Über die kapitalistische Krise und die ausstehende Revolte Hellas heller Wahnsinn – Quo vadis?

Politik

200.000 Menschen haben in Griechenland gegen das Diktat des IWF und der EU protestiert. Der 48-stündige Generalstreik wird weitgehend befolgt. Was hat es mit einer ›Hilfe‹ auf sich, die über 70 Prozent der griechischen Bevölkerung ablehnen? Wer hilft hier wem?

Buchladen in Athen nach Ausschreitungen im Dezember 2008.
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Buchladen in Athen nach Ausschreitungen im Dezember 2008. Foto: Athens Indymedia (CC BY-SA 2.0 cropped)Athens Indymedia (CC BY-SA 2.0 cropped)Athens Indymedia (PD)

27. Mai 2011
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Warum ist das, was machtpolitisch am ›Rand der Eurozone‹ passiert, politisch so zentral? Und: wenn die Schockprogramme in Griechenland tatsächlich am Widerstand scheitern (sollten), geht es um mehr als um einen Abwehrkampf – ob man will oder nicht….

»Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.«



US-Multimilliardär und Finanz-Warlord Warren E. Buffet, 2005

Insgesamt verschuldeten sich die westlichen Staaten mit über 9 Billionen Euro, die deutsche Bundesregierung stellte alleine über 500 Milliarden Euro bereit. Mit wie vielen Milliarden sich die griechische Regierung (zusätzlich) verschuldet hat, ist ein Geheimnis.

Dafür erfahren wir in deutschen Zeitung alles, was die griechischen Luxusmilliardäre so treiben, von welchen Luxus-Renten ›die‹ Griechen leben, wie wenig ›die‹ Griechen arbeiten, wie faul ›die‹ Griechen sind. Anstatt auf Knien dankbar zu sein, dass ihnen überhaupt ›geholfen‹ wird, streiken sie auch noch, was ›die‹ Griechen bekanntlich am besten können.

Einer von ›den‹ Griechen ist Reeder, Banker und Milliardär, heisst Spiros Latsis und lebt am Genfer See. Sein geschätztes Vier-Milliarden-Vermögen hat er mit Öl, Schiffen, Immobilien und dem griechischen Staat gemacht: 1998 kaufte seine Holding ›EFG Group‹ für viel Geld die bankrotte, staatseigene ›Kretabank‹ auf. Im Gegenzug machte man den Weg in den Einstieg beim Ölgiganten ›Hellenic Petroleum‹ frei. Später kaufte Latsis Firmenimperium für zwölf Milliarden griechische Staatsanleihen auf. Eines von vielen Kapiteln aus der Bilderbuchgeschichte des ›Public-Private-State‹.

In Grimms BILD-Märchen ist Griechenland voll von Latsis, denen ›wir‹ ›unser‹ Geld hinterherwerfen. Dass in Griechenland alle Millionäre und Milliardäre sind, sich alle Griechen auf Luxusjachten herumtreiben, keine Steuern zahlen und sich bei Wein und Trauben von Investoren (auch aus Deutschland) mit Millionenbeträgen für Aufträge bestechen lassen, reflektiert den Desinformationsgrad deutscher Berichterstatter, am allerwenigsten die wirkliche Lage in Griechenland.

Griechenland – ein Baum, hinter dem sich ein Wald versteckt

Mit der Übernahme der Verluste aus dem Finanzkrieg wurde die schwerste Krise des Kapitalismus nach 1945 nicht überwunden, sie wurde lediglich verstaatlicht. Während die grossen Unternehmen – ohne jedes unternehmerische Risiko – wieder Profite einfahren und zu den nächsten Übernahmeschlachten schreiten, sind die Staaten durch die Übernahme von Milliarden-Verlusten bis zum Hals verschuldet. Die meisten europäischen Staaten haben eine historische Staatsverschuldung erreicht, die normalerweise nur in Kriegszeiten eingegangen wird. Jetzt stehen einige Staaten am Rande des Ruins.

Manche Staaten haben sich für diesen Notstand lange vorher gerüstet, nicht nur ideologisch und polizeilich. Viele Lohnabhängige sind bereits lange vor der Krise mit Lohnkürzungen und Rentensenkungen in Vorkasse getreten, insbesondere in Deutschland:

»Zwischen 2002 und 2008 stiegen die Bruttolöhne und Gehälter in Deutschland um durchschnittlich 15 Prozent, während sie im europäischen Durchschnitt um 32 Prozent zulegten. Inflationsbereinigt sind die Einkünfte laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung sogar regelrecht eingebrochen: Die ›Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer‹ seien demnach zwischen 2000 und 2008 in Deutschland um neun Prozent gesunken.«

Andere Staaten, wie Griechenland, haben zwar auch dasselbe versucht, jedoch lange nicht so erfolgreich. Der gewollte und institutionalisierte Wettlauf um niedrigere Löhne, niedrige Sozialstandards, Abbau von Schutzrechten fing lange vor der Finanzkrise 2008 an, doch sie verschärft die sozialen und politischen Gegensätze dramatisch. Während einige Staaten vorläufig auf Schockprogramme verzichten können und die Sozialisierung der Krise auf leisen Sohlen vorantreiben, stehen andere Staaten mit dem Rücken zur Wand.

Von der Verstaatlichung zur gewaltsamen Sozialisierung der Krise

Der Krisenzug macht also auf sehr unterschiedliche Weise in europäischen Ländern Halt. Während die Kernstaaten Europas noch Luft haben, beginnt die Treibjagd auf die schwachen Staaten. Während die DAX-Unternehmen seit 2009 ihren Börsenwert um sagenhafte 50 Prozent steigern konnten, Finanzfonds mit der Spekulation auf zahlungsunfähige Staaten traumhafte Renditen machen, werden die ersten Schafe am Ende der Euro-Herde gerissen. Griechenland erklärte Anfang 2010 den drohenden Staatsbankrott und die europäische Gemeinschaft liess das griechische Familienmitglied gnadenlos zappeln.

Ein kontrolliertes Absaufen. Das ›Waterboarding‹ der Kernländern hatte ein klares und offen formuliertes Ziel: Erst wenn sich die griechische Regierung bereit ist, die Unterklassen für den Fall-out der Oberklasse bluten zu lassen, sei man bereit dies zu honorieren.

Ein poströmisches Spektakel zwischen öffentlicher (Schein-)Hinrichtung und dem Angebot, die Todesstrafe in eine lebenslängliche Haftstrafe umzuwandeln. Was in diesen Tagen und Wochen am Rand der Eurozone passiert hat exemplarischen Charakter: Es wird ein Exempel statuiert. Auf den Ehrenbühnen schaut man mit schaurig-geilen Blicken auf den noch ungewissen Ausgang.

Die Stimmung unter den Exekutoren ist durchaus gemischt: Während einige Business-Party-Gäste jede Scham ablegen und in Schlachtfestlaune die griechische Regierung dazu auffordern, Inseln abzutreten wie nach einem verlorenen Krieg, mahnen andere zur öffentlichen Zurückhaltung. Es sei weder klug noch der rechte Zeitpunkt, durch solch postkoloniale Forderungen den Kern dieser Krisenbewältigung offen zu legen.

Das Schlachtfest hat begonnen

Exakt einen Tag nach dem 1. Mai 2010 gelangen einige Details der Diktate des IWF und der Europäischen Union an die Öffentlichkeit. Sei reichen von massiven Lohn- und Rentenkürzungen, über massive Angriffe auf Schutzrechte, bis zu Mehrwertsteuererhöhung und Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Von wenigen Placebo-Effekten abgesehen, wie Steuern auf Luxusgüter, folgt dieses Schockprogramm einer einzigen Programmatik: Wir bezahlen nicht für unsere Krise – weder in Deutschland, noch in Griechenland. Das gesamte Verarmungsprogramm wird bis heute geheim gehalten.

Wie aus einer Infusionsflasche gelangen weitere Auflagen tröpfchenweise an die Öffentlichkeit: Unter dem Titel ›Griechenland privatisiert – Verkauf von Tafelsilber soll Milliarden einbringen‹ schreibt die FR:

»Griechenland will Beteiligungen an Staatsunternehmen verkaufen. (…) Mit dem Verkauf kommt die Regierung einer Auflage der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF) nach. (…) ›Wir haben uns entschlossen, den Privatisierungsprozess zu beschleunigen‹, erklärte Finanzminister Giorgos Papakonstantinou. Auf der Verkaufsliste stehen Wasserwerke, Flughäfen, Eisenbahnen und Spielcasinos. Vorgabe von EU und IWF ist, dass die Regierung zwischen 2011 und 2013 pro Jahr mindestens eine Milliarde Euro mit der Privatisierung einnehmen muss.«

Welche Auswirkungen dieses Verarmungsprogramm für die Mehrheit der griechischen Bevölkerung haben wird, beschreibt der ehemalige Wirtschaftsminister Argentiniens Ricardo Lopez Murphy:

»Die von den Griechen verlangte Haushaltsanpassung sei im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt fünfmal so hoch wie jene, die Lopez Murphy selbst als vorübergehender Wirtschaftsminister Argentiniens im Frühjahr 2001 durchzusetzen versucht habe. Schon nach zwei Wochen musste Lopez Murphy damals zurücktreten. Neun Monate später war Argentinien endgültig pleite.«

Makeda und das Olympische Feuer

Die europäischen Eliten wissen, was vom Ausgang dieser öffentlichen Massen-Hinrichtung abhängt. Auch andere Staaten der Eurozone stehen am Rande des Staatsbankrotts und vor ähnlichen Schockprogrammen. Gelingt es der griechischen Regierung, die verstaatlichte Krise zu vergesellschaften, wird das ein verheerendes Signal für alle Staaten sein, die als nächstes in den Schlachthof eingeliefert werden: Portugal, Spanien, England, Italien…. Oder durchkreuzen die Proteste in Griechenland diesen Fahrplan, ändern die Richtung, drehen den Wind, damit das Feuer die Villen und Paläste heimsucht und nicht die Hütten niederbrennt…

Wer hilft wem?

22,4 Milliarden Euro hat die Bundesregierung zur Umsetzung der Schockprogramme bereitstellt. Wenn das Geld erwiesenermassen nicht ›den‹ Griechen zugute kommt, stellt sich also die Frage nach dem Empfänger! Ausserdem sollte die viel gestellte Frage beantwortet werden, ob das Geld tatsächlich zum Fenster herausgeschmissen wird? Vorschnell lässt sich dies mit einem eindeutigen ›Ja‹ beantworten, was jedoch nur die halbe Wahrheit ist.

Denn schon lange kommt es nicht mehr darauf an, ob Geld zum Fenster hinausgeworfen wird, sondern wer verabredungsgemäss unten steht und es einsammelt. Über 40 Milliarden Euro an griechischen Staatsanleihen liegen in den Portfolios deutscher Banken. Allen voran die ›verstaatlichte‹ Hypo Real Estate, die ›halbverstaatlichte‹ Commerzbank, die Postbank und die Deutsche Bank sowie Allianz und Münchner Rück.

Daneben Landesbanken wie die BayernLB und die WestLB. Würde also der griechische Staat Pleite gehen, wären diese Anleihen wertlos und der Staat würde abermals die so realisierten Verluste sozialisieren. Somit lässt sich das Rätsel um das rausgeschmissene Geld sicher klären: Weder ist es weg, noch wird es aus dem Fenster geworfen: Die KFW, die staatseigene Bank, wird das Geld über einen kleinen Umweg direkt an die überweisen, die bereits 2008 ff Milliarden-Beträge dafür bekommen haben, dass sie eine massgebliche Rolle in der grössten Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt haben.

Der Generalstreik

Über 200.000 Menschen folgten am 5.5.2010 dem Aufruf zur Demonstration gegen das ›Sparprogramm‹, die grösste Demonstration seit Jahrzehnten. Millionen waren bereit, für 48 Stunden in den Streik zu treten. Der Aufruf zum Generalstreik wurde landesweit befolgt.

Über 70 Prozent der griechischen Bevölkerung lehnen es ab, zu sparen, wo nichts mehr zu sparen ist: bei einem Durchschnittslohn von 700 Euro (meist ohne Tarifvertrag und Versicherung), bei einer Durchschnittsrente von 500 Euro, angesichts eines Mindestlohnes, der bei 51 Prozent des Durchschnitts der Eurozone liegt, einer Armut, die mittlerweile 20 Prozent der griechischen Bevölkerung erfasst, bei einer Arbeitslosigkeit von 30 Prozent unter Jugendlichen… Während über 75 Prozent der griechischen Oberklasse (Richter, Ärzte, Politiker usw.) keinen einzigen Cent an Steuern bezahlen, da sie in ihren Steuererklärungen über kein (zu versteuerndes) Einkommen verfügen…

Während die Regierung zur selben Zeit U-Boote in Berlin und EADS-Flugzeuge in Paris bestellt, die vor allem schützen, nur nicht vor diesem hellen Wahnsinn. Während die sozialdemokratische Regierung in Thatcher-Manier das TINA-Mantra (›There Is No Alternative‹) vor sich herbetet, steht die Opposition vor der entscheidenden Frage: Wie kann man das Tor zu TATA (›There Are Thousands of Alternatives‹) aufstossen?

Das setzt ganz grundsätzlich voraus, dass man den kommunistischen Gruppierungen nicht die Strategie und die Kraft einer Organisation überlässt und die anarchistischen und autonomen Gruppierungen sich nicht damit begnügen, die Wut zu artikulieren, mit der andere Politik machen werden. Allen müsste eines ziemlich klar sein: Wenn man tatsächlich das Diktat des IWF und der Europäischen Union verhindern will, dann bewegt man sich nicht mehr innerhalb kapitalistischer Spielräume, sondern an der Grenze zu dem, was gestern nur blasse Utopie war und morgen als Möglichkeit präzisiert werden müsste.

Der Wald versteckt sich nicht länger hinter dem Baum

Der Euro-Zone drohte eine »Kernschmelze«. In aller Eile wurde an einem Sarkophag gebastelt, der bis 00:00 stehen musste, bevor die ersten Börsen am 10.5.2010 öffneten. Sind an all dem die bösen Spekulanten schuld? Seit Wochen wurden wir mit der Botschaft besänftigt und ruhig gestellt, dass der Kollaps von Staaten ein singuläres Ereignis bleiben würde, das ein kranker Baum inmitten eines gesunden Waldes stehe. Man müsse jetzt nur den Brandherd eingrenzen, also Brandrodungen betreiben, um zu verhindern, dass das Feuer übergreift.

Kaum hatten die EU-Finanzminister das Verarmungsprogramm für Griechenland beschlossen, wurde klar, dass die ›Märkte‹ nicht politischen Beschwichtigungen folgen, sondern einzig und allein Aussichten auf Profit: Die Anleihen angezählter Staaten stürzten abermals ins Bodenlose. Sie verloren mehr an Wert als vor Bewilligung des ›Hilfspakets‹: Am 9.10.2010 stand der Kurs einer zweijährigen Griechenland-Anleihe bei 72,25 Prozent.

Mit Bewilligung dieser ›Griechenland-Hilfe‹ war also bereits erkennbar, dass der Rettungsring ins offene Meer hinaustreiben würde. Seitdem wurde fieberhaft daran gearbeitet, aus dem Rettungsring ein Evakuierungsplan zu machen, der die Euro-Zone als Ganzes schützen soll, bevor am 10.5.2010 die Börsen ihre Tore wieder öffnen, um mit den Gesetzen und Möglichkeiten des ›freien Marktes‹ den Euroraum zu fluten. Ein weiterer ›Rettungsfond‹ für die gesamte Eurozone wurde eingerichtet, eine zweite Auffanglinie. Die im Gespräch befindlichen Zahlen schraubten sich stündlich in die Höhe: War anfangs noch von 60 Milliarden Euro die Rede, steht nun eine Summe von über 750 Milliarden Euro fest.

Nachdem der erste Rettungsfond ›Sofin‹ bereits Milliarden dafür ausgegeben hat, giftige, also Schrottpapiere von Privatunternehmen aufzukaufen und ›Bad Banks‹ als Zwischenlager einzurichten, sollen nun angezählte Staatsanleihen aufgekauft werden. Die Vergesellschaftung der Krise geht in die nächste Runde. Die Rede von einer drohenden »Kernschmelze« war keine Panikattacke, sondern ein realistisches Szenario: Dieselben, die privat-kapitalistische Verluste in Billionen-Höhe an den Staat weitergereicht hatten, machten dort weiter, wo sie aufgehört hatten: Sie setzten Milliarden auf jene Staaten, die als erste unter ihrer Last zusammenbrechen werden würden. Das war alles andere als eine wilde Spekulation, sondern ein absolut sicheres Geschäft – von Insidern, die seit Jahren von Flächenbränden und Brandschutzversicherungen gleichermassen leben.

Die so genannte Griechenland-Hilfe entpuppte sich in Folge als das was sie ist: Ein Blendfeuer, mit reichlich nationalistischen und rassistischen Brandbeschleunigern. Ein ›Rettungsplan‹, den man mit dem laufenden Notstandsplan zur Eindämmung der Ölkatastrophe vor der US-amerikanischen Küste vergleichen kann. Man legt medienwirksam kilometerlange schwimmende Barrieren aus, um den ›Ölteppich‹ einzudämmen, um das Land zu schützen, während sie vom Meer überspült werden und über 800.000 Liter Öl täglich, ungehindert ins Meer strömen.

Die Mär vom skrupellosen Spekulanten

»Wenn die Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs auftritt, sollte man nicht vergessen, dass die Spekulation selbst in den vorausgegangenen Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung und nicht den letzten Grund und das Wesen darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmässigen Zuckungen von Industrie und Handel durch die Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als wahren Grund aller Krankheiten ansahen.« - Karl Marx, 1858

Wie kann so etwas passieren? Stecken böse, verantwortungslose Spekulanten dahinter? Es gehört schon viel Dreistigkeit dazu, wenn jetzt hochrangige EU-Politiker vor gewissenslosen Spekulanten warnen, die gegen den Euro-Raum spekulieren. Wer hat dieses ›Spekulanten‹ die rechtlichen und fiskalischen Mittel in die Hand gegeben? In welchen, staatsmännischen Auftrag haben viele Banken, einschliesslich der staatseigenen spekuliert?
Wie lange haben die nationalen Politiken genau diesen Finanzkrieg protegiert, um neue ›Märkte‹ zu erobern, um für Anleger und Investoren lukrativ zu sein? Steckt hinter all dem eine unanständige Gier oder gar ein verschwörerischer Plan? Gäbe es noch den Kommunismus, die Sowjetunion, wäre der unsichtbare Feind schnell ausgemacht. Tatsache ist, dass man für diese Entwicklung weder einen äusseren Feind, noch einen verantwortungslosen Spekulanten braucht. Man muss nur die Regeln des kapitalistischen Marktes beherrschen und das nötige Kapital haben, um es nach allen Regeln der Kunst einzusetzen: völlig legal, absolut marktkonform und zu 100% staatlich lizenziert!

Was sich vor aller Augen abspielt, ist das Prinzip einer Wirtschaftsordnung, die mit schöpferischer Zerstörung kaum besser beschrieben werden kann. Was sich zurzeit auf und hinter der Euro-Bühne abspielt, vollzieht sich absolut gesetzeskonform nach den Spielregeln der Systemteilnehmer, der Global Player selbst. Ein völlig legales organisiertes Kapitalverbrechen. Vor ein paar Jahren sind Hedgefonds in Misskredit geraten. Von Heuschrecken (bevorzugt ausländischen) war die Rede, die marode Firmen aufkaufen, ausschlachten, Lohnabhängige rausschmeissen, den Rest verwerten und mit Gewinn wieder auf den ›Markt‹ werfen.

Eine völlig verlogene Moral vor allem derer, die diese Hedgefonds auf den Markt gebracht haben, ihnen politisch erst den Weg geebnet hatten. Was Hedgefonds damals und heute machen, wird eben nicht gegen den Willen der politisch Verantwortlichen gemacht, sondern in deren Schutz! Manche politische Wegbereiter waren dabei sehr offen und verglichen die Hedgefonds mit Aasgeiern, die nur ›tote‹ Tiere fressen, also für eine saubere Entsorgung sorgen, damit die ›Kranken‹ nicht den ›Gesunden‹ zur Last fallen.

Dasselbe Prinzip wiederholt sich nun mit Blick auf schwache Staaten, nach denselben Regeln, nach demselben Prinzip: Diesem ist völlig gleichgültig, wie viele Menschen dabei unter die Räder geraten, wie viele Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren. Jetzt frisst dieses Prinzip auch seine staatlichen Protektaten. Denn im Kapitalismus kann man, darf man, soll man nicht nur mit Brandbekämpfung Profite machen, sondern genauso und gelegentlich mehr am (Flächen-)Brand verdienen können.

Das Prinzip der schöpferischen Zerstörung

Ist das Spekulieren mit Staatsanleihen ehrenwerter, als das Spekulieren auf ihren Schrottwert? Weder kennt der Kapitalismus diese Unterscheidung, noch haben die politischen Eliten auf diese Unterscheidung gedrungen. Am eindrucksvollsten lässt sich das an dem völlig legalen Mittel der Kreditausfallversicherungen, kurz CDS genannt, erklären.

Kauft eine Bank riskante Staatsanleihen, wie die von Griechenland, sichert sie sich gegen eine mögliche Zahlungsunfähigkeit mit einer Versicherung ab. Diese Versicherung ist umso teuerer, je höher das (Ausfall-)Risiko besagter Anleihe taxiert wird. In einem solchen Fall ist die Versicherung also an ein konkretes, materielles Eigeninteresse gebunden. Doch im Kapitalismus kann man auch ›in Versicherungen gehen‹, ohne auch nur eine Anleihe, einen Stein zu besitzen. Die Intention dabei ist genau das Gegenteil: Man investiert in solche Versicherungen, weil man davon ausgeht, dass der schlimmste Fall, die Zahlungsunfähigkeit eines Staates eintritt!

Genau dies passiert seit Wochen: Bildlich gesprochen sind eine Million Euro in Griechenland-Anleihen investiert, während 50 Millionen Euro darauf gesetzt werden, dass Griechenland absäuft und die Anleihe nicht mehr zurückzahlen kann. Der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Spekulation ist (je nach Risiko) gewaltig: Eine Griechenland-Anleihe brächte 4 bis 5 Prozent, das Spekulieren auf die Zahlungsunfähigkeit hingegen das Zwei- bis Dreifache. Wird dieser Wahnsinn noch mit Hebelprodukten kombiniert, braucht man dafür keine 50 Millionen, sondern nur 5 Millionen Euro (Hebelwirkung 1:10) als Startkapital. Was einen abstrakt vielleicht kalt lässt, wird an einem lebensnahen Beispiel in seiner mörderischen Logik deutlich: Man schliesst eine Versicherungspolice darüber ab, dass das Haus des Nachbarn abbrennt!

Brennt es tatsächlich ab, hat sich die Investition gelohnt. Ob in den Haus Menschen lebten oder durch den Brand ums Leben gekommen sind, ist dieser Logik gleichgültig!

Griechenland ist eine Kugel, die durch den Euroraum rollt

Vieles, was der Mehrheit der griechischen Bevölkerung bevorsteht, ist in Deutschland längst Realität: Vom Renteneintrittalter mit 67 Jahren, über massive Rentensenkungen bis hin zum Abbau von elementaren Schutzrechten. Der Generalstreik in Griechenland für 48 Stunden ist vorbei. Die Solidarität der europäischen Gewerkschaften war erbärmlich, die Solidarität der ausserparlamentarischen Linke marginal. Nicht nur in Griechenland steht die Diskussion darüber, wie man diese Krise begreift und wie man die Forderung ›Wir bezahlen nicht für eure Krise‹ umsetzt, ganz am Anfang. Quo vadis?

»Sie reden von Gewinn und Verlust, wir von Menschenleben.« - Parole in Griechenland, nach der Ermordung des 15-Jährigen Alexis-Andreas Grigoropoulos am 6.12.2009 in Athen

In Griechenland bestünde tatsächlich die Möglichkeit, mit einem unbefristeten Generalstreik das von der griechischen Regierung getragene IWF- und EU-Diktat zu Fall zu bringen. Wer wäre dazu überhaupt in der Lage? Wer hätte den Organisationsgrad und die Präsenz in solchen Bereichen, im Produktionssektor, in den wichtigsten Staatssektoren? Fakt ist, dass dort die kommunistische Partei und die kommunistische Gewerkschaften stark sind – auch wenn in den letzten Jahren neue Basisgewerkschaften gewaltigen Zulauf bekommen haben.

Wenn es tatsächlich darum gehen soll, das Verarmungsprogramm zum Scheitern zu bringen, dann wären nicht die politischen Unterschiede ausschlaggebend, sondern die Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens. Petros Mentis von der Kommunistischen Partei Griechenlands/ KKE, hat dazu folgendes erklärt:

»Heute also muss nicht nur die Kommunistische Partei, sondern auch die Arbeiterklasse, die Arbeits- und Gewerkschaftsbewegung, das gesellschaftliche Bündnis, die gesellschaftspolitische Front die Machtfrage auf die Tagesordnung setzen. Unsere Antwort ist Sozialismus. Dieser stellt keine Wiederholung des uns bekannten dar. Vielmehr trägt er die wertvolle Erfahrung des Sozialismus in sich, den wir im 20. Jahrhundert kennengelernt haben. Und gleichzeitig ist es ein Sozialismus, der aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Aktuell diskutieren wir nicht nur über irgendwelche Forderungen.

Wir diskutieren über die Richtung der Bewegung und die Kampfformen, aber auch über die Machtfrage. Die Mai-Demonstrationen, die Streiks, die Besetzungen sowie andere Kampfformen, die in der jüngsten Zeit hervorkamen und auch in der Zukunft hervorkommen werden, sind Mittel, um die Diskussion im Volk über den Weg zu entfachen. Den Weg der Macht der Monopole oder den Weg der Arbeiter- und Volksmacht, den Weg des Sozialismus, wie wir es formulieren.«

Was bedeutet es, die ›Machtfrage‹ zu stellen? Was ist mit ›gesellschaftlichem Bündnis‹ gemeint? Welche Kampfformen wären geeignet und notwendig? Was ist mit einem Sozialismus gemeint, der »der aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat«? Der Abstraktionsgehalt dieser Begriffe ist gewaltig, angesichts der Notwendigkeit ihrer Konkretion. Nur eine öffentliche, gesellschaftliche Debatte darüber würde Fragen, Zweifel und Widersprüche sichtbar und nachvollziehbar machen. Wäre ein Generalstreik die wirksamste und politisch schärfste Waffe? Welche anderen Optionen gäbe es? Nach dem zweitägigen Generalstreik stehen viele vor vielen Fragen, während die Regierung Zug um Zug das Verarmungsprogramm umsetzen wird.

Bei einer solchen öffentlichen Debatte würden zweifellos politische Unterschiede, unterschiedliche Taktiken und Strategien sichtbar werden. Welche davon die ›Richtige‹ ist, würde jedoch nicht die bessere Denunziation, sondern ein politischer, gesellschaftlicher Prozess entscheiden, der die Betroffenen nicht zu ZuschauerInnen, sondern zu Akteurinnen machen würde.

Dabei befindet sich die Linke in einer bizarren und historisch aussergewöhnlichen Situation zugleich: Der Kapitalismus befindet sind in der schwersten ökonomischen und institutionellen Krise seit 1945, ohne dass die Linke dabei der treibende Faktor war und ist. Wenn in Griechenland tatsächlich das Diktat des IWF und der Europäischen Union verhindern werden könnte, würde sich ein solches Ergebnis nicht mehr innerhalb kapitalistischer Spielräume austarieren lassen.

Unbeabsichtigt wäre man damit an der Grenze zu dem, was gestern nur realitätslose Utopie war und morgen als Möglichkeit präzisiert werden müsste. Ohne es zu wollen, steht die Linke (vor allem in Griechenland) vor einer Überforderung und wunderbaren Chance zugleich: Sie muss in aller Genauigkeit und Gegenwärtigkeit beschreiben, was sie sich jeweils unter Kommunismus, Anarchismus und/oder einer basis-demokratischen Gesellschaft vorstellt, nicht als Himmelsrichtung, sondern als ganz konkrete Wegbeschreibung: Was würde, was müsste passieren, wenn das IWF- und EU-Diktat nicht durchsetzbar wäre?

Was müsste passieren, wenn sich alle Regierungen und Oligarchien verbraucht haben und das System der bürgerlichen Demokratie weder Repräsentanz noch Legitimität besässe? Was würde, was müsste passieren, wenn Griechenland wegen Zahlungsunfähigkeit von allen kapitalistischen (Finanz-)Märkten ausgeschlossen werden würde? Diesen Fragen nachzugehen, sich diesen zu nähern würde aus der Parole ›Wir bezahlen nicht für eure Krise‹ ein politisches, ein gesellschaftliches Projekt machen.

Für anarchistische und autonome Gruppierungen stehen nicht minder ernsthafte Debatten an. Nicht nur die drei toten Bankangestellten infolge eines Brandanschlages auf eine Bank am 5.5.2010 machen diese Diskussion unumgänglich. Die Fragen zu Militanz und Gegen-Gewalt, die Fragen nach einer Strategie, die mehr ist als die Denunziation anderer politischer Positionen, sind auch in Griechenland selten kollektiv gestellt und öffentlich diskutiert worden. Sagotageaktionen auf Banken, Konzerne und Repressionsorgane haben zweifellos in Griechenland mehr Sympathie und Rückhalt als in Deutschland.

Warum aber mussten diese Angriffe aus einer Demonstration heraus passieren, im Schutz einer Grossdemonstration im Rahmen des Generalstreiks? Welche Form der politischen Zuspitzung sollte damit erreicht werden? Eine anarchistische Gruppe aus Griechenland hat dazu erfreulich klare und bohrende Fragen gestellt:

»Der Vorfall ereignete sich nicht nachts während einer Sabotageaktion. Er ereignete sich im Verlauf der grössten Demonstration der jüngeren Geschichte Griechenlands. Das ist der Punkt, an dem wir uns einer Reihe unangenehmer Fragen stellen müssen: Allgemein gefragt, besteht während einer Demonstration von 150.000 - 200.000 Menschen, der grössten seit Jahren, wirklich ein Grund zur Eskalation der Gewalt? Wenn tausende ›Brennt das Parlament nieder!‹ skandieren und die Bullen beschimpfen, bringt dann eine weitere ausgebrannte Bank die Bewegung überhaupt noch irgendwie weiter?«

Wer Militanz nicht für ein Lebensgefühl hält, sondern für eine politische Einstellung, die Gegen-Gewalt in genau diesem ambivalenten Verhältnis befürwortet, muss diese nicht nur sich und seinen Freunden erklären, sondern vor allem jenen, die diesen Schritten skeptisch und fragend gegenüberstehen - anderenfalls instrumentalisiert er/sie über 150.000 Menschen, die mit dem Generalstreik eine nicht minder radikale Entscheidung getroffen haben.
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Bild: Proteste in Athen im Mai 2010 / Philly boy92 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Zweifellos gibt es viele begründete Vorbehalte gegenüber kommunistischen Organisationen und Parteien. Wo bleibt aber die Notwendigkeit einer eigenen Organisierung und einer Strategie, die öffentlich geführt und gemeinsam überprüfbar ist? Die Wut, die Spontaneität und die damit einhergehende Zufälligkeit würden keiner ernsthaften Konfrontation standhalten. Die berechtigte Organisationskritik an autoritären und hierarchischen Strukturen innerhalb kommunistischer Organisationen macht verbindliche und handlungsfähige Strukturen nicht überflüssig.

Wer die toten Bankangestellten weder achselzuckend noch zynisch in Kauf nehmen will, muss eine kollektive Strategie formulieren, die über die eigene Szene, über ›Exarchia‹ hinausweist, der muss anderen sagen können, welche Ziele man verfolgt und welche Mittel, wann, wo und wie politisch getragen und verantwortet werden.

Wolf Wetzel