Unser Lieblings-Russe ist tot Zum Tod von Michail Gorbatschow

Politik

Friedensengel, Visionär, Ausnahmepolitiker, Wegbereiter der deutschen Einheit und des freien Europa, guter Mensch, Friedensnobelpreis, guter Staatsmann, Mut, Integrität... die Gorbatschow-Nachrufe der hiesigen Presse überschlagen sich geradezu – im Unterschied zu denen im Heimatland des Toten.

Michail Gorbatschow während der Deutschlandpremiere seines Buches „Alles zu seiner Zeit. Mein Leben“ im Berliner Ensemble, März 2013.
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Michail Gorbatschow während der Deutschlandpremiere seines Buches „Alles zu seiner Zeit. Mein Leben“ im Berliner Ensemble, März 2013. Foto: SpreeTom (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

14. September 2022
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Zwar sind Russen im Allgemeinen gerade wieder so verhasst, dass das freie Europa sie nicht mehr reinlassen will. Aber auf „Gorbi“, unseren Ausnahme- und Lieblings-Russen, lassen wir offenbar nichts kommen.

Denn dieser Mann hat es geschafft, den eisernen Vorhang beiseite zu schieben und die Mauer („the wall“) einzureissen. Er hat den bis dahin in der Sowjetunion geknechteten Nationen die Freiheit gegeben. Er hat die ineffiziente kommunistische Mangelwirtschaft in blühende Landschaften verwandelt. Und Frieden und Harmonie zwischen Ost und West gestiftet.

Oder nicht?

In der Tat: Der „Ostblock“ hat sich geöffnet, der Warschauer Pakt wurde aufgelöst. Die Nato, die Existenz und Wettrüsten bis dahin stets mit der „sowjetischen Bedrohung“ begründet hatte, war allerdings nicht für eine Selbstauflösung zu gewinnen. Gorbatschow hat den Politikern Westdeutschlands die DDR angeboten; die wurde dann annektiert – im Unterschied zur Krim übrigens ohne Referendum in den Ostländern. Das damit verbundene Versprechen, die Nato nicht nach Osten vorzuschieben („not an inch“), wurde danach gleich reihenweise gebrochen.

Die Erwartung des letzten Staatschefs der UdSSR, dass die als „Perestroika“ (Umbau) euphemisierte „Systemtransformation“ zum Kapitalismus dem Sowjetreich zumindest eine „Friedensdividende“ einspielen würde, nachdem das Land die Nato-Strategie des „Totrüstens“ nicht mehr ausgehalten hatte, ist also nicht aufgegangen.

Weder gibt's noch das Reich und erst recht nicht und gerade deshalb auch keinen Frieden.

Den mühsam eingehegten und zugleich anerkannten und geförderten „bunten“ Nationalismus der Republiken in der „Union der Sowjetrepubliken“ hat Gorbatschow mit seinen Reformen frei gesetzt. Aus Sowjetbürgern, die 1991 zu 70 Prozent in einem Referendum 1991 für den Erhalt der UdSSR gestimmt haben, wurden nach der Auflösung der Union durch die obersten Funktionäre der Republiken in der Folge zunehmend und planmässig aufgestachelte ethnische Nationalisten. Kein Wunder – schliesslich heisst „frei“ sein im Fall von „Nationen“ nichts anderes, als dass sie sich ausschliessend und feindselig gegenübertreten. (Dass die meisten dieser endlich wieder „freien Nationen“ inzwischen auf Diktate aus Washington oder Brüssel hören, stört offenbar auch nicht.)

Gleichzeitig standen und stehen die Staaten des Westens, allen voran die Führungsmacht USA, auf dem Standpunkt, dass Mr. Gorbatchev zwar mit der „Auflösung der SU“ einen tollen Anfang hingelegt hat, ihnen die stattgefundene Zerlegung aber längst noch nicht reicht und das heutige Russland – immer noch eine nukleare Supermacht, wenn auch ökonomisch eher ein Rohstoff-Lieferland – weiter aktiv auf den Status einer „Regionalmacht“ zurückzustufen ist (so Friedensnobelpreisträger Obama). Das Projekt läuft Hochtouren.

Am Todestag von Gorbatschow schiessen sowjetische Panzer auf sowjetische Panzer. Am Dnjepr. In Charkow. Ehemals sowjetische Menschen schiessen aufeinander als Russen und Ukrainer. In den baltischen Staaten, in Polen und Rumänien werden Nato-Raketen in Stellung gebracht, die auf Moskau zielen. Ein eiserner Vorhang trennt die ehemaligen Sowjetrepubliken Belarus und Litauen. Eine weitere, Georgien, ist zum Einflussgebiet der NATO geworden, die baltischen Staaten sind sowieso längst Teil des Militärbündnisses. Das sowjetische Einflussgebiet, die nach Weltkrieg II und auf Grundlage des Potsdamer Abkommen geschaffene Sicherheitszone nach 27 Millionen sowjetischen Kriegstoten und unsäglichen Verwüstungen, ist verschwunden. Die sowjetischen Waffen der ehemaligen Bruderstaaten in Osteuropa werden nun gegen Russland eingesetzt.

Im Innern Russlands haben die Einordnung der Wirtschaft in und die Unterordnung ihrer Bevölkerung unter die Gesetze der Marktwirtschaft die Produktivkräfte des Landes weitgehend wortwörtlich ruiniert, d.h. vorwiegend Ruinen hinterlassen und ihre Erbauer zu unnützen Kostgängern gemacht, die für die Geldvermehrung nicht mehr gebraucht werden und die der Staat nicht mehr versorgen kann und will.

Die Aneignung des vorherigen Staatseigentums und der Verkauf der Rohstoffe des Landes hat einige wenige zu superreichen Oligarchen gemacht, viele andere um ihre Existenz gebracht, sie in die Arme des Alkohols, des Verbrechens und Verrats getrieben und nicht wenigen das Leben gekostet. Die Intelligenz des Sowjetreichs wurde zum Schnäppchenpreis von den USA und ihren Verbündeten abgeworben. Westliche Staaten bekamen einen unerschöpflichen Zufluss an qualifizierten und disziplinierten Arbeitsmigranten, Wanderarbeitern, Tagelöhnern und Prostituierten…

Könnten das vielleicht Gründe dafür sein, dass Gorbatschow eher im Westen beliebt ist als in seinem eigenen Land?

PS: Dass der Friedensnobelpreisträger Gorbatschow das westliche Vorgehen in der Ukraine seit dem „Euromaidan“ und erst recht im laufenden Krieg kritisiert hat, wollen die journalistischen Lobeshymnen auf ihn übrigens nicht sonderlich breittreten.

Renate Dillmann