UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Zum Tod von Michail Gorbatschow | Untergrund-Blättle

7227

Unser Lieblings-Russe ist tot Zum Tod von Michail Gorbatschow

Politik

Friedensengel, Visionär, Ausnahmepolitiker, Wegbereiter der deutschen Einheit und des freien Europa, guter Mensch, Friedensnobelpreis, guter Staatsmann, Mut, Integrität... die Gorbatschow-Nachrufe der hiesigen Presse überschlagen sich geradezu – im Unterschied zu denen im Heimatland des Toten.

Michail Gorbatschow während der Deutschlandpremiere seines Buches „Alles zu seiner Zeit. Mein Leben“ im Berliner Ensemble, März 2013.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Michail Gorbatschow während der Deutschlandpremiere seines Buches „Alles zu seiner Zeit. Mein Leben“ im Berliner Ensemble, März 2013. Foto: SpreeTom (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

14. September 2022
1
0
4 min.
Drucken
Korrektur
Zwar sind Russen im Allgemeinen gerade wieder so verhasst, dass das freie Europa sie nicht mehr reinlassen will. Aber auf „Gorbi“, unseren Ausnahme- und Lieblings-Russen, lassen wir offenbar nichts kommen.

Denn dieser Mann hat es geschafft, den eisernen Vorhang beiseite zu schieben und die Mauer („the wall“) einzureissen. Er hat den bis dahin in der Sowjetunion geknechteten Nationen die Freiheit gegeben. Er hat die ineffiziente kommunistische Mangelwirtschaft in blühende Landschaften verwandelt. Und Frieden und Harmonie zwischen Ost und West gestiftet.

Oder nicht?

In der Tat: Der „Ostblock“ hat sich geöffnet, der Warschauer Pakt wurde aufgelöst. Die Nato, die Existenz und Wettrüsten bis dahin stets mit der „sowjetischen Bedrohung“ begründet hatte, war allerdings nicht für eine Selbstauflösung zu gewinnen. Gorbatschow hat den Politikern Westdeutschlands die DDR angeboten; die wurde dann annektiert – im Unterschied zur Krim übrigens ohne Referendum in den Ostländern. Das damit verbundene Versprechen, die Nato nicht nach Osten vorzuschieben („not an inch“), wurde danach gleich reihenweise gebrochen.

Die Erwartung des letzten Staatschefs der UdSSR, dass die als „Perestroika“ (Umbau) euphemisierte „Systemtransformation“ zum Kapitalismus dem Sowjetreich zumindest eine „Friedensdividende“ einspielen würde, nachdem das Land die Nato-Strategie des „Totrüstens“ nicht mehr ausgehalten hatte, ist also nicht aufgegangen.

Weder gibt's noch das Reich und erst recht nicht und gerade deshalb auch keinen Frieden.

Den mühsam eingehegten und zugleich anerkannten und geförderten „bunten“ Nationalismus der Republiken in der „Union der Sowjetrepubliken“ hat Gorbatschow mit seinen Reformen frei gesetzt. Aus Sowjetbürgern, die 1991 zu 70 Prozent in einem Referendum 1991 für den Erhalt der UdSSR gestimmt haben, wurden nach der Auflösung der Union durch die obersten Funktionäre der Republiken in der Folge zunehmend und planmässig aufgestachelte ethnische Nationalisten. Kein Wunder – schliesslich heisst „frei“ sein im Fall von „Nationen“ nichts anderes, als dass sie sich ausschliessend und feindselig gegenübertreten. (Dass die meisten dieser endlich wieder „freien Nationen“ inzwischen auf Diktate aus Washington oder Brüssel hören, stört offenbar auch nicht.)

Gleichzeitig standen und stehen die Staaten des Westens, allen voran die Führungsmacht USA, auf dem Standpunkt, dass Mr. Gorbatchev zwar mit der „Auflösung der SU“ einen tollen Anfang hingelegt hat, ihnen die stattgefundene Zerlegung aber längst noch nicht reicht und das heutige Russland – immer noch eine nukleare Supermacht, wenn auch ökonomisch eher ein Rohstoff-Lieferland – weiter aktiv auf den Status einer „Regionalmacht“ zurückzustufen ist (so Friedensnobelpreisträger Obama). Das Projekt läuft Hochtouren.

Am Todestag von Gorbatschow schiessen sowjetische Panzer auf sowjetische Panzer. Am Dnjepr. In Charkow. Ehemals sowjetische Menschen schiessen aufeinander als Russen und Ukrainer. In den baltischen Staaten, in Polen und Rumänien werden Nato-Raketen in Stellung gebracht, die auf Moskau zielen. Ein eiserner Vorhang trennt die ehemaligen Sowjetrepubliken Belarus und Litauen. Eine weitere, Georgien, ist zum Einflussgebiet der NATO geworden, die baltischen Staaten sind sowieso längst Teil des Militärbündnisses. Das sowjetische Einflussgebiet, die nach Weltkrieg II und auf Grundlage des Potsdamer Abkommen geschaffene Sicherheitszone nach 27 Millionen sowjetischen Kriegstoten und unsäglichen Verwüstungen, ist verschwunden. Die sowjetischen Waffen der ehemaligen Bruderstaaten in Osteuropa werden nun gegen Russland eingesetzt.

Im Innern Russlands haben die Einordnung der Wirtschaft in und die Unterordnung ihrer Bevölkerung unter die Gesetze der Marktwirtschaft die Produktivkräfte des Landes weitgehend wortwörtlich ruiniert, d.h. vorwiegend Ruinen hinterlassen und ihre Erbauer zu unnützen Kostgängern gemacht, die für die Geldvermehrung nicht mehr gebraucht werden und die der Staat nicht mehr versorgen kann und will.

Die Aneignung des vorherigen Staatseigentums und der Verkauf der Rohstoffe des Landes hat einige wenige zu superreichen Oligarchen gemacht, viele andere um ihre Existenz gebracht, sie in die Arme des Alkohols, des Verbrechens und Verrats getrieben und nicht wenigen das Leben gekostet. Die Intelligenz des Sowjetreichs wurde zum Schnäppchenpreis von den USA und ihren Verbündeten abgeworben. Westliche Staaten bekamen einen unerschöpflichen Zufluss an qualifizierten und disziplinierten Arbeitsmigranten, Wanderarbeitern, Tagelöhnern und Prostituierten…

Könnten das vielleicht Gründe dafür sein, dass Gorbatschow eher im Westen beliebt ist als in seinem eigenen Land?

PS: Dass der Friedensnobelpreisträger Gorbatschow das westliche Vorgehen in der Ukraine seit dem „Euromaidan“ und erst recht im laufenden Krieg kritisiert hat, wollen die journalistischen Lobeshymnen auf ihn übrigens nicht sonderlich breittreten.

Renate Dillmann

Mehr zum Thema...
Edward Schewardnadse bei einem Besuch in Washington, 2011.
Beruf: KonkursverwalterEdward Schewardnadse, 1928-2014

19.07.2014

- Auf den letzten sowjetischen Aussenminister finden sich keine Nachrufe in den massgeblichen russischen Zeitungen. Lediglich in einigen Zeitungen in ehemals sowjetischen Republiken wird er – auch eher kurz – als Weggefährte Gorbatschows bei seinem Pro

mehr...
Wladimir Putin bei einer Rede auf dem Kreml-Platz.
Russlands MachtverhältnisseGelenktD Demokratie

13.12.2014

- Neulich Abends bei Freunden ging es mal wieder um Putin. Hach, schlimm der Putin. Das haben unsere Medien prima hin bekommen. Ganz schön ferngesteuert sind wir. Warum? Putin ist doch schlimm?

mehr...
„Stadttor von Chișinău“ (Porțile Chișinăului) im Bezirk Botanica. Sozialistischer Betonkomplex vom Ende der 1970er Jahre am Bulevardul Dacia, der Einfahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum.
Kischinau riskiert unter die Räder kommenWesten provoziert Konfrontation zwischen Moldawien und Russland

18.07.2022

- In Anbetracht des Ukraine-Krieges ist zu befürchten, dass Moldawien möglicherweise der nächste Krisenherd in Osteuropa sein wird.

mehr...
Die Angst der baltischen Staaten vor Russland

21.12.2016 - Ist das Baltikum in Gefahr? Die kleinen Länder im Nordosten Europas blicken in eine unsichere Zukunft Die baltischen Staaten, das sind Estland, Lettland und Litauen.

Von der freien Demokratie bis zur totalen Diktatur – riesige Gegensätze nach 20 Jahren „Ende der Sowjetunion“

05.04.2011 - Vor zwanzig Jahren begann das Ende der Sowjetunion. Im Laufe des Jahres 1991 sagten sich 14 Staaten los von der Sowjetunion.

Dossier: Jugoslawien
Danilo Škofič
Propaganda
Wir sind Friedensnobelpreisträger 2012

Aktueller Termin in Berlin

Solicafé Schlürf // Regenbogencafé

Hallo, heute wieder Kaffee und Kuchen (und/oder Sandwiches) im Schlürf gegen Spende, 12-18 Uhr.

Dienstag, 30. Mai 2023 - 12:00 Uhr

Regenbogencafe, Lausitzer Str. 22a, 10999 Berlin

Event in Düsseldorf

Schumann goes Hip-Hop: Rap-Workshop

Dienstag, 30. Mai 2023
- 17:30 -

Zakk

Fichtenstraße 40

40233 Düsseldorf

Mehr auf UB online...

Demonstration in Atlanta gegen das neue Polizeitrainingslager.
Vorheriger Artikel

Waldbesetzung bei Atlanta zur Verhinderung des Baus einer Trainingseinrichtung der Polizei

USA: Stop Cop City

Die alte Amselbrücke in Lüneburg.
Nächster Artikel

Weiterer Autoverkehr verhindern

Lüneburg: VCD setzt sich für Erhalt der Amselbrücke als Fuss- und Radverkehrsbrücke ein

Untergrund-Blättle