmern. Nicht das absolute Bevölkerungswachstumschafft eine steigende Nachfrage, sondern das schnelleWachstum von Bevölkerungsteilen, die für den Zugang zu ihrertagtäglichen Ernährung erst Zugang zu Geldeinkommenbenötigen.

Wal Buchenberg